BGE 119 IV 102 vom 26. Januar 1993

Datum: 26. Januar 1993

Artikelreferenzen:  Art. 263 Abs. 3 BStP

BGE referenzen:  117 IV 90, 120 IV 280, 121 IV 224 , 94 IV 47, 107 IV 80, 88 IV 44, 107 IV 159, 117 IV 90, 117 IV 90

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

119 IV 102


17. Auszug aus dem Urteil der Anklagekammer vom 26. Januar 1993 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen gegen Staatsanwaltschaften der Kantone Basel-Stadt, Zürich und Basel-Landschaft

Regeste

Art. 263 Abs. 3 BStP ; konkludente Anerkennung des Gerichtsstandes.
1. Nach Eingang der Strafanzeige haben die kantonalen Behörden summarisch und beschleunigt zu prüfen, ob der gesetzliche Gerichtsstand in ihrem Kanton liegt, und die dafür wesentlichen Abklärungen zu treffen (E. 4a).
2. Nimmt eine kantonale Behörde während verhältnismässig langer Zeit weitere Ermittlungen vor, kann darin eine konkludente Anerkennung des Gerichtsstandes liegen (E. 4b).
3. Die nachträgliche Änderung eines konkludent anerkannten Gerichtsstandes ist nur aus triftigen Gründen zulässig (E. 5).
4. Kostenauflage bei pflichtwidrigem Säumnis der Strafverfolgungsbehörden (E. 6).

Sachverhalt ab Seite 103

BGE 119 IV 102 S. 103

A.- S. wird zur Last gelegt, in den Kantonen Schaffhausen, Zürich, Thurgau, Bern, Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Aargau, Tessin und Solothurn zahlreiche strafbare Handlungen (insb. Betrügereien) begangen zu haben. Da die Behörden des Kantons Schaffhausen bereits im Dezember 1988 eine Strafuntersuchung gegen S. angehoben haben, übernahmen sie die Durchführung des Sammelverfahrens, das sie bis heute führten.

B.- Die Behörden des Kantons Schaffhausen unternahmen seit dem 29. März 1990 verschiedene erfolglose Versuche, das Verfahren an die Kantone Thurgau, Basel-Stadt, Basel-Landschaft und Zürich abzutreten. Ein Meinungsaustausch führte zu keiner Einigung in der Frage des Gerichtsstandes.

C.- Mit Gesuch vom 16./18. Dezember 1992 beantragt die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen der Anklagekammer des Bundesgerichts im Hauptantrag, es seien die Behörden des Kantons Basel-Stadt zur Verfolgung und Beurteilung der S. zur Last gelegten strafbaren Handlungen berechtigt und verpflichtet zu erklären.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt beantragt sinngemäss, das Gesuch abzuweisen.
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Erwägungen

Aus den Erwägungen:

4. a) Geht in einem Kanton eine Strafanzeige ein, so haben die Strafverfolgungsbehörden von Amtes wegen zu prüfen, ob nach den gesetzlichen Gerichtsstandsregeln ihre örtliche Zuständigkeit und damit die Gerichtsbarkeit ihres Kantons gegeben ist; diese Prüfung soll summarisch und beschleunigt erfolgen, um unnötige Verzögerungen des Untersuchungsverfahrens zu vermeiden. Damit diese Prüfung zuverlässig erfolgen kann, hat die mit der Sache befasste Behörde alle für die Festlegung des Gerichtsstandes wesentlichen Tatsachen zu erforschen und alle dazu notwendigen Erhebungen durchzuführen; insbesondere ist in diesem Zusammenhang der Ausführungsort zu ermitteln (vgl. SCHWERI, Interkantonale Gerichtsstandsbestimmung in Strafsachen, N 496 f.). Hat ein Beschuldigter in mehreren Kantonen strafbare Handlungen verübt, so hat jeder Kanton vorerst die Ermittlungen voranzutreiben, soweit diese für die Bestimmung des Gerichtsstandes wesentlich sind; er hat dabei in erster Linie jene Abklärungen zu treffen, die auf seinem Kantonsgebiet vorzunehmen sind (vgl. BGE 94 IV 47 ; vgl. auch SCHWERI, a.a.O., N 301, und BGE 107 IV 80 ).
b) Beschränkt sich ein Kanton nicht darauf, sondern nimmt er während verhältnismässig langer Zeit weitere Ermittlungen vor, obschon längst Anlass bestanden hätte, die eigene Zuständigkeit abzuklären, so liegt darin eine konkludente Anerkennung des Gerichtsstandes; auch durch eine solche können die Kantone vom gesetzlichen Gerichtsstand abweichen (vgl. SCHWERI, a.a.O., N 413, und BGE 88 IV 44 f.).
c) Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt.
Es ist zunächst festzuhalten, dass die Anzeige vom 12. Dezember 1988 nachträglich geändert wurde, indem einleitend die Worte "Verdacht des Pfändungsbetruges evtl. ..." durchgestrichen wurden; dies geschah offensichtlich nicht durch den Aussteller des Dokuments selber, fehlt doch am Rande ein entsprechendes Korrekturvisum. Ein solches Verändern von Originalakten muss indessen als in höchstem Masse unzulässig bezeichnet werden; dies auch dann, wenn eine andere Behörde zum Schluss gekommen ist, dass dem Beschuldigten dieser Tatbestand nicht mehr vorzuwerfen sei.
Offensichtlich kam das Untersuchungsrichteramt des Kantons Schaffhausen schon am 26. April 1989 zum Schluss, es liege bezüglich dieser Anzeige kein Betrug vor. Im Zusammenhang mit dem zweiten, am 6. Mai 1989 im Kanton Schaffhausen angezeigten Betrug (gegenüber K.) führte der Untersuchungsrichter erst am
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24. Februar 1990 eine Befragung von K. durch, obwohl ihm die Anzeige bereits am 23. Juni 1989 übermittelt worden war. Gestützt auf diese Befragung erklärte er am 29. März 1990 gegenüber dem Bezirksamt Kreuzlingen, dieser Betrug sei jedenfalls nicht im Kanton Schaffhausen begangen worden. Als das Bezirksamt Kreuzlingen am 19. April 1990 dennoch eine Übernahme der Verfahren ablehnte, verwies es ausdrücklich auf die Anzeige wegen Pfändungsbetruges. Auch die Berner Behörden beriefen sich am 21. November 1989 auf den in den Führungsberichten erwähnten Betrug.
Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb das Untersuchungsrichteramt des Kantons Schaffhausen mit den Abklärungen in bezug auf den Ausführungsort des Betruges gegenüber K. und insbesondere mit der Befragung derselben acht Monate zuwartete, obwohl ihrer Ansicht nach aus der Anzeige nicht klar ersichtlich war, wo die Straftat ausgeführt worden war. Nach dem oben dargelegten Sachverhalt stand für die Behörden des Kantons Schaffhausen immerhin spätestens am 29. März 1990 (mit dem erwähnten Schreiben an das Bezirksamt Kreuzlingen) fest, dass der Beschuldigte in ihrem Kanton keinen Betrug begangen habe. Dennoch liessen sie die zahlreichen Anfragen der Berner Behörden unbeantwortet; dasselbe geschah bezüglich der Anfragen der Zürcher Behörden und jener des Kantons Basel-Stadt. Auch auf die förmlichen Abtretungen der Verfahren durch die beiden letztgenannten Kantone vom 2. September 1991 (ZH) und 6. November 1991 (BS) reagierte die Gesuchstellerin nicht.
Ein solches Verhalten widerspricht nicht nur dem Sinn und Geist der Loyalität, von dem die interkantonale Zusammenarbeit in Strafsachen geprägt und getragen sein sollte (vgl. SCHWERI, a.a.O., N 507), sondern sie missachtet auch die den Kantonen obliegende Pflicht, die für die Bestimmung des Gerichtsstandes wesentlichen Ermittlungen beschleunigt an die Hand zu nehmen und zügig zu beenden.
Das Untersuchungsrichteramt des Kantons Schaffhausen hätte bereits im Juni 1989, als die zweite Anzeige wegen Betruges bei ihm einging, Anlass gehabt, die Gerichtsstandsfrage sofort abzuklären. Es ist unverständlich, weshalb es das Sammelverfahren dennoch weiterführte und insbesondere mit der Befragung der Anzeigerin zuwartete; diese hätte unverzüglich befragt werden müssen, um den für die Bestimmung des Gerichtsstandes wesentlichen Sachverhalt abzuklären.
Spätestens mit der Ablehnung durch das Bezirksamt Kreuzlingen am 19. April 1990 war den Schaffhauser Behörden bekannt, dass die
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Kantone Bern und Thurgau eine Übernahme der Verfahren ablehnten, weil sie davon ausgingen, im Kanton Schaffhausen sei ein Betrug begangen worden. Zu diesem Zeitpunkt hätten die Schaffhauser Behörden mit den für die Gerichtsstandsbestimmung zuständigen Stellen der übrigen Kantone unverzüglich einen Meinungsaustausch führen müssen. Es bestand kein vernünftiger Grund, damit bis zum 26. Juni 1992 zuzuwarten. Diesem Zuwarten ist es auch zuzuschreiben, dass 1990, 1991 und 1992 weitere Akten aus anderen Kantonen bei den Behörden des Kantons Schaffhausen eingingen.
Seit der ersten Anzeige im Dezember 1988 sind inzwischen über vier Jahre verstrichen, ohne dass zumindest die Frage des (gesetzlichen) Gerichtsstandes zuverlässig abgeklärt worden wäre. Diese war unter den beteiligten Kantonen seit 1990 erkennbar streitig. Bereits damals hätte die Gesuchstellerin daher an die Anklagekammer des Bundesgerichts gelangen können, denn interkantonale Gerichtsstandsstreitigkeiten sollen möglichst rasch erledigt werden. Indem sie dies nicht tat und weiterhin lediglich das Sammelverfahren führte, hat sie den Gerichtsstand im Kanton Schaffhausen bereits im Jahre 1990 konkludent anerkannt; dies gilt erst recht auf Grund des seitherigen weitgehend untätigen Zuwartens.
Unter diesen Umständen braucht nicht geprüft zu werden, in welchem Kanton allenfalls der gesetzliche Gerichtsstand liegt. Im Kanton Schaffhausen besteht jedenfalls ein örtlicher Anknüpfungspunkt, indem der Beschuldigte dort strafbare Handlungen beging.
Auch die am 5. April 1991 durch die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt gegenüber den Behörden des Kantons Zürich erfolgte Anerkennung des Gerichtsstandes ist somit unbeachtlich.

5. a) Eine nachträgliche Änderung eines (auch konkludent) anerkannten Gerichtsstandes ist nur aus triftigen Gründen zulässig; eine solche Änderung muss die Ausnahme bilden und sich wegen veränderter Verhältnisse aufdrängen, sei es im Interesse der Prozessökonomie, sei es zur Wahrung anderer, neu ins Gewicht fallender Interessen (vgl. BGE 107 IV 159 E. 1 mit Hinweis; BGE 72 IV 41 E. 1).
b) Solche Gründe vermag die Gesuchstellerin weder anzuführen, noch ergeben sie sich aus den Akten. Es ist auch nicht so, dass die nach Anerkennung des Gerichtsstandes neu entdeckten Betrüge in einem der weiteren Kantone ein derart offensichtliches Schwergewicht hätten entstehen lassen, das eine Änderung des Gerichtsstandes aufdrängen würde: Nach dem Gesuch werden dem Beschuldigten in den Kantonen Zürich 9, Basel-Stadt 15 und Basel-Landschaft
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5 Betrüge vorgeworfen; von einem eigentlichen Schwergewicht in einem Kanton (vgl. dazu BGE 117 IV 90 ) kann in einem solchen Fall nicht die Rede sein.
Hier ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Gesuchstellerin mit ihrem unbegründeten Zuwarten eine Anhäufung von Akten im Sammelverfahren verursacht hat; auch dieser Umstand steht einer nachträglichen Änderung des Gerichtsstandes entgegen.
Die von der Gesuchstellerin vorgebrachten Argumente des angeblich in Basel liegenden Lebensmittelpunktes des Beschuldigten und der allfällig in Basel nötigen Zusatzabklärungen vermögen zu keiner anderen Beurteilung zu führen.

6. Aus diesen Gründen ist die Gesuchstellerin auf ihrer konkludenten Anerkennung des Gerichtsstandes zu behaften. Da sie es mit ihrem unnötigen Zuwarten pflichtwidrig versäumt hat, rechtzeitig die für die Bestimmung des Gerichtsstandes erforderlichen tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen, sind ihr die Kosten des vorliegenden Verfahrens aufzuerlegen (vgl. SCHWERI, a.a.O., N 575); im übrigen wurde die Anklagekammer auch verspätet angerufen.

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