BGE 119 II 344 vom 30. August 1993

Datum: 30. August 1993

Artikelreferenzen:  Art. 884 ZGB, Art. 891 ZGB, Art. 894 ZGB, Art. 436 OR

BGE referenzen:  117 II 273, 119 II 326 , 117 II 273, 119 II 326

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

119 II 344


70. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 30. August 1993 i.S. X. AG in Nachlassliquidation gegen Bank Y. (Berufung)

Regeste

Verpfändung von kotierten Aktien; Selbsteintritt des Pfandgläubigers.
Zulässigkeit des Selbsteintritts sowohl aufgrund einer Auslegung der vertraglichen Abmachungen (E. 2a) wie auch unter dem Gesichtspunkt des gesetzlichen Verbotes des Verfallsvertrages (E. 2b) bejaht.

Erwägungen ab Seite 344

BGE 119 II 344 S. 344
Aus den Erwägungen:

2. Unbestritten ist, dass die Parteien verbindlich vereinbart haben, die Beklagte sei ermächtigt, die verpfändeten Aktien börsenmässig
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oder freihändig zu verwerten (Ziff. 6 "Pfandverschreibung" und Ziff. 8 der AGB der Beklagten). Das Handelsgericht hat aus den Abmachungen abgeleitet, die Beklagte sei auch zum Selbsteintritt berechtigt gewesen, da dieser in der Befugnis zur freihändigen Verwertung mitenthalten sei. Mit der Berufung wird dagegen eingewendet, dieser Schluss beruhe auf einer unhaltbaren Vertragsauslegung. Nach Auffassung der Klägerin wäre der Selbsteintritt nur dann zulässig gewesen, wenn das wörtlich in den Vertragstexten festgehalten worden wäre.
a) Der Wortlaut der Vereinbarungen, auf den bei der Auslegung in erster Linie abzustellen ist, lässt den Schluss der Vorinstanz ohne weiteres zu. Zum einen fällt unter den Begriff "verwerten" jede Handlung, die es dem Pfandgläubiger erlaubt, sich den Wert des Pfandgegenstandes anzueignen. Dazu gehört offensichtlich auch der Selbsteintritt. Zum andern ergibt sich aus dem Textzusammenhang, dass der Begriff "freihändig" als Abgrenzung gegenüber der Verwertung an der Börse (Ziff. 6 "Pfandverschreibung") oder im Betreibungsverfahren (Ziff. 8 AGB) zu verstehen ist. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist somit die Auslegung der Vorinstanz nicht zu beanstanden.
Dazu kommt, dass die Klägerin nach verbindlicher Feststellung des Handelsgerichts mit den Gebräuchen der Bankenbranche vertraut war. In dieser Branche ist indessen die Ansicht verbreitet, die Befugnis zur freihändigen Verwertung von Pfändern umfasse auch den Selbsteintritt (ZOBL, Berner Kommentar, N. 413 zu Art. 884 ZGB ; ALBISETTI und andere, Handbuch des Geld-, Bank- und Börsenwesens der Schweiz, 4. Aufl., S. 696, Stichwort: Wertpapierverpfändung; EMCH/RENZ/BÖSCH, Das schweizerische Bankgeschäft, 4. Aufl., S. 288). Dieser Umstand, der im Rahmen der Vertragsauslegung nach dem Vertrauensgrundsatz berücksichtigt werden kann (vgl. BGE 117 II 273 E. 5a S. 278 mit Hinweisen), spricht ebenfalls für die Richtigkeit der vorinstanzlichen Auslegung. Die Möglichkeit des Selbsteintritts brauchte somit entgegen der Auffassung der Klägerin nicht ausdrücklich in den Vertragstexten erwähnt zu werden.
b) Unbegründet ist im weitern der Einwand der Klägerin, die erwähnten Vereinbarungen verletzten das Verbot des Verfallsvertrages und seien deshalb gemäss Art. 894 ZGB ungültig. Hauptzweck dieser Bestimmung ist es, eine wucherähnliche Ausbeutung des Verpfänders zu verhindern (OFTINGER/BÄR, Zürcher Kommentar, N. 4 zu Art. 894 ZGB ). Wenn eine solche Übervorteilung aber durch die Bedingungen des Selbsteintrittes, mit denen im konkreten Fall auch
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die Interessen des Verpfänders angemessen berücksichtigt werden, ausgeschlossen wird, so bestehen unter dem Gesichtspunkt von Art. 894 ZGB keine Bedenken gegen die Gültigkeit der Vereinbarung. In der Literatur wird denn auch die grundsätzliche Zulässigkeit des Selbsteintritts einhellig bejaht (OFTINGER/BÄR, N. 62 zu Art. 891 ZGB ; ZOBL, Probleme bei der Verpfändung von Eigentümerschuldbriefen, ZBGR 59/1978, S. 212; RUDOLPH J. KADERLI, Die Sicherung des Bankkredites, Diss. Bern 1938, S. 39 f.; MAX HAFFTER, Das Fahrnispfandrecht und andere sachenrechtliche Sicherungsgeschäfte, Diss. Bern 1928, S. 88; BÖCKLI, Das Recht des Pfandgläubigers zum Selbsteintritt bei der Pfandverwertung, SJZ 20/1924, S. 301 ff.; ebenso BGE 119 II 326 E. 2c S. 328). Zur Begründung dieser Auffassung wird zu Recht auf die gesetzliche Regelung beim Kommissionsvertrag hingewiesen ( Art. 436 OR ), da die dort sich gegenüberstehenden Interessen von Kommittent und Kommissionär ähnlich gelagert sind wie jene von Pfandgläubiger und Schuldner im Fall des Selbsteintritts. Eine allzu enge Anlehnung an die in Art. 436 OR aufgezählten Voraussetzungen drängt sich jedoch nicht auf. So wird die Zulässigkeit des Selbsteintrittes zwar regelmässig zu bejahen sein, wenn es um Pfänder geht, die einen Markt- oder Börsenpreis haben. Gleiches gilt aber auch für den - hier vorliegenden - Fall, wo dieser Preis nur als Anhaltspunkt dient und aus anderen Gründen eine objektive Bewertung der Pfandgegenstände im Zeitpunkt des Selbsteintrittes möglich ist, denn auch dann kann in der Regel eine Übervorteilung des Schuldners ausgeschlossen werden. Zutreffend wird schliesslich in der Lehre darauf hingewiesen, der Gläubiger sei dazu verpflichtet, zuhanden des Schuldners eine Abrechnung zu erstellen, den Preis von seiner Forderung abzuziehen und einen allfälligen Überschuss herauszugeben.
Nach den verbindlichen Feststellungen des Handelsgerichts waren die soeben erwähnten Voraussetzungen, die eine Übervorteilung der Klägerin ausschlossen, im vorliegenden Fall erfüllt. Das Handelsgericht durfte somit die von der Klägerin im kantonalen Verfahren erhobenen Hauptbegehren, welchen die Auffassung zugrunde lag, der Selbsteintritt zum damals geltenden Börsenkurs sei ungültig, abweisen, ohne damit Bundesrecht zu verletzen.

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