BGE 119 II 323 vom 1. Juli 1993

Datum: 1. Juli 1993

Artikelreferenzen:  Art. 219 ZGB, Art. 608 ZGB, Art. 612a ZGB, Art. 219 ZGB, Art. 244 ZGB , Art. 608 Abs. 1 ZGB, Art. 621bis ZGB, Art. 219 und 244 ZGB

BGE referenzen:  118 II 309, 117 II 447, 115 II 99

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

119 II 323


63. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 1. Juli 1993 i.S. B.-S. gegen. B.-F. und Geschwister (Berufung)

Regeste

Zuweisung der ehelichen Wohnung bzw. des Hauses an den überlebenden Ehegatten ( Art. 612a ZGB ).
Art. 612a ZGB , der dem überlebenden Ehegatten das Recht einräumt, das Eigentum an der ehelichen Wohnung bzw. am ehelichen Haus auf Anrechnung zu verlangen, ist dispositiver Natur. Ein Ehegatte kann daher dem andern durch letztwillige Verfügung anstelle des Eigentums ein Wohnrecht bzw. die Nutzniessung einräumen (E. 5).

Erwägungen ab Seite 323

BGE 119 II 323 S. 323
Aus den Erwägungen:

5. Die Beklagte hält dafür, Art. 612a ZGB stelle eine zwingende Norm dar, die der Erblasser nicht ohne ihre Zustimmung habe umgehen können. Von der Lehre wird mehrheitlich der dispositive
BGE 119 II 323 S. 324
Charakter der vorgenannten Gesetzesbestimmung bejaht und angenommen, das Vorrecht des überlebenden Ehegatten auf die Zuweisung des Eigentums an der ehelichen Wohnung oder am Haus werde namentlich ausgeschlossen, wenn der Erblasser durch letztwillige Verfügung ein Wohnrecht oder die Nutzniessung zuwende (vgl. etwa KAUFMANN, Das Erbrecht sowie die ehe- und erbrechtliche Übergangsordnung in: Berner Tage für juristische Praxis 1987, Bern 1988, S. 131; HAUSHEER/REUSSER/GEISER, N. 16 zu Art. 219 ZGB mit zahlreichen Hinweisen; GUINAND, Le droit successoral in: Le nouveau droit du mariage, 2. Aufl. Lausanne 1987, S. 83; SCHWANDER, Die 1984 revidierten erbrechtlichen Bestimmungen des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs in: Das neue Eherecht, St. Gallen 1987, S. 303; DESCHENAUX/STEINAUER, Le nouveau droit matrimonial, Bern 1987, S. 548; RICHARD SCHLEISS, Hausrat und Wohnung in der Güterstandsauseinandersetzung und Erbteilung, Diss. BE 1989, S. 192; anderer Meinung: DRUEY, Das neue Erbrecht und seine Übergangsordnung, in: HAUSHEER, Vom alten zum neuen Eherecht, Bern 1986, S. 172; HAUSHEER, Art. 612a ZGB - wirklich nur dispositiv?, AJP 2/93, S. 126 ff.).
Der mehrheitlich vertretenen Auffassung ist zuzustimmen: Art. 612a ZGB befindet sich im zweiten Abschnitt des siebzehnten Titels des ZGB, der von der Teilungsart handelt und dem Erblasser in Art. 608 Abs. 1 ZGB das Recht einräumt, seinen Erben durch Verfügung von Todes wegen Vorschriften über die Teilung zu machen. Systematisch handelt es sich demnach bei Art. 612a ZGB um eine Teilungsvorschrift (HAUSHEER/REUSSER/GEISER, a.a.O., N. 16 zu Art. 219 ZGB ), aus deren Wortlaut sich nicht ergibt, dass die dem Erblasser durch Art. 608 Abs. 1 ZGB zugestandene Freiheit eingeschränkt wird. Sodann fällt auf, dass die im bäuerlichen Erbrecht eingeordnete Bestimmung des Art. 621bis ZGB die Verfügungsfreiheit des Erblassers hinsichtlich der Teilung im Gegensatz zu Art. 612a ZGB ausdrücklich einschränkt. Die Botschaft des Bundesrates über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Wirkungen der Ehe im allgemeinen, Ehegüterrecht und Erbrecht) vom 11. Juli 1979 (BBl 1979 II S. 1354 zweitletzter Absatz), aber auch die verschiedenen Voten der parlamentarischen Beratung (Amtl.Bull. SR 1981, S. 161: Voten von Ständerat Dillier und Bundespräsident Furgler; Amtl.Bull. SR 1984, S. 140: Voten von Ständerat Hänsenberger und Bundesrat Friedrich; Amtl.Bull. NR 1984, S. 1046: Votum von Nationalrat Weber-Arbon) haben denn auch in unmissverständlicher Weise die dispositive Natur von Art. 612a ZGB
BGE 119 II 323 S. 325
hervorgehoben; wird überdies beachtet, dass diese Auffassung angesichts der im gleichen Zuge eingefügten güterrechtlichen Bestimmungen des Art. 219 und 244 ZGB sowie in Kenntnis des zwingenden Art. 621bis ZGB vertreten worden ist, so lässt sich darin ohne Zweifel der Wille des Gesetzgebers erkennen ( BGE 118 II 309 E. a; 117 II 447 ; 115 II 99 E. b mit Hinweisen), Art. 612a ZGB als dispositive Norm auszugestalten. Dass diese Regelung die Einheit mit den güterrechtlichen Bestimmungen der Art. 219 und 244 ZGB , welche nur durch die Ehegatten gemeinsam abänderbar sind, vermissen lässt (DRUEY, Grundriss des Erbrechts, 3. Aufl. Bern 1992, § 16 N. 49), hat der Gesetzgeber demnach bewusst in Kauf genommen (vgl. Amtl.Bull. NR 1984, S. 1046: Votum von Nationalrat Weber-Arbon).

Diese Seite ist durch reCAPTCHA geschützt und die Google Datenschutzrichtlinie und Nutzungsbedingungen gelten.

Feedback
Laden