Urteilskopf
118 V 286
36. Urteil vom 10. November 1992 i.S. M. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
Regeste
Art. 6 Abs. 3 UVG
.
- Ob an der Praxis, wonach bei physischen Unfallfolgen die Adäquanz als rechtliche Eingrenzung der aus dem natürlichen Kausalzusammenhang sich ergebenden Haftung des Unfallversicherers praktisch keine Rolle spielt, indem die Unfallversicherung auch für seltenste, schwerwiegendste Komplikationen haftet, welche nach der unfallmedizinischen Erfahrung im allgemeinen gerade nicht einzutreten pflegen (vgl.
BGE 117 V 365
unten) auch in Fällen festzuhalten ist, wo die bei der Behandlung der Unfallfolgen eingetretene Komplikation wesentlich aus dem krankhaften Vorzustand heraus gesetzt wird, kann vorliegend im Hinblick auf
Art. 6 Abs. 3 UVG
offenbleiben (Erw. 3a).
- Gestützt auf
Art. 6 Abs. 3 UVG
hat der Unfallversicherer für jeden Schaden aufzukommen, den die Unfallbehandlung setzt. Der Gesetzgeber hat durch den Erlass dieser Bestimmung bewusst eine Risikoverteilung zwischen Unfall- und Krankenversicherung vorgenommen. Danach hat der Unfallversicherer für Schäden einzustehen, die durch Krankenpflegemassnahmen (Heilbehandlung) im Anschluss an versicherte Unfälle herbeigeführt werden, ohne dass diese behandlungsbedingte Schadensverursachung den Unfallbegriff, den Tatbestand des haftpflichtrechtlichen Kunstfehlers oder der strafrechtlich relevanten Körperschädigung erfüllen müsste (Erw. 3b).
A.-
B. M. arbeitete seit Dezember 1986 als Hilfsmaurer in der Firma G. & W. AG, einem der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) unterstellten Betrieb. Am 3. August 1987 verdrehte er sich beim Bohren mit einer Handmaschine die linke Hand. Der Hausarzt, den der Versicherte am nächsten Tag aufsuchte, diagnostizierte das Vorliegen einer Distorsion des linken Handgelenkes mit einem grossen Hämatom über der Gelenkinnenseite und einem sekundären Carpaltunnelsyndrom.
Als die Beschwerden trotz anfänglicher Besserung nicht abnahmen, überwies der Kreisarzt der SUVA, Dr. med. C., B.M. am 17. September 1987 zur neurologischen Abklärung. Die Untersuchung ergab das Vorliegen einer Einklemmungsneuropathie des linken Nervus medianus auf der Höhe des Carpalkanals, weshalb Prof. K. von der Neurologischen Klinik des Kantonsspitals S. im Bericht vom 14. Oktober 1987 angesichts der bisher erfolglosen
BGE 118 V 286 S. 288
konservativen Behandlung eine dekompressive Neurolyse vorschlug. Dieser Eingriff erfolgte am 13. November 1987 in der handchirurgischen Abteilung der orthopädischen Chirurgie des Kantonsspitals S. Im Anschluss an die Operation trat erneut eine erhebliche Verschlechterung auf, so dass am 14. Dezember 1987 ein weiterer chirurgischer Eingriff nötig wurde (Bericht der Klinik für orthopädische Chirurgie des Kantonsspitals S. vom 30. Dezember 1987). Die histologische Untersuchung der exzidierten Sehnenscheidenwucherung ergab das Vorliegen einer Sehnenscheidentuberkulose.
Wegen der stark eingeschränkten Funktionsfähigkeit der linken Hand musste der Versicherte am 10. August 1988 ein drittes Mal operiert werden, wobei die entstandenen Verwachsungen soweit als möglich gelöst wurden (Bericht der Klinik für orthopädische Chirurgie des Kantonsspitals S. vom 26. August 1988). Seit Herbst 1988 ist B. M. wieder in der angestammten Firma zu 50% mit der Ausübung leichterer Tätigkeiten beschäftigt.
Am 14. April 1988 teilte die SUVA dem Versicherten mit, dass aufgrund der medizinischen Unterlagen nicht eine Unfallfolge, sondern eine Krankheit vorliege, weshalb sie nicht leistungspflichtig sei. Auf Intervention des Versicherten vom 21. April 1988 unterbreitete sie die Akten dem Kreisarzt Dr. med. C., der im Bericht vom 25. April 1988 die Meinung vertrat, die durch den erstbehandelnden Arzt am 4. August 1987 erhobenen Befunde seien ausschliesslich durch die vorbestandene tuberkulöse Synovitis verursacht worden; eine namhafte Teilwirkung des Unfalles auf das Krankheitsgeschehen könne zuverlässig ausgeschlossen werden, so dass die SUVA ihre Leistungspflicht zu Recht verneint habe. Mit Verfügung vom 17. Mai 1988 lehnte die SUVA daher die Gewährung von Versicherungsleistungen ab. Die hiegegen unter Einreichung eines Gutachtens des Hausarztes vom 7. September 1988 erhobene Einsprache mit dem Begehren auf Zusprechung der gesetzlichen Leistungen lehnte die SUVA nach Einholung einer Stellungnahme des Dr. med. B., Abteilung Unfallmedizin, vom 2. November 1988 mit Einspracheentscheid vom 10. November 1988 ab.
B.-
B. M. liess Beschwerde erheben und die Zusprechung der gesetzlichen Leistungen beantragen. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen holte nach durchgeführtem zweifachem Schriftenwechsel ein Gutachten des Prof. M., Direktor der Klinik für Hand-, Plastische und Wiederherstellungschirurgie des Universitätsspitals Z., ein, das am 21. August 1990 erstattet wurde. Da die SUVA hiegegen erhebliche Einwände erhob (Stellungnahme vom
BGE 118 V 286 S. 289
13. September 1990), ordnete das kantonale Gericht in der Folge eine Oberexpertise durch Prof. P. von der Hand- und peripheren Nervenchirurgie des Kantonsspitals B. (vom 26. April 1991) an. Mit Entscheid vom 25. Juni 1991 wies es die Beschwerde ab.
C.-
B. M. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und das im kantonalen Verfahren erhobene Begehren erneuern.
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde; das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Stellungnahme.
Auf die Vorbringen in den Rechtsschriften wird - soweit erforderlich - in den Erwägungen eingegangen.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
a) Gemäss
Art. 6 UVG
werden - soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt - die Versicherungsleistungen bei Berufsunfällen, Nichtberufsunfällen und Berufskrankheiten gewährt (Abs. 1). Ausserdem erbringt die Versicherung ihre Leistungen für Schädigungen, die dem Verunfallten bei der Heilbehandlung zugefügt werden (Abs. 3).
b) Die Leistungspflicht eines Unfallversicherers gemäss UVG setzt zunächst voraus, dass zwischen dem Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität, Tod) ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht. Ursachen im Sinne des natürlichen Kausalzusammenhangs sind alle Umstände, ohne deren Vorhandensein der eingetretene Erfolg nicht als eingetreten oder nicht als in der gleichen Weise bzw. nicht zur gleichen Zeit eingetreten gedacht werden kann. Entsprechend dieser Umschreibung ist für die Bejahung des natürlichen Kausalzusammenhangs nicht erforderlich, dass ein Unfall die alleinige oder unmittelbare Ursache gesundheitlicher Störungen ist; es genügt, dass das schädigende Ereignis zusammen mit anderen Bedingungen die körperliche oder geistige Integrität des Versicherten beeinträchtigt hat, der Unfall mit andern Worten nicht weggedacht werden kann, ohne dass auch die eingetretene gesundheitliche Störung entfiele (
BGE 117 V 360
Erw. 4a mit Hinweisen).
Ob zwischen einem schädigenden Ereignis und einer gesundheitlichen Störung ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht, ist eine Tatfrage, worüber die Verwaltung bzw. im Beschwerdefall der Richter im Rahmen der ihm obliegenden Beweiswürdigung nach dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden
BGE 118 V 286 S. 290
Wahrscheinlichkeit zu befinden hat. Die blosse Möglichkeit eines Zusammenhangs genügt für die Begründung eines Leistungsanspruches nicht (
BGE 117 V 360
Erw. 4a mit Hinweisen). Für die Feststellung natürlicher Kausalzusammenhänge im Bereich der Medizin ist die Verwaltung bzw. der Richter bisweilen auf Angaben ärztlicher Experten angewiesen. Bei Gerichtsgutachten weicht der Richter nach der Praxis nicht ohne zwingende Gründe von der Einschätzung des medizinischen Experten ab, dessen Aufgabe es gerade ist, seine Fachkenntnisse der Gerichtsbarkeit zur Verfügung zu stellen, um einen bestimmten Sachverhalt medizinisch zu erfassen. Ein Grund zum Abweichen kann vorliegen, wenn die Gerichtsexpertise widersprüchlich ist oder wenn ein vom Gericht eingeholtes Obergutachten in überzeugender Weise zu andern Schlussfolgerungen gelangt. Abweichende Beurteilung kann ferner gerechtfertigt sein, wenn gegensätzliche Meinungsäusserungen anderer Fachexperten dem Richter als triftig genug erscheinen, die Schlüssigkeit des Gerichtsgutachtens in Frage zu stellen, sei es, dass er die Überprüfung durch einen Oberexperten für angezeigt hält, sei es, dass er ohne Oberexpertise vom Ergebnis des Gerichtsgutachtens abweichende Schlussfolgerungen zieht (
BGE 112 V 32
Erw. 1a mit Hinweisen).
c) Die Leistungspflicht des Unfallversicherers setzt im weiteren voraus, dass zwischen dem Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden ein adäquater Kausalzusammenhang besteht. Nach der Rechtsprechung hat ein Ereignis dann als adäquate Ursache eines Erfolges zu gelten, wenn es nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung an sich geeignet ist, einen Erfolg von der Art des eingetretenen herbeizuführen, der Eintritt dieses Erfolges also durch das Ereignis allgemein als begünstigt erscheint (
BGE 117 V 361
Erw. 5a und 382 Erw. 4a, je mit Hinweisen).
2.
a) Aufgrund der klaren und überzeugenden Darlegungen im von der Vorinstanz eingeholten Obergutachten des Prof. P. vom 26. April 1991 ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer bereits vor dem Ereignis vom 3. August 1987 an einer stummen - für ihn nicht erkennbaren - Sehnenscheidentuberkulose litt. Wie Prof. P. weiter ausführte, bilden sich nach Ansiedlung von Tuberkelbazillen gleichzeitig Entzündungsprozesse mit Nekrosebildung und Heilungsvorgänge mit Vernarbungen, weshalb derartige chronische Entzündungs- und Vernarbungsvorgänge "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" am 3. August 1987 beim Beschwerdeführer in den Beugesehnenscheiden vorhanden gewesen
BGE 118 V 286 S. 291
seien. Die abrupte Fehlbewegung, die der Beschwerdeführer gemacht habe, als er am 3. August 1987 die Kontrolle über die laufende Handbohrmaschine verlor, habe zu einer Zerreissung oder Überdehnung von Sehnenscheidenverklebungen und -verwachsungen geführt, wodurch die vom Hausarzt am 4. August 1987 festgestellte und radiologisch dokumentierte Ergussbildung und das dadurch bedingte Carpaltunnelsyndrom entstanden seien. Das gegen diese Sehnenscheidenentzündung verabreichte Cortico-Steroid habe die lokale Abwehr des Gewebes gegen die Tuberkelbazillen vollständig blockiert, was zum eigentlichen Ausbruch der Handgelenktuberkulose und damit zu Vernarbungen und Verklebungen geführt habe, welche ihrerseits eine Bewegungseinschränkung der linken Hand bewirkten.
b) Diese Darstellung des medizinischen Sachverhalts zeigt eindeutig, dass es sich beim Ereignis vom 3. August 1987 um einen - unbestrittenermassen versicherten - Unfall handelte, der als mittelbare, indirekte Teilursache für den eingetretenen Defektzustand mitverantwortlich ist. Die Fehlbewegung der linken Hand bewirkte die Zerreissung oder Überdehnung der vorbestandenen, tuberkulosebedingten Verwachsungen in den Sehnenscheiden, und die Behandlung der dadurch entstandenen Ergussbildung mit Kortison führte zum eigentlichen Ausbruch der tuberkulösen Entzündung. Ohne den Vorfall vom 3. August 1987 wäre die Tuberkulose nicht oder jedenfalls nicht in jenem Zeitpunkt ausgebrochen. Dem Unfallereignis kommt somit klarerweise der Stellenwert einer conditio sine qua non zu; es kann nicht weggedacht werden, ohne dass auch die eingetretene gesundheitliche Störung entfiele (vgl. Erw. 1b). Damit ist der natürliche Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall vom 3. August 1987 und der durch die Sehnenscheidentuberkulose entstandenen Bewegungseinschränkung der linken Hand erstellt.
3.
a) Das kantonale Gericht hat die Leistungspflicht der SUVA mit der Begründung verneint, selbst wenn der natürliche Kausalzusammenhang gegeben wäre, fehle es an der Adäquanz, weil es "gerade nicht der allgemeinen Erfahrung" entspreche, "dass die (an sich überdosierte) Behandlung von Folgen eines Bagatelltraumas eine (bis anhin klinisch nicht manifeste) Erkrankung der vorliegenden Art auslöst".
Bei physischen Unfallfolgen spielt indessen die Adäquanz als rechtliche Eingrenzung der aus dem natürlichen Kausalzusammenhang sich ergebenden Haftung des Unfallversicherers praktisch keine Rolle, indem die Unfallversicherung auch für seltenste, schwerwiegendste
BGE 118 V 286 S. 292
Komplikationen haftet, welche nach der unfallmedizinischen Erfahrung im allgemeinen gerade nicht einzutreten pflegen (vgl.
BGE 117 V 365
unten, mit Hinweisen auf Lehre und Rechtsprechung). Ob hievon abzuweichen und der Adäquanz auch bei physischen mittelbaren Unfallfolgen die Bedeutung des Korrektivs als Haftungsbeschränkung zuzumessen ist, wenn die Komplikation, wie im vorliegenden Fall, wesentlich aus dem krankhaften Vorzustand heraus gesetzt wird, kann im Hinblick auf die nachfolgenden Darlegungen offenbleiben.
b) Wie in Erw. 1 dargelegt, hat die Versicherung gemäss
Art. 6 Abs. 3 UVG
ihre Leistungen ausserdem für Schädigungen zu erbringen, die dem Verunfallten bei der Heilbehandlung (
Art. 10 UVG
) zugefügt werden.
Gemäss den Ausführungen des Prof. P. im Obergutachten vom 26. April 1991 waren "die mehrfachen Kenacortininjektionen in die Sehnenscheiden (nach Angabe 4x40 mg Triamcinolon), was einer 4fach höheren Dosis entspricht, als üblicherweise für derartige Lokalinfiltrationen eines Cortico-Steroides empfohlen wird", "entscheidend für den weiteren Verlauf und das akute Aufflammen der tuberkulösen Sehnenscheidenentzündung". Die lokale Abwehr des Gewebes gegen die Tuberkelbazillen sei durch diese Überschwemmung mit Steroiden vollständig blockiert worden, so dass es zum Überhandnehmen der tuberkulösen Infektion kam. Der Tuberkuloseschub und die dadurch bewirkten narbigen Verwachsungen und Zerstörungen an den Beugesehnenscheiden, welche wesentlich für das heutige Beschwerdebild verantwortlich sind, wurden somit durch die medizinische Behandlung verursacht. Dabei ist entscheidend, dass diese zu hoch dosierten Steroidinfiltrationen der Sehnenscheiden zur Behandlung der Unfallfolgen, d.h. des Sehnenscheidenergusses und des dadurch bedingten Carpaltunnelsyndroms, appliziert wurden, wie der gerichtliche Oberexperte ausdrücklich festhielt. Dass dem behandelnden Arzt, welcher diese Kenacortininjektionen vornahm, objektiv kein Vorwurf gemacht werden kann, weil er - wie der Beschwerdeführer - nicht um das Vorliegen einer vorbestandenen Tuberkulose wusste und wissen konnte, ändert nichts daran, dass die Unfallbehandlung den Schaden setzte. Dafür hat die SUVA gestützt auf
Art. 6 Abs. 3 UVG
aufzukommen, hat doch der Gesetzgeber durch den Erlass dieser Bestimmung bewusst eine Risikoteilung zwischen Unfall- und Krankenversicherung vorgenommen. Danach hat der Unfallversicherer für Schäden einzustehen, die durch Krankenpflegemassnahmen (Heilbehandlung) im Anschluss
BGE 118 V 286 S. 293
an versicherte Unfälle herbeigeführt werden, ohne dass diese behandlungsbedingte Schadensverursachung den Unfallbegriff, den Tatbestand des haftpflichtrechtlichen Kunstfehlers oder der strafrechtlich relevanten Körperschädigung erfüllen müsste (BBl 1976 III 187 oben; MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 181).
c) Nach dem Gesagten hat die SUVA gestützt auf
Art. 6 Abs. 3 UVG
grundsätzlich für die Folgen einzustehen, die aus der Behandlung der am 3. August 1987 erlittenen Körperschädigung resultierten. Sie wird somit die einzelnen nach der Aktenlage in Frage kommenden Leistungen zu prüfen und gegebenenfalls zuzusprechen haben. Die Sache ist zu diesem Zweck an die SUVA zurückzuweisen.