BGE 119 IV 216 vom 3. September 1993

Datum: 3. September 1993

Artikelreferenzen:  Art. 182 StGB, Art. 183 StGB, Art. 184 StGB, Art. 185 StGB , Art. 184 Abs. 4 StGB, Art. 183 und 184 StGB, Art. 183 Ziff. 2 und Art. 184 Abs. 4 StGB, Art. 183 Ziff. 1 StGB, Art. 183 Ziff. 1 Abs. 1 StGB, Art. 184 N 1, Art. 184 N 3, Art. 182-185 StGB, Art. 183 N 3, Art. 183 N 48, Art. 183 N 50, § 52 und § 239 N 8

BGE referenzen:  116 IV 319, 118 IV 61, 121 IV 178, 128 IV 73, 131 IV 83, 132 IV 49, 141 IV 10 , 118 IV 61, 106 IV 363, 116 IV 319

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

119 IV 216


40. Urteil des Kassationshofes vom 3. September 1993 i.S. Generalprokurator des Kantons Bern gegen M. H. (Nichtigkeitsbeschwerde)

Regeste

Art. 183 Ziff. 2 und Art. 184 Abs. 4 StGB ; qualifizierte Entführung.
Eine Entführung, die mehr als zehn Tage gedauert hat, erfüllt den qualifizierten Tatbestand (E. 2d und e).
Eine Entführung ist beendet, wenn das Opfer seine Freiheit wieder erlangt hat, d.h. frühestens wenn das Herrschaftsverhältnis Täter-Opfer beendet ist (E. 2f).

Sachverhalt ab Seite 216

BGE 119 IV 216 S. 216

A.- a) Nach mehrjähriger Ehedauer reichte die Gattin S. H. am 20. September 1990 eine Ehescheidungsklage ein. Eine Vereinbarung im Eheschutzverfahren regelte die finanziellen Folgen, nicht aber die Obhut über den im Mai 1984 geborenen gemeinsamen Sohn. Die Eheleute hatten sich lediglich einigen können, die Obhut gemeinsam und nach Absprache auszuüben. In der Folge kam eine Regelung zustande, wonach ein Ehegatte die Obhut für jeweils fünfzehn Tage ausüben sollte.
So befand sich das Kind bis zum 5. Dezember 1990 bei seinem Vater M. H., der es anschliessend der Mutter zurückbrachte. Kurz
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darauf soll er sich aber bei einer Auseinandersetzung derart erregt haben, dass sich S. H. entschloss, ihm das Kind schon am 10. Dezember zurückzugeben, vor Ablauf der ihr zustehenden Frist. Es sollte bei seinem Vater bleiben, bis sich dieser wieder beruhigt haben würde.
Am 13. Dezember 1990 reiste M. H. jedoch mit dem Kinde nach Paris zu einer Tante und am 9. Januar 1991 nach Algerien. Seit diesem 13. Dezember 1990 hat S. H. keinen Kontakt mehr mit ihrem Sohn.
b) S. H. erhob am 8. Februar 1991 Strafanzeige, worauf M. H. am 13. Februar 1991 in Bern verhaftet wurde.
Am 19. Februar 1991 verfügte der die Ehescheidung instruierende Richter, das Kind werde während der Dauer des Scheidungsverfahrens unter die Obhut der Mutter gestellt. Dem Vater werde unter Androhung der Straffolgen gemäss kantonaler ZPO (Busse bis zu Fr. 5'000.--, womit Haft oder in schweren Fällen Gefängnis bis zu einem Jahr verbunden werden könne) eine Frist von zehn Tagen angesetzt, der Ehefrau das Kind zu übergeben bzw. dessen Aufenthaltsort bekanntzugeben. Diese Verfügung erwuchs in Rechtskraft.
S. H. verlangte am 12. März 1991 die Verurteilung von M. H. wegen böswilliger Nichtvornahme der ihm mit der Verfügung vom 19. Februar 1991 auferlegten Pflichten.
Das Zivilamtsgericht Bern übertrug am 19. Dezember 1991 S. H. die elterliche Gewalt. Gegen das Urteil wurde die Appellation erhoben.

B.- Am 24. Dezember 1991 erklärte das Strafamtsgericht Bern M. H. schuldig der qualifizierten Entführung und des Entziehens von Unmündigen, jeweils im Zeitraum vom 13. Dezember 1990 bis zum 24. Dezember 1991 in Bern und anderswo, sowie der Widerhandlung gegen die Verfügung vom 19. Februar 1991, begangen vom 1. März bis 24. Dezember 1991 in Bern und anderswo. Es bestrafte ihn mit drei Jahren Zuchthaus.
Auf Appellation des Verurteilten erkannte das Obergericht auf einfache Entführung und bestätigte im übrigen den Schuldspruch des Strafamtsgerichtes. Es sprach eine Strafe von sechsundzwanzig Monaten Gefängnis aus.

C.- Der Generalprokurator des Kantons Bern führt Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung (Schuldigerklärung wegen qualifizierter Entführung und entsprechende Strafzumessung) an das Obergericht zurückzuweisen.
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Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. a) Die Vorinstanz führt aus, eine Entführung sei nur dann nach Art. 184 Abs. 4 StGB qualifiziert, wenn sie gleichzeitig eine Freiheitsberaubung darstelle. Bei der Entführung werde im Gegensatz zur Freiheitsberaubung die körperliche Bewegungsfreiheit nur beschränkt, nicht aufgehoben. Die Veränderung des Aufenthaltsortes einer Person zu erzwingen, sei noch nicht Freiheitsberaubung. Zudem ergebe sich e contrario aus Ziff. 2 von Art. 183 StGB , dass die Tat gemäss Ziff. 1 gegen den Willen des Opfers gerichtet sein müsse. Diese Voraussetzungen seien vorliegend nicht erfüllt. Der Beschwerdegegner habe nämlich zu seinem Sohn ein gutes Verhältnis gehabt und ihn zu Bekannten gebracht. Daher sei nicht anzunehmen, dass er dessen Freiheit umfassend aufgehoben habe. Obwohl die Entführung mehr als ein Jahr gedauert habe, könne er deshalb nur gemäss Art. 183 StGB bestraft werden. Ausserdem sei bei der Annahme von Qualifikationsgründen Zurückhaltung zu üben und bei der Auslegung von Straftatbeständen der angedrohten Strafe Rechnung zu tragen.
b) Der Beschwerdeführer bringt vor, die Vorinstanz verkenne den Zusammenhang der Art. 183 und 184 StGB . Die Verbindung von Feiheitsberaubung und Entführung im Tatbestand des Art. 183 StGB lasse diese zu verschiedenen Begehungsweisen einer Straftat werden. Freiheitsberaubung und Entführung erschienen prinzipiell gleichwertig. Daher sei die Lehre einhellig der Meinung, die Entführung falle unter den Strafrahmen des Art. 184 StGB , sofern sie mehr als zehn Tage gedauert habe. Es finde sich kein Hinweis, dass die Entführung nur dann wegen der Dauer qualifiziert sein könne, wenn sie gleichzeitig eine Freiheitsberaubung darstelle. Eine Entführung wie die vorliegende könne eine Beziehung zwischen Mutter und Sohn während Jahren verunmöglichen. Ob der Sohn die abgebrochene Beziehung je wieder anknüpfen könne, sei fraglich. Das sei eine massive Beeinträchtigung der Freiheitsrechte anderer. Die Vorinstanz habe Art. 184 StGB zu Unrecht nicht angewandt und sei bei der Strafzumessung von falschen Voraussetzungen ausgegangen.
c) Der Beschwerdegegner wendet ein, Entführung sei kein Dauerdelikt. Denn die Entführung selbst könne nicht andauern, sondern bloss die damit verbundene Freiheitsberaubung. Daher wirke allenfalls die Dauer der Freiheitsberaubung qualifizierend, nicht aber die Dauer des Entführungsvorganges.
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2. a) Nach Art. 183 Ziff. 1 StGB wird wegen Freiheitsberaubung und Entführung mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis bestraft, wer jemanden unrechtmässig festnimmt oder gefangenhält oder jemandem in anderer Weise unrechtmässig die Freiheit entzieht (Abs. 1) und wer jemanden durch Gewalt, List oder Drohung entführt (Abs. 2). Ebenso wird bestraft, wer jemanden entführt, der urteilsunfähig, widerstandsunfähig oder noch nicht 16 Jahre alt ist (Ziff. 2).
Gemäss Art. 184 Abs. 4 StGB werden Freiheitsberaubung und Entführung mit Zuchthaus von 1-20 Jahren bestraft, wenn der Entzug der Freiheit mehr als zehn Tage gedauert hat.
b) Das Bundesgericht liess in BGE 118 IV 61 E. 2c offen, ob Art. 184 Abs. 4 StGB auch für die Entführung gilt. Es bezeichnete dies aber als fraglich. Denn bei einer Entführung brauche weder eine Nötigung noch eine Freiheitsberaubung vorzuliegen. Nach dem Wortlaut des Gesetzes ("Entzug der Freiheit") sei wohl nur die eigentliche Freiheitsberaubung ( Art. 183 Ziff. 1 Abs. 1 StGB ) qualifiziert, wenn sie länger als zehn Tage gedauert habe. Es könne offenbleiben, ob ein Dauerdelikt vorliege, wenn eigentliche Tathandlung der Entführung das Verbringen an einen anderen Ort sei (vgl. auch BGE 106 IV 363 E. 5).
c) Die Lehre vertritt die Ansicht, für die Entführung gelte der Strafrahmen von Art. 184 StGB , wenn sie mehr als zehn Tage gedauert habe (HANS-PETER EGLI, Freiheitsberaubung, Entführung und Geiselnahme nach der StGB-Revision vom 9. Oktober 1981, Diss. Zürich 1986, S. 143; NOLL, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, S. 78, 80; REHBERG, Strafrecht III, 5. Auflage, S. 233 f.; SCHUBARTH, Kommentar zum schweizerischen Strafrecht, Art. 184 N 1 , 12 ff.; SCHULTZ, Gewaltdelikte, Geiselnahmen und Revision des Strafgesetzbuches, ZBJV 115/1979 S. 445; JEAN-MARC SCHWENTER, De quelques problèmes, réels ou imaginaires, posés par les nouvelles dispositions réprimant les actes de violence, ZStR 100/1983 S. 289; STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 4. Auflage, S. 119 N 46; TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Art. 184 N 3 ).
d) Anlass zur Revision der Art. 182-185 StGB bildeten die schweren Mängel dieser Bestimmungen (SCHULTZ, a.a.O., ZBJV 115/1979 S. 444 f.; SCHULTZ, Zur Revision des Strafgesetzbuches vom 9. Oktober 1981: Gewaltverbrechen, ZStR 101/1984 S. 122; EGLI, a.a.O., S. 5 f.). Die Expertenkommission schlug vor, die Strafandrohung für Freiheitsberaubung und Entführung zu erhöhen sowie für beide
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Delikte erschwerende Umstände vorzusehen (Botschaft über die Änderung des schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes [Gewaltverbrechen] vom 10. Dezember 1979, BBl 1980 I 1247). Der Bundesrat nahm diesen Vorschlag auf und sah in Art. 184 StGB für Entführung und Freiheitsberaubung dieselben erschwerenden Umstände bzw. vier bestimmte Qualifikationsgründe vor. Für beide Delikte dieselben Qualifikationsgründe vorzusehen, sei auch angezeigt, weil diese Taten oft so ausgeführt würden, dass beide Straftatbestände verwirklicht seien (a.a.O., S. 1258, 1259). Zum Qualifikationsgrund des Art. 184 Abs. 4 StGB (in der Formulierung des Entwurfs: "wenn die Beschränkung der Freiheit mehr als 10 Tage dauert") führt die Botschaft aus, dieser gelte, wenn die Freiheitsberaubung mehr als zehn Tage gedauert habe (a.a.O., S. 1260). Die Entführung erwähnt sie an dieser Stelle nicht ausdrücklich.
Der Nationalrat stimmte dem Entwurf des Bundesrates auf Antrag seiner Kommission und ohne Diskussion zu (Amtl.Bull. 1980 N 1647). Im Ständerat erhielt der Gesetzestext den heutigen Wortlaut; er fasste die Art. 182 und 183 StGB zusammen, um Abgrenzungsschwierigkeiten und Konkurrenzfragen zu vermeiden. Der Berichterstatter fügte an, mit der Zusammenfassung der beiden Tatbestände Freiheitsberaubung und Entführung in einen einzigen Tatbestand werde materiell keine Änderung gegenüber den Vorschlägen des Bundesrates und des Nationalrates vorgenommen (BINDER, Amtl.Bull. 1981 S 280; vgl. SCHUBARTH, a.a.O., Art. 183 N 3 ; EGLI, a.a.O., S. 13). Auf Antrag seiner Kommission beschloss der Ständerat, Art. 184 StGB so zu formulieren, wie er Gesetz geworden ist (statt: "wenn die Beschränkung der Freiheit ...", "wenn der Entzug der Freiheit ..."). Der Nationalrat stimmte dem diskussionslos zu.
e) Zusammenfassend stützen die Materialien die Ansicht, die Qualifizierung gemäss Art. 184 Abs. 4 StGB gelte auch für die Entführung. Diese Lösung überzeugt. Die Zusammenfassung von Freiheitsberaubung und Entführung in einen Tatbestand soll die oft schwierige Abgrenzung sowie Konkurrenzfragen vermeiden. Art. 183 StGB bedroht das unrechtmässige Verbringen einer Person an einen anderen Ort und das unrechtmässige Festhalten des Opfers an einem Ort mit derselben Strafe. Die beiden Delikte erscheinen als verschiedene Begehungsweisen einer Straftat (SCHULTZ, a.a.O., ZStR 101/1984 S. 123; REHBERG, a.a.O., S. 232). Freiheitsberaubung und Entführung sind prinzipiell gleichwertige Eingriffe in die Freiheit (STRATENWERTH, S. 119 N 43). Daher sind Abgrenzungsfragen
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nach neuem Recht nicht mehr bedeutsam (SCHUBARTH, a.a.O., Art. 183 N 48 ). Die Auffassung, Art. 184 Abs. 4 StGB gelte nur für die Freiheitsberaubung, ist deshalb abzulehnen. Auch der Gesichtspunkt der angedrohten Strafe ( BGE 116 IV 319 E. 3b; vgl. SCHUBARTH, Qualifizierter Tatbestand und Strafzumessung in der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts, BJM 1992 S. 57 ff.) spricht für die Anwendung der Qualifikation, wenn die Entführung über zehn Tage gedauert hat.
f) Zu prüfen bleibt der Einwand, die Entführung sei kein Dauerdelikt. Wie dargestellt, geht das Gesetz davon aus, dass die Dauer des Freiheitsentzuges bei der Entführung wie bei der Freiheitsberaubung wesentlich sein kann (Art. 183 i.V.m. Art. 184 Abs. 4 StGB ). Dauerdelikte sind dadurch gekennzeichnet, dass die zeitliche Fortdauer eines rechtswidrigen Zustandes oder Verhaltens noch tatbeständliches Unrecht bildet. Die Vollendung tritt mit der erstmaligen Verwirklichung aller Tatbestandsmerkmale ein, die Beendigung aber erst mit der Beseitigung des rechtswidrigen Zustandes oder dem Abbruch des verbotenen Verhaltens (STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I, S. 275 N 10; REHBERG, Strafrecht I, 5. Auflage, S. 61). Die Entführung ist vollendet, wenn der bisherige Aufenthaltsort verlassen und das Opfer in die Herrschaft des Täters gelangt ist. Dieser rechtswidrige Zustand dauert in der Regel an. Beendet ist das Delikt dann, wenn das Opfer seine Freiheit wieder erlangt hat, d.h. frühestens wenn das Herrschaftsverhältnis Täter-Opfer beendet ist. Die Entführung ist demnach in solchen Fällen ein Dauerdelikt (EGLI, a.a.O., S. 124 ff.; REHBERG, a.a.O., S. 232; SCHUBARTH, a.a.O., Art. 183 N 50 ; vgl. LACKNER, StGB, 20. Auflage, N 11 vor § 52 und § 239 N 8 ; a.A. - allerdings zum alten Recht - HAFTER, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, S. 104).
g) Nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz ist die Entführung des Kindes nicht beendet. Sie hat mehr als zehn Tage gedauert. Damit ist sie im Sinne des Art. 184 Abs. 4 StGB qualifiziert.

3. Die Nichtigkeitsbeschwerde ist demnach gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Die Vorinstanz wird auf der Grundlage von Art. 184 Abs. 4 StGB die Strafzumessung neu vorzunehmen haben.

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