Urteilskopf
119 II 167
34. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 27. Mai 1993 i.S. R. c. R. (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste
Eheschutzverfahren. Zuständigkeit schweizerischer Gerichte (
Art. 46 IPRG
;
Art. 6 IPRG
; Art. 1 Abs. 2 Ziff. 1 und Art. 18 Lugano-Übereinkommen); Begriff des Wohnsitzes nach
Art. 20 IPRG
.
1. Der Wohnsitzbegriff in Art. 20 Abs. 1 Bst. a IPRG deckt sich mit jenem nach
Art. 23 Abs. 1 ZGB
. Abweichungen ergeben sich nur dadurch, dass im internationalen Verhältnis keine den
Art. 24 Abs. 1 und
Art. 25 ZGB
entsprechenden Normen bestehen (E. 2).
2. Unter welchen Voraussetzungen kann ein schweizerisches Gericht nach
Art. 6 IPRG
seine Zuständigkeit ablehnen, wenn sich die beklagte Partei auf das Begehren einlässt (E. 3)?
3. Der Umstand, dass mit einem umfassenden Eheschutzbegehren auch noch Unterhaltsforderungen geltend gemacht werden, kann nicht dazu führen, dass die schweizerischen Gerichte nach Art. 18 Lugano-Übereinkommen zuständig werden (E. 4).
Der Einzelrichter in Ehesachen des Bezirkes Zürich trat mit Verfügung vom 3. Juli 1992 auf das am 25. März 1992 von Klara R. gegen ihren Ehemann Viktor R. eingereichte Eheschutzbegehren wegen fehlender örtlicher Zuständigkeit nicht ein. Er setzte Klara R. Frist an, um einen Antrag auf Überweisung der Sache an das von dieser als zuständig erachtete schweizerische Gericht zu stellen. Weiter hob er mit Eintritt der Rechtskraft der genannten Verfügung die mit einer früheren Verfügung vorsorglich angeordneten Vermögenssperren auf, soweit sie noch bestanden.
Das Obergericht des Kantons Zürich wies mit Beschluss vom 29. September 1992 einen von Klara R. gegen die einzelrichterliche Verfügung erhobenen Rekurs ab und setzte erneut Frist zur Stellung eines Überweisungsantrages an.
Klara R. gelangt mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht und beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und die Rückweisung der Sache an das kantonale Obergericht zur materiellen Behandlung.
Viktor R. beantragt die Abweisung der Nichtigkeitsbeschwerde. Das Obergericht hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht weist die Nichtigkeitsbeschwerde ab, aus folgenden
Erwägungen:
2.
a) Da der Beklagte unbestrittenermassen seinen Wohnsitz in Frankreich hat, liegt ein internationaler Sachverhalt vor, so dass
BGE 119 II 167 S. 169
sich die Zuständigkeit der zürcherischen Gerichte nach dem IPRG richtet.
b) Gemäss
Art. 46 IPRG
sind für Klagen oder Massnahmen betreffend die ehelichen Rechte und Pflichten die schweizerischen Gerichte am Wohnsitz oder, wenn ein solcher fehlt, jene am gewöhnlichen Aufenthalt eines Ehegatten zuständig. Wo eine Partei ihren Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, bestimmt sich nach
Art. 20 IPRG
, wobei Art. 20 Abs. 1 Bst. a IPRG den Wohnsitz gleich umschreibt wie
Art. 23 Abs. 1 ZGB
. Das Obergericht hat deshalb Art. 20 Abs. 1 Bst. a IPRG nach den zu
Art. 23 Abs. 1 ZGB
entwickelten Grundsätzen ausgelegt.
Die Klägerin sieht darin eine Bundesrechtsverletzung. Nach ihrer Ansicht stellt das IPRG an die Wohnsitzverlegung weniger strenge Anforderungen als das ZGB. Entsprechend habe im Vorentwurf zum IPRG die Umschreibung des Wohnsitzes auch von jener des ZGB abgewichen.
Die Klägerin verkennt damit, dass die im Vorentwurf vorgesehene - und nicht weniger strenge (vgl. A. BUCHER, Droit international privé suisse, Bd. II, Personnes, Famille, Successions, Basel 1992, Rz. 94) - Umschreibung des Wohnsitzes nicht Gesetz geworden ist. Im Entwurf hat der Bundesrat bewusst die nun Gesetz gewordene Definition des Wohnsitzes gewählt, um Übereinstimmung mit
Art. 23 Abs. 1 ZGB
zu erzielen (vgl. BBl 1983 I 317). Die Abweichungen zum Zivilgesetzbuch ergeben sich nur dadurch, dass die übrigen Wohnsitzbestimmungen, namentlich jene über den abgeleiteten (
Art. 25 ZGB
) und den fortgesetzten Wohnsitz (
Art. 24 ZGB
), nicht anwendbar sind (
BGE 119 II 65
E. aa). Damit wird die Aufgabe eines einmal begründeten Wohnsitzes im internationalen Verhältnis wesentlich einfacher als im innerstaatlichen. Daraus ergibt sich aber nicht auch eine leichtere Bejahung der Wohnsitzverlegung, die ja nicht nur die Aufgabe des bisherigen, sondern auch die Begründung eines neuen Wohnsitzes erfordert. Zu beachten ist schliesslich, dass
Art. 20 Abs. 2 IPRG
gegenüber
Art. 24 Abs. 2 ZGB
nur präzisiert, dass der "gewöhnliche" Aufenthalt an die Stelle des Wohnsitzes tritt.
Wie
Art. 23 ZGB
setzt auch Art. 20 Abs. 1 Bst. a IPRG ein objektives Element, nämlich die physische Anwesenheit, und ein subjektives Element, die Absicht dauernden Verbleibens, voraus (SCHWANDER, Einführung in das internationale Privatrecht, Allg. Teil, St. Gallen 1990, Rz. 194). Die Absicht des dauernden Verbleibens muss dabei durch objektive Umstände erkennbar sein (
BGE 97 II 3
).
Dass ein Umzug über die Grenzen mit mehr administrativem Aufwand verbunden ist als innerhalb der Schweiz und deshalb auch mehr Zeit in Anspruch nimmt, kann - entgegen der Meinung der Klägerin - nicht dazu führen, an die Begründung eines neuen Wohnsitzes im internationalen Verhältnis weniger hohe Anforderungen zu stellen als im internen Recht. Dass sich aus solchen praktischen Gründen eine Wohnsitzverlegung verzögern kann, ist vielmehr hinzunehmen. Eine gewisse Erleichterung besteht nur insoweit, als der frühere Wohnsitz nicht perpetuiert wird, sondern dass an die Stelle des einmal aufgegebenen Wohnsitzes der gewöhnliche Aufenthalt tritt (
Art. 20 Abs. 2 IPRG
).
c und d) (Ablehnen eines Wohnsitzes und eines gewöhnlichen Aufenthaltes in der Schweiz aufgrund der konkreten Umstände.)
3.
Die Klägerin macht sodann geltend, die Zuständigkeit der zürcherischen Gerichte sei auch durch Einlassung zustande gekommen.
a) Gemäss
Art. 6 IPRG
begründet in vermögensrechtlichen Angelegenheiten die vorbehaltlose Einlassung die Zuständigkeit des angerufenen schweizerischen Gerichts. Indessen darf aufgrund des klaren Gesetzestextes das Gericht seine Zuständigkeit ablehnen, wenn keine Partei ihren Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt (oder ihre Niederlassung, was im vorliegenden Zusammenhang ohne Bedeutung ist) im entsprechenden Kanton hat und wenn nicht schweizerisches Recht anwendbar ist (
Art. 5 Abs. 3 IPRG
), wobei beide Voraussetzungen erfüllt sein müssen.
aa) Es hat sich gezeigt (vorn E. 2), dass die Klägerin weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt in Zürich gehabt hat. Dass dies auch für den Beklagten zutrifft, ist unbestritten. Die in Art. 5 Abs. 3 Bst. a IPRG vorgesehene Voraussetzung für eine Pflicht zur Anhandnahme in Zürich ist somit nicht erfüllt.
bb) Mit Bezug auf das anwendbare Recht ist zwischen den Unterhaltsfragen und den übrigen ehelichen Rechten und Pflichten zu unterscheiden. Während für erstere das Haager Übereinkommen vom 2. Oktober 1973 gilt (
Art. 49 IPRG
), richtet sich das anwendbare Recht bei letzteren nach
Art. 48 IPRG
.
Art. 4 des Übereinkommens über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht [SR 0.211.213.01] erklärt das innerstaatliche Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Unterhaltsberechtigten als anwendbar. Wie sich gezeigt hat, gelangt damit das französische und nicht das schweizerische Recht zur Anwendung. Dass die Klägerin nach französischem Recht keinen Unterhalt erhalten könnte und deshalb
BGE 119 II 167 S. 171
nach Art. 5 des gleichen Abkommens das schweizerische Heimatrecht anwendbar wäre, ist weder behauptet noch bewiesen. Auf die Unterhaltsfragen gelangt somit nicht schweizerisches Recht zur Anwendung.
Art. 48 Abs. 1 IPRG
verweist für die übrigen ehelichen Rechte und Pflichten auf das gemeinsame Wohnsitzrecht der Parteien. Wie sich gezeigt hat, haben beide im massgebenden Zeitpunkt Wohnsitz - allenfalls subsidiär gewöhnlichen Aufenthalt (
Art. 20 Abs. 2 IPRG
) - in Frankreich gehabt. Auch nach dieser Bestimmung ist somit nicht schweizerisches Recht anwendbar.
Schliesslich sieht
Art. 48 Abs. 3 IPRG
die Anwendung des schweizerischen Rechts vor, sofern eine Heimatzuständigkeit nach
Art. 47 IPRG
gegeben ist. Dass es in Frankreich unmöglich wäre, eine Eheschutzklage zu erheben, behauptet die Klägerin nicht. Sie macht jedoch geltend, dies sei ihr nicht zuzumuten, weil der Kläger wesentliche Einkommensteile dem französischen Fiskus verschwiegen habe. Daraus vermag sich indessen keine Unzumutbarkeit im Sinne von
Art. 47 IPRG
zu ergeben. Wohl kann ein Eheschutzverfahren, in dem es auch um Unterhaltsfragen geht, das Offenlegen der Einkommensverhältnisse nötig machen. Sollten dadurch gegebenenfalls den Behörden Fiskaldelikte bekannt werden, die sich die Parteien zu Schulden kommen liessen, so haben die Ehegatten damit nur die Konsequenzen ihres eigenen rechtswidrigen Verhaltens zu tragen. Dass diese ein mit der schweizerischen Rechtsordnung nicht mehr vereinbares Mass erreichen würden, ist in keiner Weise dargetan. Von einer Unzumutbarkeit, in Frankreich zu klagen, kann somit nicht gesprochen werden.
cc) Die Klägerin will schliesslich schweizerisches Recht angewendet haben, weil eine entsprechende Rechtswahl vorliege. Sie übersieht dabei, dass weder das gemäss
Art. 49 IPRG
auf den Unterhalt anwendbare Übereinkommen noch
Art. 48 IPRG
für den übrigen Bereich der Wirkungen der Ehe im allgemeinen die Möglichkeit einer Rechtswahl vorsehen. Eine solche ist aber grundsätzlich nur möglich, wenn das Gesetz sie vorsieht (vgl. SCHWANDER, Rz. 234).
Eine Rechtswahl könnte sich somit höchstens auf das Güterrecht beziehen. Die Klägerin macht denn auch - wie schon im kantonalen Verfahren - geltend, die Parteien hätten einen Ehevertrag nach schweizerischem Recht abgeschlossen, als sie noch in der Schweiz wohnten, was zu einer Weiterführung des schweizerischen Rechts auch nach dem Wohnsitzwechsel nach Frankreich geführt habe (
Art. 55 Abs. 2 IPRG
).
Es ist indessen unbestritten, dass Ausgangspunkt des vorliegenden Verfahrens ein Eheschutzgesuch der Klägerin bildet. Der Gesetzgeber hat zwar vorgesehen, dass innerhalb des Eheschutzverfahrens eine Gütertrennung angeordnet werden kann, wenn es um die Regelung des Getrenntlebens geht (
Art. 176 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
). Die Voraussetzungen für die Aufhebung des bisherigen Güterstandes sind gegenüber
Art. 185 ZGB
sogar erleichtert (HAUSHEER/REUSSER/GEISER, Kommentar zum Eherecht, Bern 1988, N. 38 zu
Art. 176 ZGB
). Das Begehren um Auflösung des Güterstandes bleibt aber immer nur ein Nebenpunkt der Eheschutzmassnahmen. Es vermag insbesondere nicht einen Gerichtsstand für Eheschutzmassnahmen zu begründen, wenn dieser ohne das Begehren auf Gütertrennung nicht gegeben wäre. Von daher ist es für den Ausgang des vorliegenden Verfahrens ohne Bedeutung, ob die Parteien dem schweizerischen Güterrecht unterstehen oder nicht.
b) Kann das Gericht gemäss Art. 6 in Verbindung mit
Art. 5 Abs. 3 IPRG
seine Zuständigkeit ablehnen, so stellt sich auch die Frage nicht, ob im Bereich des Eheschutzes überhaupt eine Zuständigkeit durch Einlassung begründet werden kann.
4.
Schliesslich versucht die Klägerin die Zuständigkeit der zürcherischen Gerichte auf das "Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen" vom 16. September 1988 (Lugano-Übereinkommen [0.275.11]) zu stützen.
a) Soweit sie mit diesem Abkommen eine Zuständigkeit der zürcherischen Gerichte mit einem Wohnsitz in Zürich begründen will, ist ihre Argumentation bereits widerlegt worden. Das Lugano-Übereinkommen kennt keinen gegenüber dem IPRG erweiterten Wohnsitzbegriff.
b) Die Klägerin sieht die zürcherischen Gerichte aber auch aufgrund von Art. 18 Lugano-Übereinkommen für zuständig an, der die Einlassung regelt. Wie indessen bereits das Obergericht festgestellt hat, ist das Abkommen auf den vorliegenden Rechtsstreit gar nicht anwendbar. Art. 1 Abs. 2 Ziff. 1 Lugano-Übereinkommen nimmt von seinem Anwendungsbereich ausdrücklich "den Personenstand, die Rechts- und Handlungsfähigkeit sowie die gesetzliche Vertretung natürlicher Personen, die ehelichen Güterstände, das Gebiet des Erbrechts einschliesslich des Testamentsrechts" aus. Dabei ist in der Lehre anerkannt, dass diese Ausnahme insofern weit zu verstehen ist, als sie das ganze Ehe- und Kindesrecht - allerdings ohne das Unterhaltsrecht - erfasst (MONIQUE JAMETTI GREINER, Überblick
BGE 119 II 167 S. 173
zum Lugano-Übereinkommen, ZBJV 1992, S. 46; VOLKEN, Entstehungsgeschichte und Regelungsbereich, in: Schwander (Hrsg.), Das Lugano-Übereinkommen, St. Gallen 1990, S. 48 f., Rz. 41).
Wie dem angefochtenen Entscheid zu entnehmen ist, hat die Klägerin in ihrem Eheschutzbegehren nebst Unterhaltszahlungen für sich persönlich und den gemeinsamen Sohn u.a. die Berechtigung zum Getrenntleben, die Obhutszuteilung, die Zuteilung von Wohnung und Büroräumlichkeiten, die Herausgabe von Gegenständen, die Zurverfügungstellung einer Büroinfrastruktur und die nötigen finanziellen Mittel zur Anschaffung eines Dressurpferdes verlangt. Zudem geht es um die Sperrung von Konten und Grundbüchern und - wie die Klägerin selber betont - um die Anordnung der Gütertrennung. Der Streit dreht sich somit um ein umfassendes Eheschutzbegehren, d.h. um die Regelung des Getrenntlebens mit allen Aspekten, die sich dabei stellen. Der Unterhaltsanspruch steht damit in keiner Weise im Vordergrund und das Obergericht hat die Anwendbarkeit des Abkommens für die Begründung einer Zuständigkeit in Zürich zu Recht abgelehnt. Der Umstand, dass mit einem umfassenden Eheschutzbegehren auch noch Unterhaltsforderungen erhoben werden, kann nicht dazu führen, dass die zürcherischen Gerichte nach Art. 18 Lugano-Übereinkommen zuständig werden.