Urteilskopf
119 II 157
32. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 23. März 1993 i.S. Marcel W. gegen H. Transport AG (Berufung)
Regeste
Bemessung der Entschädigung nach
Art. 336a OR
.
Das dem Richter bei der Festsetzung der Entschädigung zustehende Ermessen wird nur insoweit eingeschränkt, als die Entschädigung höchstens sechs Monatslöhne betragen darf (E. 2a). Entsprechend ihrer pönalen Funktion hat sich die Entschädigung entscheidend nach der Schwere der Verfehlung des Arbeitgebers zu richten. Mitverschulden des Arbeitnehmers als Reduktionsgrund (E. 2b). Reduktion der Entschädigung des Arbeitnehmers, der als Mitglied einer Betriebskommission zwar berechtigte Arbeitnehmerinteressen vertreten, dabei jedoch ein wenig kooperatives und letztlich renitentes Verhalten an den Tag gelegt hat (E. 2c).
A.-
Der seit dem 1. Dezember 1989 als Stadtbus-Chauffeur bei der Firma H. Transport AG angestellte Marcel W. wurde am 14. Dezember 1989 in die Betriebskommission seiner Arbeitgeberin und am 27. November 1990 zum Obmann der VPOD-Gruppe Stadtbus F. gewählt. Nach Auseinandersetzungen wegen der Arbeitszeiten der Chauffeure erhob der VPOD am 7. Dezember 1990 beim Bundesamt für Verkehr Beschwerde und führte am 13. Dezember eine Pressekonferenz durch, an der auch W. teilnahm.
Die Arbeitgeberin suspendierte W. am 14. Januar 1991 mit sofortiger Wirkung vom Dienst und eröffnete ihm, dass damit auch seine Teilnahme an der auf diesen Tag angesetzten Sitzung der Stadtbus-Chauffeure dahinfalle. Am 29. Januar wurde W. auf Ende April gekündigt. Am gleichen Tag fand unter dem Vorsitz des Stadtammanns eine Besprechung zwischen der Arbeitgeberin und dem VPOD statt. Die schriftliche Kündigungsbegründung folgte am 7. März, die Einsprache des Arbeitnehmers (
Art. 336b Abs. 1 OR
) am 12. März 1991.
B.-
Am 12. Juni 1991 klagte W. beim Bezirksgericht F. gegen die H. Transport AG auf Zahlung von Fr. 28'087.-- Entschädigung wegen missbräuchlicher Kündigung (
Art. 336a OR
). Das Bezirksgericht bejahte die Missbräuchlichkeit und schützte die Klage im Umfang von zwei Monatslöhnen. Auf kantonale Berufung beider Parteien hin erhöhte das Thurgauer Obergericht die Entschädigung auf vier Monatslöhne oder Fr. 18'111.-- nebst Zins.
C.-
Beide Parteien fechten das obergerichtliche Urteil vom 30. Juni 1992 mit eidgenössischer Berufung an. Der Kläger fordert die Erhöhung der zugesprochenen Entschädigung auf Fr. 26'979.-- nebst Zins, entsprechend der höchstmöglichen Entschädigung von sechs Monatslöhnen (
Art. 336a Abs. 2 OR
).
Aus den Erwägungen:
2.
Auch für die klägerische Berufung gilt das Begründungserfordernis des
Art. 55 Abs. 1 lit. c OG
und der Grundsatz der Bindung des Bundesgerichts an den vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt. Auf sie ist deshalb einmal insoweit nicht einzutreten, als die zugesprochene
BGE 119 II 157 S. 159
Entschädigung rein rechnerisch als zu tief beanstandet wird. Im Berufungsverfahren ist sodann von der verbindlichen Feststellung des Obergerichts auszugehen, dass die vom Kläger in der Betriebskommission gegen die Beklagte erhobenen Vorwürfe betreffend die Arbeitszeiten der Chauffeure zwar berechtigt gewesen seien und das Bundesamt für Verkehr sogar zu einer Strafanzeige wegen Verletzung des Arbeitszeitgesetzes veranlasst hätten, dass der Kläger jedoch "nichts" unternommen habe, "um das angespannte Verhältnis zu entschärfen". So hält das Obergericht dem Kläger vor, er habe im Oktober 1990 an einer Sitzung der VPOD-Gruppe Stadtbus teilgenommen, an der die Ausarbeitung neuer Schichtpläne beschlossen worden sei; im Dezember 1990 habe sich dann aber herausgestellt, dass der Kläger von Anfang an nicht bereit gewesen sei, diesen Beschluss zu befolgen und andere als von einer autorisierten Stelle ausgearbeitete Schichtpläne zu akzeptieren. Diese Feststellungen sind das Ergebnis positiver Beweiswürdigung, die entgegen der Auffassung des Klägers den Beweisführungsanspruch des
Art. 8 ZGB
nicht verletzte (
BGE 114 II 291
). Im übrigen richten sich die klägerischen Berufungsvorbringen gegen die Anwendung von
Art. 336a OR
, die das Bundesgericht frei prüft.
a) Gemäss
Art. 336a Abs. 1 OR
hat diejenige Partei, welche das Arbeitsverhältnis missbräuchlich kündigt, der anderen Partei eine Entschädigung auszurichten. Der zweite Absatz bestimmt, dass die Entschädigung vom Richter unter Würdigung aller Umstände festgesetzt wird, jedoch den Betrag nicht übersteigen darf, der dem Lohn des Arbeitnehmers für sechs Monate entspricht, wobei Schadenersatzansprüche aus anderen Rechtstiteln vorbehalten werden (zweiter Satz). Die Entschädigungshöhe ist somit dem richterlichen Ermessen anheimgestellt, das nur insoweit eingeschränkt wird, als der Richter höchstens sechs Monatslöhne zusprechen darf (REHBINDER, N. 4 zu
Art. 336a OR
; STREIFF/VON KAENEL, Leitfaden zum Arbeitsvertragsrecht, N. 3 zu
Art. 336a OR
; BRUNNER/BÜHLER/WAEBER, Kommentar zum Arbeitsvertrag, N. 4 zu
Art. 336a OR
). Für die vom Kläger unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien geforderte Auslegung (vgl. RONALD PEDERGNANA, Überblick über die neuen Kündigungsbestimmungen im Arbeitsvertragsrecht, in: recht 1989 Heft 2 S. 40 f.), nach der regelmässig die maximale Entschädigung von sechs Monatslöhnen geschuldet wäre, bleibt in Anbetracht der klaren Vorschrift von
Art. 336a Abs. 2 OR
kein Raum (
BGE 103 Ia 290
E. 2c). Sie wäre auch nicht mit
Art. 337c Abs. 3 OR
zu vereinbaren, der Entschädigungen zugunsten fristlos entlassener Arbeitnehmer auf sechs
BGE 119 II 157 S. 160
Monatslöhne beschränkt und vom Bundesgericht dahin ausgelegt worden ist, dass auch solche Entschädigungen bis zum gesetzlichen Höchstbetrag nach richterlichem Ermessen festgesetzt werden (
BGE 116 II 301
f.). Könnten Arbeitnehmer, denen zwar missbräuchlich, aber unter Einhaltung der ordentlichen Fristen gekündigt worden ist, im Normalfall sechs Monatslöhne als Entschädigung beanspruchen, so erhielten sie regelmässig mehr als fristlos entlassene Arbeitnehmer. Hinzu kommt, dass die Entschädigung nach
Art. 336a OR
auch als Sanktion für missbräuchliche Kündigungen des Arbeitnehmers vorgesehen ist (
Art. 336 Abs. 1 OR
), wo Entschädigungen von grundsätzlich einem halben Jahreslohn ohnehin ausser Betracht fallen.
Wie bei allen Ermessensentscheiden setzt das Bundesgericht auch bei den vom kantonalen Richter aufgrund von
Art. 336a OR
zugesprochenen Entschädigungen nicht sein Ermessen an die Stelle desjenigen der Vorinstanz. Es greift nur zurückhaltend ein und prüft den kantonalen Entscheid insbesondere daraufhin, ob die Vorinstanz grundlos von den in Lehre und Rechtsprechung ermittelten Bemessungskriterien abgewichen ist oder Tatsachen berücksichtigt hat, die für die Entschädigungshöhe keine Rolle hätten spielen dürfen, oder umgekehrt Umstände unberücksichtigt gelassen hat, die zwingend zu beachten gewesen wären (
BGE 118 II 55
E. 4).
b) Die Bemessungskriterien bestimmen sich nach dem Zweck der Entschädigung. Diese soll den Arbeitgeber in erster Linie für das dem Arbeitnehmer durch die missbräuchliche Kündigung zugefügte Unrecht bestrafen. Trotz der missverständlichen Bezeichnung ist die Entschädigung hingegen nicht Schadenersatz und setzt daher auch keinen Schadensnachweis voraus; Schadenersatzansprüche, sollten sie aus anderen Rechtstiteln geschuldet sein, werden in Art. 336a Abs. 2 a. E OR vielmehr ausdrücklich vorbehalten (REHBINDER, N. 1 und 6 zu
Art. 336a OR
; BRUNNER/BÜHLER/WAEBER, N. 2 zu
Art. 336a OR
; STREIFF/VON KAENEL, N. 2 und 8 zu
Art. 336a OR
; KUHN, Arbeitsrecht für die betriebliche Praxis, Ziff. 7/2.5.3 S. 1; BRAND ET AL., Der Einzelarbeitsvertrag im Obligationenrecht, N. 1 zu
Art. 336a OR
; ANDREAS HEFTI, Der Schutz vor ordentlichen Kündigungen bei gesetzlichen Dauerschuldverhältnissen - insbesondere beim Arbeitsvertrag, Diss. St. Gallen 1992, S. 107 Fn. 265).
Weil der Arbeitnehmer neben der Entschädigung Ersatz für den Schaden verlangen kann, der ihm als Folge der missbräuchlichen und damit widerrechtlichen Kündigung entstanden ist, darf sich die Entschädigungshöhe nicht an den finanziellen Einbussen des betroffenen Arbeitnehmers orientieren. Durch Schadenersatz abzugelten und
BGE 119 II 157 S. 161
nicht bei der Entschädigung zu berücksichtigen sind daher die wirtschaftlichen Folgen der missbräuchlichen Kündigung, die sich aus der Dauer des Arbeitsverhältnisses, aus dem Alter und der Stellung des entlassenen Arbeitnehmers, dessen sozialer Lage und den Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt ergeben (REHBINDER, N. 4 zu
Art. 336a OR
). Entsprechend ihrer pönalen Funktion hat sich die Entschädigung entscheidend nach der Schwere der Verfehlung des Arbeitgebers zu richten, die insbesondere durch den Anlass der Kündigung, ein allfälliges Mitverschulden des Arbeitnehmers, das Vorgehen bei der Kündigung und die Art des aufgelösten Arbeitsverhältnisses bestimmt wird (REHBINDER, N. 4 zu
Art. 336a OR
). Dabei gebietet es der Strafcharakter der Entschädigung, dass der Richter in analoger Anwendung von
Art. 63 StGB
auch den - vorliegend allerdings von keiner Partei angerufenen - wirtschaftlichen Verhältnissen des entschädigungspflichtigen Arbeitgebers Rechnung trägt.
c) Im Lichte dieser Kriterien erscheint die vom Obergericht zugesprochene Entschädigung von vier Monatslöhnen als Ergebnis vertretbarer Ermessensausübung:
Bei der Entschädigungsbemessung ausser Betracht zu bleiben hatte nach dem Gesagten einerseits die kurze Dauer des Arbeitsverhältnisses (vgl.
BGE 116 II 302
Nr. 53 E. 6) und anderseits die Tatsache, dass die Arbeitssuche des im Zeitpunkt der Kündigung bereits zweiundsechzigjährigen Klägers mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden war. Als Verfehlung anzulasten war der Beklagten, dass sie die Kündigung gegenüber einem Arbeitnehmer ausgesprochen hatte, dem in beruflicher Hinsicht nichts vorzuwerfen war und der sich in der Betriebskommission für berechtigte Anliegen der Arbeitnehmer eingesetzt hatte. Erschwerend wirkte sich auch das Vorgehen der Beklagten aus, das darauf abzielte, den Kläger bereits vor dem Kündigungstermin als Arbeitnehmervertreter auszuschalten. Diesen Tatsachen stand indessen das Mitverschulden des Klägers gegenüber, der als Mitglied der Betriebskommission nichts unternommen hatte, um das angespannte Verhältnis zu entschärfen. Indem das Obergericht das wenig kooperative und letztlich renitente Verhalten des Klägers (E. 2 vor a) als Reduktionsgrund berücksichtigte und von der Zusprechung des Höchstansatzes von sechs Monatslöhnen absah, überschritt es sein Ermessen umso weniger, als dem Kläger ja deswegen und nicht wegen seiner Kommissionszugehörigkeit als solcher gekündigt worden war.
Art. 336 Abs. 2 lit. b OR
gibt dem gewählten Arbeitnehmervertreter keinen Freipass für jedwelche gegen die Interessen des Arbeitgebers gerichtete Aktivitäten. Ihm
BGE 119 II 157 S. 162
wird lediglich zugestanden, berechtigte Interessen der Arbeitnehmer in sachlich vertretbarer und loyaler Weise wahrzunehmen. Auch die Berufung des Klägers ist daher abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.