BGE 119 IA 374 vom 19. Oktober 1993

Datum: 19. Oktober 1993

Artikelreferenzen:  Art. 31 BV , Art. 4, 31, 33 BV

BGE referenzen:  121 I 326, 122 I 90, 122 I 130, 123 I 12, 123 I 313, 123 I 259 , 119 IA 36, 118 IA 177, 111 IA 105, 98 IA 598, 111 IA 106, 117 IA 446, 111 IA 106, 117 IA 446

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

119 Ia 374


44. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 19. Oktober 1993 i.S. X. gegen Obergericht des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

Art. 4, 31, 33 BV ; Art. 5 ÜbBest. BV; Bewilligung zur Ausübung des Anwaltsberufes.
Die Kantone können die Berufsausübungsbewilligung von der Erfüllung persönlicher Voraussetzungen und namentlich von der Vertrauenswürdigkeit des Bewerbers abhängig machen. Das Verhalten in anderen Kantonen, wo der Bewerber bereits eine Zulassungsbewilligung besitzt, kann berücksichtigt werden.

Sachverhalt ab Seite 374

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Dr. X. ist seit dem 18. August 1975 im Besitz der Anwaltsbewilligung des Kantons St. Gallen. Er wurde am 12. Oktober 1990 wegen Verstosses gegen die Art. 11 und 6 der sanktgallischen Anwaltsordnung von der Aufsichtskommission für Anwälte und Rechtsagenten des Kantons St. Gallen mit Fr. 200.-- gebüsst. Mit Schreiben vom 2. Juni 1992 ersuchte er um die Bewilligung zur Ausübung
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des Anwaltsberufes im Kanton Bern. Das Obergericht des Kantons Bern wies das Gesuch am 27. Juli 1992 ab.
Hiegegen führt X. staatsrechtliche Beschwerde mit den Anträgen, der Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern vom 27. Juli 1992 sei aufzuheben und das Obergericht sei anzuweisen, die Bewilligung zur Ausübung des Anwaltsberufes im Kanton Bern zu erteilen. Er rügt eine Verletzung der Art. 4, 31, 33 BV und Art. 5 ÜbBest. BV.
Das Obergericht des Kantons Bern hat auf Ausführungen zur staatsrechtlichen Beschwerde verzichtet.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und hebt den angefochtenen Entscheid auf.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. a) Der Beschwerdeführer macht vorab eine Verletzung von Art. 5 ÜbBest. BV geltend. Diese Bestimmung steht im Zusammenhang mit Art. 33 BV . Nach dessen Abs. 1 ist den Kantonen anheimgestellt, die Ausübung der wissenschaftlichen Berufsarten von einem Ausweis der Befähigung abhängig zu machen; gemäss Abs. 2 ist auf dem Weg der Bundesgesetzgebung dafür zu sorgen, dass derartige Ausweise für die ganze Eidgenossenschaft gültig erworben werden können. Solange eine solche bundesrechtliche Regelung fehlt, und so verhält es sich für den Anwaltsberuf bis heute, soll gemäss Art. 5 ÜbBest. BV der in einem Kanton erlangte Befähigungsausweis zur Berufsausübung in der ganzen Schweiz berechtigen. Diese Freizügigkeitsgarantie erstreckt sich nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung auf die beruflichen Fachkenntnisse, belässt den Kantonen aber die Kompetenz zu prüfen, ob die nach ihren Vorschriften erforderlichen weiteren Voraussetzungen für die Zulassung zum Anwaltsberuf erfüllt sind ( BGE 119 Ia 36 f. mit Zitaten).
Dabei sind die Grundsätze der Handels- und Gewerbefreiheit zu wahren. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts steht der Anwalt unter dem Schutze von Art. 31 BV , ebenso wie die Angehörigen anderer liberaler Berufe und alle übrigen Personen, die einer privatwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit nachgehen. Einschränkungen der Handels- und Gewerbefreiheit müssen auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und die Grundsätze der Verhältnismässigkeit sowie der Rechtsgleichheit beachten. Ob das kantonale Recht hinsichtlich der angefochtenen
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Beschränkung eine genügende gesetzliche Grundlage enthält, prüft das Bundesgericht nur unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür, wenn es um einen leichten Eingriff in die Handels- und Gewerbefreiheit geht. Hingegen prüft das Bundesgericht grundsätzlich frei, ob die Massnahme auf einem überwiegenden öffentlichen Interesse beruht und verhältnismässig ist ( BGE 118 Ia 177 E. 2a, 181 E. 3a, mit Hinweisen).
b) Im Interesse des Schutzes des rechtsuchenden Publikums dürfen die Kantone die Bewilligung zur Ausübung des Anwaltsberufes von der Erfüllung persönlicher Voraussetzungen des Bewerbers abhängig machen. Namentlich dürfen sie die Vertrauenswürdigkeit des Bewerbers berücksichtigen ( BGE 111 Ia 105 f.; 98 Ia 598 ; BGE 71 I 377 f.). Die Zulassungsbehörde hat nach pflichtgemässem Ermessen zu prüfen, ob die Voraussetzungen zur Erteilung der Berufsausübungsbewilligung erfüllt sind. Dabei kann sie allerdings die persönlichen Voraussetzungen wie die Vertrauenswürdigkeit im allgemeinen nicht aus eigener Anschauung beurteilen. Sie ist daher darauf angewiesen, die notwendigen Schlüsse aus dem persönlichen und beruflichen Verhalten des Bewerbers im Kanton, wo er seinen Beruf in erster Linie ausübt, sowie in den übrigen Kantonen, wo er eine Zulassungsbewilligung besitzt, zu ziehen ( BGE 111 Ia 106 f.). Wurde der Bewerber in einem anderen Kanton rechtskräftig diszipliniert, so ist zu prüfen, ob Art und Schwere des Disziplinarfalles die Verweigerung der Zulassung zum Anwaltsberuf rechtfertigen. Tatbestände, welche zu Disziplinarbussen führen, sind im allgemeinen leichte Fälle, welche die Vertrauenswürdigkeit des Anwaltes nicht dauernd und nachhaltig beeinträchtigen. Die Vertrauenswürdigkeit des Anwaltes kann jedoch auch bei Vorliegen einer Disziplinarbusse erschüttert sein; namentlich dann, wenn der Bewerber bereits mehrmals disziplinarisch bestraft werden musste und diese Vorfälle nicht weit zurückliegen.

3. Vorliegend ist nicht streitig, dass der Beschwerdeführer aufgrund der abgelegten Anwaltsprüfung die wissenschaftlichen Voraussetzungen für die Ausübung des Anwaltsberufes im Kanton Bern erfüllt. In Frage steht einzig, ob diese dem Beschwerdeführer im Kanton Bern deshalb verweigert werden kann, weil seine berufliche Vertrauenswürdigkeit (Art. 8 Abs. 1 des bernischen Gesetzes vom 6. Februar 1984 über die Fürsprecher) erschüttert ist. Gemäss Art. 7 Abs. 1 des genannten Gesetzes ist die Bewilligung zur Berufsausübung im Kanton Bern zu erteilen, wenn der Gesuchsteller in seiner bisherigen Tätigkeit als Anwalt weder erheblich noch
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wiederholt diszipliniert worden ist, wobei Disziplinarmassnahmen, die mehr als zehn Jahre zurückliegen, ausser Betracht fallen.
a) Das Obergericht verweigerte dem Beschwerdeführer die Bewilligung zur Berufsausübung im Kanton Bern mit der Begründung, der Beschwerdeführer sei von der Aufsichtskommission des Kantons St. Gallen mit Fr. 200.-- gebüsst worden, weil er in schwerwiegender Weise gegen Art. 11 und 6 der Anwaltsordnung dieses Kantones verstossen habe und eine grobe Pflichtverletzung offenkundig sei. Im angefochtenen Entscheid wies es zudem auf möglicherweise angespannte finanzielle Verhältnisse des Beschwerdeführers hin, die es im Entscheid über das Wiedererwägungsgesuch jedoch wiederum relativierte: Massgebend sei der Umstand, dass der Beschwerdeführer wegen pflichtwidrigen Verhaltens habe gebüsst werden müssen.
b) Aus den Akten ergibt sich einzig die erwähnte Disziplinarbusse von Fr. 200.--. Nach Art. 62 Abs. 5 des damals geltenden sanktgallischen Gesetzes vom 20. März 1939 über die Zivilrechtspflege konnte die Aufsichtskommission bei grober Pflichtverletzung Rügen aussprechen oder Ordnungsstrafen bis zu Fr. 500.-- verhängen oder den Antrag auf Entziehung des Patentes oder Einstellung im Berufe beim Kantonsgericht einbringen. Obwohl die Aufsichtskommission die Pflichtverletzung des Beschwerdeführers als grob qualifizierte, hat sie mit der Ausfällung einer Busse von Fr. 200.-- eine verhältnismässig milde Sanktion getroffen und den Bussenrahmen nicht einmal zur Hälfte ausgeschöpft.
Freilich sind auch die konkreten Umstände, welche zu dieser Busse führten, zu prüfen. Der Beschwerdeführer leitete gemäss dem Entscheid der Aufsichtskommission zweimal einkassierte Gelder verspätet weiter, so dass er gemahnt werden musste. Auch ermangelte den Abrechnungen des Beschwerdeführers die Übersichtlichkeit, indem er in einem Fall Fr. 524.-- grundlos zurückbehielt. Schliesslich machte er in einem Fall falsche Angaben über seine Mandatsführung und verstiess in grober Weise gegen Regeln des Anstandes gegenüber einem ausländischen Kollegen.
c) Diese Vorwürfe vermögen wohl Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit des Beschwerdeführers zu erwecken. Doch fragt sich, ob die Verhältnismässigkeit gewahrt ist, wenn allein deswegen die Berufsausübungsbewilligung verweigert wird. Nach dem Verhältnismässigkeitsprinzip darf der Eingriff in die Handels- und Gewerbefreiheit keine Wirkungen hervorrufen, die weitergehen, als der Zweck der Massnahme es erfordert. Behördliche Einschränkungen
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sind nur zulässig, soweit sie nicht über das von der Sache her Notwendige hinausgehen sowie in räumlicher, zeitlicher und persönlicher Sicht nicht übermässig sind ( BGE 117 Ia 446 E. 4a mit Hinweis). In dieser Hinsicht ist zu beachten, dass seit den Verstössen des Beschwerdeführers und dem Entscheid der Aufsichtskommission bereits längere Zeit verstrichen ist, ohne dass weitere Pflichtwidrigkeiten des Beschwerdeführers aktenkundig geworden wären. Auch liess die Aufsichtskommission des Kantons St. Gallen trotz der von ihr als "grobe Pflichtverletzungen" qualifizierten Vorfälle es bei einer Busse von Fr. 200.-- bewenden. Wohl ist der Nichtdomizilkanton beim Entscheid über die Erteilung der Berufsausübungsbewilligung nicht an den Entscheid des Domizilkantons gebunden. (Der Meinung des Beschwerdeführers, dass ein Drittkanton die Art. 31 und 33 BV verletze, wenn er schärfere Sanktionen ausfälle als der Domizilkanton, kann so nicht gefolgt werden.) Aufgrund der Würdigung der gesamten Sachlage lässt es sich indessen nicht rechtfertigen, dem Beschwerdeführer die Berufsausübungsbewilligung gestützt auf die erwähnten Vorfälle zu verweigern. Der angefochtene Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern, mit welchem das Gesuch des Beschwerdeführers um Erteilung der allgemeinen Berufsausübungsbewilligung abgewiesen wurde, widerspricht deshalb dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit und damit der Handels- und Gewerbefreiheit.

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