Urteilskopf
119 II 46
12. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 16. Februar 1993 i.S. R. und B. G.-W. gegen G. AG (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
Regeste
Einsichtsrecht des Gläubigers (Art. 704 aOR i.V.m. Art. 85 aHRegV,
Art. 697h Abs. 2 OR
;
Art. 1 und 2 SchlT ZGB
).
Art. 704 aOR und
Art. 697h OR
sind materiell inhaltsgleich. Die Zuständigkeit des Richters gemäss
Art. 697h Abs. 2 OR
wurde nicht um der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit willen aufgestellt. Nach dem in
Art. 1 SchlT ZGB
verankerten Grundsatz der Nichtrückwirkung ist deshalb das vor dem 1. Juli 1992 geltende Aktienrecht anwendbar (E. 1b).
A.-
Gestützt auf Art. 704 aOR unterbreiteten R. und B. G.-W. am 24. April 1992 dem Handelsregisteramt des Kantons Aargau das Gesuch, die G. AG, Zofingen, sei zur Auflegung der Gewinn- und Verlustrechnung sowie der Bilanz in der vom Aktionär genehmigten Fassung aufzufordern. Weil sich die Gesuchsgegner weigerten, dem Begehren stattzugeben, überwies das Handelsregisteramt die Angelegenheit am 5. Juni 1992 dem Departement des Innern des Kantons Aargau. Dieses vertrat den Standpunkt, anwendbar sei der seit dem 1. Juli 1992 in Kraft stehende
Art. 697h Abs. 2 OR
, und verfügte am 1. September 1992 die Überweisung des Gesuchs an den Gerichtspräsidenten des Bezirks Zofingen zum Entscheid. Der Bezirksgerichtspräsident wiederum leitete die Streitsache am 8. September 1992 an das Handelsgericht des Kantons Aargau weiter. Letzteres entschied am 17. September 1992, über die Zuständigkeit seines Instruktionsrichters werde erst nach Vorliegen einer bis zum 5. Oktober 1992 einzureichenden Erklärung der Gesuchsteller entschieden, ob sie das Gesuch zurückziehen oder an der Zuständigkeit der Justizabteilung des Departements des Innern festhalten oder einen Entscheid des Instruktionsrichters des Handelsgerichts bezüglich Zuständigkeit anstreben würden.
B.-
Nachdem R. und B. G.-W. am 5. Oktober 1992 gegenüber dem Handelsgericht erklärt hatten, sie hielten an der Zuständigkeit des Departements des Innern des Kantons Aargau zur Beurteilung ihres Begehrens fest, reichten sie dem Bundesgericht am 7. Oktober 1992 eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag ein, es sei die Verfügung des Departements des Innern des Kantons Aargau vom 1. September 1992 aufzuheben und die Sache zur materiellen Entscheidung an diese Instanz zurückzuweisen.
Das Departement des Innern des Kantons Aargau beantragt kostenfällige Abweisung der Beschwerde. Das Eidgenössische Amt für das Handelsregister hat auf Vernehmlassung verzichtet. Das Bundesgericht heisst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut und weist die Sache zur Behandlung des Gesuches um Einsichtnahme im Sinne von Art. 704 aOR an das Departement des Innern zurück.
Aus den Erwägungen:
1.
Das Departement des Innern fand, ein Gesuch um Bilanzauflage, welches im Zeitpunkt des Inkrafttretens des revidierten Aktienrechts bereits bei der Aufsichtsbehörde hängig war, müsse nach der neuen Bestimmung von
Art. 697h Abs. 2 OR
vom Richter entschieden werden. Die Behörde begründete diese Auffassung damit, dass Zuständigkeitsregeln um der öffentlichen Ordnung willen aufgestellt seien, somit unter
Art. 2 SchlT ZGB
fielen, und deshalb sofort anwendbar seien. Das Gesuch um Bilanzauflage sei daher an den Präsidenten des Bezirksgerichts Zofingen zu überweisen. Die Beschwerdeführer bestreiten dagegen die Anwendbarkeit von
Art. 2 SchlT ZGB
, weil die durch die Rechtshängigkeit begründete Zuständigkeit nach dem Inkrafttreten der neuen Bestimmung nicht weggefallen sei. Die angefochtene Verfügung bewirke zudem, dass sie gezwungen wären, ein neues Gesuch um Auflegung der Bilanz beim Richter einzureichen, obwohl ihr Begehren bereits in zweiter Instanz rechtshängig sei.
a) Nach Art. 1 der Schlussbestimmungen zum 26. Titel über die Revision des Aktienrechts sind die im Schlusstitel des Zivilgesetzbuches aufgestellten Regeln über die Anwendung bisherigen und neuen Rechts massgebend. Gemäss
Art. 2 SchlT ZGB
finden die Bestimmungen dieses Gesetzes, die um der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit willen aufgestellt sind, mit dessen Inkrafttreten auf alle Tatsachen Anwendung, soweit das Gesetz eine Ausnahme nicht vorgesehen hat (Abs. 1). Demgemäss finden Vorschriften des bisherigen Rechtes, die nach der Auffassung des neuen Rechtes der öffentlichen Ordnung oder Sittlichkeit widersprechen, nach dessen Inkrafttreten keine Anwendung mehr (Abs. 2). Aufgabe dieses Vorbehalts ist es, dem überwiegenden entgegengesetzten öffentlichen Interesse zum Durchbruch zu verhelfen, was ein Abwägen der entgegenstehenden Vertrauens- und öffentlichen Interessen voraussetzt (VISCHER, Die allgemeinen Bestimmungen des schweizerischen intertemporalen Privatrechts, Diss. Zürich 1986, S. 96, 98, 101, 103). Die Bestimmung von
Art. 2 SchlT ZGB
sollte jedoch nur dann herangezogen werden, wenn es tatsächlich um die Verletzung grundsätzlicher sozialpolitischer und ethischer Anschauungen geht (BROGGINI, SPR I, S. 451).
b) Sowohl das alte wie das am 1. Juli 1992 in Kraft getretene revidierte Aktienrecht gewähren den Gläubigern von Aktiengesellschaften, die ihre Gewinn- und Verlustrechnung und die Bilanz bzw.
BGE 119 II 46 S. 49
die Jahresrechnung, die Konzernrechnung sowie die Revisionsberichte nicht veröffentlichen (müssen), ein Einsichtsrecht in die betreffenden Rechnungen und Berichte, wenn ein schutzwürdiges Interesse nachgewiesen wird (Art. 704 aOR und 697h Abs. 2 OR; für das alte Recht
BGE 111 II 282
ff. mit Hinweisen). Während es früher der Vermittlung des Handelsregisteramtes bedurfte, kann dieses Recht nach der neuen Vorschrift direkt gegenüber der Gesellschaft geltend gemacht werden (HOMBURGER, Leitfaden zum neuen Aktienrecht, 2. Aufl., S. 79; BÖCKLI, Das neue Aktienrecht, Rz. 1329). Im Streitfalle entschied während der Geltungsdauer von Art. 704 aOR gemäss Art. 85 Abs. 3 aHRegV (in Kraft bis 30. Juni 1992, BS 2 S. 705) die Aufsichtsbehörde über das kantonale Handelsregisteramt; nach
Art. 697h Abs. 2 OR
ist der Richter anzurufen.
Das Departement des Innern beruft sich auf die Kommentatoren zum Schlusstitel des Zivilgesetzbuches bzw. die Schluss- und Übergangsbestimmungen zum Obligationenrecht. Gemäss MUTZNER (N. 20 zu
Art. 2 SchlT ZGB
) fallen unter den Begriff der öffentlichen Ordnung alle Rechtssätze, die die Organisation und den Geschäftskreis der Behörden und Ämter regeln. Wo also der Träger eines vor dem Inkrafttreten des ZGB begründeten Rechts zur Verwirklichung desselben der Mitwirkung staatlicher Organe bedarf, sind nach Meinung des Autors sowohl für die Frage der Zuständigkeit als auch für das Verfahren die Vorschriften des neuen Rechts massgebend. Gerade diese Voraussetzung ist aber, wie dargelegt, mit dem neuen Aktienrecht nicht mehr gegeben. Aber auch die Auffassung von STAUFFER, wonach der Vorbehalt des ordre public am ehesten auf prozessualem Gebiet Bedeutung haben kann, da prozessrechtliche Vorschriften als um der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit willen aufgestellt zu erachten sind, ist hier nicht massgeblich (N. 49 zu Art. 1 Schluss- und Übergangsbestimmungen zum Obligationenrecht). Der Hinweis auf den Richter in
Art. 697h Abs. 2 OR
wurde nicht um der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit willen aufgestellt. Er ist an sich überflüssig, weil grundsätzlich jeder privatrechtliche Anspruch - und um einen solchen handelt es sich beim zur Diskussion stehenden Einsichtsrecht des Gläubigers - im Streitfall gerichtlich durchgesetzt werden kann. Die ausdrückliche Erwähnung des Richters in der neuen Gesetzesvorschrift kann daher ihren Sinn nur darin haben, allfällige Zweifel wegen des Dahinfallens der bisherigen Regelung zu verhindern.
Die frühere wie die geltende Bestimmung gewähren dem Gläubiger ein materiell gleiches Einsichtsrecht in bestimmte Unterlagen.
BGE 119 II 46 S. 50
Das neue Recht ist mit andern Worten lediglich als Fortentwicklung einer seit der Revision des Obligationenrechts von 1936 bestehenden Vorschrift aufzufassen. Ein Unterschied zeigt sich lediglich darin, dass sich die Einsicht in die Rechnungen und Berichte am Sitz der Gesellschaft vollzieht und nicht mehr, wie unter dem früheren Recht, auf dem Handelsregisteramt (BÖCKLI, a.a.O., unter Hinweis auf die Botschaft 1983). Die neue Zuständigkeitsnorm bietet dem Gläubiger im Vergleich mit Art. 704 aOR/Art. 85 Abs. 3 aHRegV allenfalls eine bessere Durchsetzung seines Anspruchs; diesem Umstand kommt jedoch nur untergeordnete Bedeutung zu.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts würde es für die Anwendung des neuen Rechts zudem nicht genügen, dass dieses allein um der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit willen erlassen worden ist; vielmehr müsste auch die Abweichung von der bisherigen Regulierung einem Gebote der öffentlichen Ordnung oder Sittlichkeit entsprechen, oder anders ausgedrückt, die weitere Anwendung des alten Rechts auf altrechtliche Tatbestände müsste mit der öffentlichen Ordnung oder Sittlichkeit unvereinbar sein (
BGE 116 III 124
E. 3b;
BGE 84 II 184
;
BGE 43 II 8
). Niemand wird im Ernst behaupten, die bisherige Regelung der Streitschlichtung durch die kantonale Aufsichtsbehörde über den Handelsregisterführer erfülle diese Bedingung. Deshalb kommt vorliegendenfalls die altrechtliche Zuständigkeitsordnung zur Anwendung.
c) An diesen Überlegungen ändert der Umstand nichts, dass nach Meinung von STAUFFER (N. 54 zu Art. 2 Übergangsbestimmungen OR) dem Art. 704 aOR ein statutarisch nicht festsetzbares Verhältnis zugrunde liegt, so dass sofortiges Inkrafttreten des neuen Rechts anzunehmen sein dürfte. Wie bereits erwähnt, enthalten Art. 704 aOR und
Art. 697h Abs. 2 OR
die gleiche Aussage. Die Situation präsentiert sich zudem offensichtlich anders als beim Inkrafttreten von Art. 704 aOR (vgl. dazu BÜRGI, N. 4 f. zu Art. 704 aOR).