Urteilskopf
118 IV 416
71. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 4. November 1992 i.S. H. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste
Art. 19 Ziff. 4 BetmG
. Betäubungsmitteldelikte von Ausländern im Ausland.
Der Schweizer Richter ist zur Beurteilung von Betäubungsmitteldelikten, die von Ausländern im Ausland begangen wurden, in der Regel erst dann zuständig, wenn er sich davon überzeugt hat, dass der Tatortstaat nicht um die grundsätzlich zulässige Auslieferung des Täters wegen dieser Delikte ersucht; die schweizerischen Behörden sind zu solchen Abklärungen nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet. Nur wenn es nicht möglich ist, den Standpunkt des ausländischen Staates innert einer angemessenen Frist zu erhalten, kann und muss sich der Schweizer Richter ausnahmsweise auch ohne vorgängige Abklärung dieser Frage für zuständig erklären (Präzisierung der Rechtsprechung).
A.-
Das Obergericht des Kantons Aargau sprach in zweiter Instanz am 23. Januar 1992 den britischen Staatsangehörigen H. der wiederholten Widerhandlung gegen das Bundesgesetz über die Betäubungsmittel gemäss Art. 19 Ziff. 1 Abs. 4 und 5 i.V.m. Art. 19 Ziff. 2 lit. a und c, Art. 19 Ziff. 4 und Art. 19a Ziff. 1 dieses Gesetzes
BGE 118 IV 416 S. 417
schuldig und bestrafte ihn mit sechseinhalb Jahren Zuchthaus, unter Anrechnung von 602 Tagen Untersuchungshaft. Das Verfahren betreffend Betäubungsmittelkonsum vor dem 23. Januar 1990 wurde infolge Verjährung eingestellt. Das Verfahren betreffend Erwerbshandlungen zum Eigenkonsum im Ausland wurde eingestellt, da
Art. 19 Ziff. 4 BetmG
nur für Widerhandlungen im Sinne von Art. 19 Ziff. 1 und 2, nicht aber für solche gemäss
Art. 19a BetmG
Anwendung finde. Die Landesverweisung für die Dauer von zehn Jahren sowie die Einziehung gemäss dem Entscheid des Bezirksgerichts Zofingen vom 23. Mai 1991 waren im Berufungsverfahren unbestritten geblieben.
B.-
Der Verurteilte führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er stellt überdies ein Begehren um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
a) Die Vorinstanz erachtet die schweizerische Zuständigkeit zur Beurteilung des Verkaufs von 3000 LSD-Trips durch den Beschwerdeführer im Mai 1990 in Amsterdam gestützt auf
Art. 19 Ziff. 4 BetmG
als gegeben. Sie beruft sich lediglich in bezug auf den Verkauf der Drogen zur Begründung ihrer Zuständigkeit auf diese Bestimmung. Der Beschwerdeführer geht indessen zu Recht davon aus, auch für die Beurteilung des Kaufs der 3000 LSD-Trips im Mai 1990 in Amsterdam könne die schweizerische Zuständigkeit nur aus dieser Bestimmung abgeleitet werden.
b) Die Vorinstanz hält zur Begründung ihrer Zuständigkeit gemäss
Art. 19 Ziff. 4 BetmG
unter Berufung auf
BGE 116 IV 244
ff. zunächst folgendes fest:
"Auch wenn das Bundesgericht nicht verlangt, dass 'un juge suisse doive
se déclarer automatiquement compétent pour tous les délits mondiaux commis
à l'étranger', um die Ausweitung zu einem reinen Universalitätsprinzip zu
verhindern, darf der Schweizer Richter darauf verzichten, den Standpunkt
betreffend Auslieferung des Staates, in welchem das Delikt begangen wurde,
zu erfragen. 'S'il n'est pas possible de l'obtenir dans un délai
raisonnable', muss sich der Richter hingegen zuständig erklären."
BGE 118 IV 416 S. 418
Im Berufungsverfahren "rechtfertige" sich der Verzicht auf das Einholen der Willensäusserung aus Holland oder auf das Abwarten des Ausgangs eines allfälligen Auslieferungsverfahrens "umso mehr", als der Beschwerdeführer sich bereits seit eineinhalb Jahren in Untersuchungshaft befinde und es geboten sei, das Strafverfahren innert nützlicher Frist abzuschliessen. Es sei deshalb festzuhalten, dass die erste Instanz zu Recht das Vorliegen der Voraussetzungen der Nicht-Auslieferung des Beschwerdeführers bejaht und daher die angeklagte Tat in Anwendung des Weltrechtsprinzips beurteilt habe. Da die Tat eingestanden sei, müsse der entsprechende Schuldspruch der ersten Instanz bestätigt werden.
c) Der Beschwerdeführer wendet dagegen ein, nach den Erwägungen in
BGE 116 IV 244
ff. zum Begriff des Ausgeliefertwerdens im Sinne von
Art. 19 Ziff. 4 BetmG
sei der schweizerische Richter nicht gehalten, "... à accepter sa compétence avant de connaître l'avis de l'Etat étranger sur le territoire duquel les infractions ont été perpétrées" (S. 251). Nach diesem Entscheid müsse der Richter seine Zuständigkeit für die Auslandstat eines Ausländers nur dann anerkennen, wenn es nicht möglich sei, in einer vernünftigen Frist die Stellungnahme des Tatortstaates zu erlangen (S. 251). Der Beschwerdeführer macht geltend, diese Voraussetzung sei vorliegend nicht erfüllt. Ein Versuch, abzuklären, ob die Niederlande die Strafverfolgung betreffend den Kauf und Verkauf von 3000 LSD-Trips in Amsterdam übernehmen werden, sei nie unternommen worden. Aus dem Schweigen der holländischen Behörden könne deshalb nicht geschlossen werden, dass sich der Beschwerdeführer für diese Tat nicht doch noch in den Niederlanden werde verantworten müssen. Nachdem die aus der stellvertretenden Strafrechtspflege resultierende Verpflichtung, im Ausland begangene Straftaten zu verfolgen und zu beurteilen, subsidiärer Natur sei (
BGE 116 IV 248
, 2. Absatz), seien die aargauischen Gerichte zur Beurteilung des vom Beschwerdeführer in Amsterdam getätigten Kaufs und Verkaufs von 3000 LSD-Trips nicht zuständig. Das angefochtene Urteil sei daher in bezug auf diese Anklagepunkte wegen Verletzung von
Art. 19 Ziff. 4 BetmG
aufzuheben und der Beschwerdeführer insoweit von Schuld und Strafe freizusprechen.
2.
a) Nach
Art. 19 Ziff. 4 BetmG
ist der Täter gemäss den Ziffern 1 und 2 dieses Artikels auch strafbar, wenn er die Tat im Ausland begangen hat, in der Schweiz angehalten und nicht ausgeliefert wird, und wenn die Tat auch am Begehungsort strafbar ist. Diese Bestimmung enthält eine zwischen dem reinen Universalitäts- oder
BGE 118 IV 416 S. 419
Weltrechtsprinzip und der Übernahme der Strafverfolgung nach
Art. 85 IRSG
liegende Regelung (
BGE 116 IV 249
E. 3c). Der schweizerische Richter beurteilt die im Ausland begangenen Delikte eines Ausländers in der Regel erst, wenn er sich davon überzeugt hat, dass nicht um die grundsätzlich zulässige Auslieferung ersucht wird. Nur wenn es nicht möglich ist, den Standpunkt des ausländischen Staates, auf dessen Gebiet die strafbare Handlung begangen wurde, innert einer angemessenen Frist zu erhalten, kann und muss sich der schweizerische Richter ausnahmsweise auch ohne vorgängige Abklärung dieser Frage als zuständig erklären. Unter Vorbehalt dieser Ausnahme (dass eine Antwort innert angemessener Frist nicht zu erhalten ist) müssen die schweizerischen Behörden also abklären, ob der Tatortstaat die Auslieferung des Täters verlangt, und darf sich der Schweizer Richter nicht ohne vorgängige diesbezügliche Abklärungen zuständig erklären (
BGE 116 IV 251
).
b) Die aargauischen Behörden haben den Standpunkt der niederländischen Behörden zur Frage der Auslieferung des Beschwerdeführers unstreitig nicht abgeklärt. Die Voraussetzungen, unter denen der Schweizer Richter auch ohne vorgängige diesbezügliche Abklärungen seine Zuständigkeit gemäss
Art. 19 Ziff. 4 BetmG
bejahen darf, sind nicht erfüllt. Nichts spricht dafür, dass eine Antwort von seiten der niederländischen Behörden innert angemessener Frist nicht zu erwarten war. Dass der Beschwerdeführer sich im Zeitpunkt der Ausfällung des angefochtenen Entscheides bereits während 602 Tagen in Untersuchungshaft befunden hatte und es geboten war, das Verfahren innert nützlicher Frist abzuschliessen, ist insoweit unerheblich. Die erforderlichen Abklärungen bei den niederländischen Behörden hätten schon lange vorher getroffen werden können.
c) Die Vorinstanz war somit zur Zeit der Ausfällung des angefochtenen Entscheides zur Beurteilung des dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Kaufs und Verkaufs von 3000 LSD-Trips in Amsterdam nicht zuständig, da der Standpunkt der Behörden des Tatortstaates betreffend Auslieferung nicht abgeklärt worden war und die Voraussetzungen, unter denen ausnahmsweise auf solche Abklärungen verzichtet werden kann, nicht erfüllt sind. Der angefochtene Entscheid ist daher in Gutheissung der Nichtigkeitsbeschwerde insoweit aufzuheben.