Urteilskopf
119 IV 230
43. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 13. Oktober 1993 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste
Art. 189 StGB
a.F.; Schändung.
Eine Frau kann zum Widerstand unfähig sein, wenn sie nach einer Feier alkoholisiert zu Bett geht, vom Täter, den sie irrtümlich für ihren Mann hält, zärtlich und allmählich aus dem Schlaf geweckt und überraschend geschlechtlich missbraucht wird.
X. feierte gemeinsam mit den Ehepaaren B. und M. den Silvester 1989. Im Anschluss an die Feier, bei welcher auch Alkohol getrunken wurde, legte man sich in der Wohnung der Eheleute B. in Zürich schlafen. Den Eheleuten M. wurde das Kinderzimmer zugeteilt, wobei Frau M. mit ihrem viermonatigen Sohn auf der unteren und
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ihr Ehemann auf der oberen Liegefläche eines Kajütenbettes schliefen. X. nächtigte in einem Schlafsack im Wohnzimmer.
In den frühen Morgenstunden des 1. Januar 1990 näherte sich X. der mit dem Rücken zum Raum schlafenden Frau M., legte sich zu ihr und umarmte sie zärtlich von hinten. Als er sie sanft auf den Fussboden hob, nahm sie an, es handle sich um ihren Ehemann, der von einem mit X. noch spät unternommenen Lokalbesuch heimgekommen sei und sie nun liebkose. Auch spürte sie, dass der sie umarmende Mann - wie ihr Ehegatte - einen Lockenkopf und einen Schnauz hatte. Darauf vollzog X. mit ihr sehr rasch den Geschlechtsverkehr.
Die Bezirksanwaltschaft Zürich erhob gegen X. Anklage wegen Schändung im Sinne von
Art. 189 StGB
a.F. Das Bezirksgericht Zürich sprach ihn am 10. Mai 1990 von diesem Vorwurf frei. Dagegen appellierten die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich und die Geschädigte.
Am 29. Oktober 1991 sprach die II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich X. der Schändung im Sinne von
Art. 189 Abs. 1 StGB
a.F. schuldig und bestrafte ihn mit 14 Monaten Zuchthaus, abzüglich 124 Tage erstandener Untersuchungs- und Sicherheitshaft. Das Gericht schob den Vollzug der Freiheitsstrafe unter Ansetzung einer Probezeit von drei Jahren auf.
Eine dagegen gerichtete kantonale Nichtigkeitsbeschwerde wurde vom Kassationsgericht des Kantons Zürich am 28. Juni 1993 abgewiesen, soweit darauf einzutreten war.
X. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt im wesentlichen, das Urteil des Obergerichts vom 29. Oktober 1991 sei im Schuldpunkt aufzuheben und die Sache zur Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
Aus den Erwägungen:
2.
Gemäss der bis zum 30. September 1992 geltenden Fassung von
Art. 189 Abs. 1 StGB
wird unter anderem mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft, wer mit einer bewusstlosen oder zum Widerstand unfähigen Frau, in Kenntnis ihres Zustandes, den ausserehelichen Beischlaf vollzieht. Die Vorinstanz, die am 29. Oktober 1991 entschied, hatte diese mittlerweile geänderte Bestimmung anzuwenden. Dennoch darf für Fragestellungen, die sich - so betreffend die Widerstandsunfähigkeit - durch das neue Recht nicht verändert
BGE 119 IV 230 S. 232
haben, auch auf die Literatur zum neuen Recht zurückgegriffen werden.
Unbestritten ist, dass der Beschwerdeführer mit der Geschädigten den ausserehelichen Beischlaf vollzogen hat. Die Vorinstanz geht nicht davon aus, dass die Geschädigte bewusstlos war. Zu prüfen ist deshalb, ob sie im Sinne von
Art. 189 StGB
a.F. zum Widerstand unfähig war und ob der Beschwerdeführer von diesem Zustand Kenntnis hatte.
3.
a) Die Strafnorm von
Art. 189 StGB
a.F. bezweckt den Schutz von Personen, die einen sexuellen Widerstandswillen nicht oder nicht sinnvoll fassen bzw. ihn körperlich nicht betätigen können (so SCHÖNKE/SCHRÖDER/LENCKNER, Strafgesetzbuch, 24. A. 1991, N 1 zum entsprechenden § 179 des deutschen Strafgesetzbuches).
Die Widerstandsunfähigkeit des Opfers im Sinne von
Art. 189 StGB
a.F. kann aus Gründen dauernder oder vorübergehender, chronischer oder situationsbedingter Natur gegeben sein. Sie kann also ebenso in schweren psychischen Defekten wie in hochgradiger Intoxikation durch Alkohol oder Drogen, in körperlicher Invalidität wie in einer Fesselung oder in einer besonderen Lage der Frau in einem gynäkologischen Stuhl bestehen (STRATENWERTH, Strafrecht BT I, 4. A. 1993, N 35;
BGE 103 IV 165
). Erforderlich ist allerdings, dass die Widerstandsfähigkeit gänzlich aufgehoben und nicht nur in irgendeinem Grade beeinträchtigt oder eingeschränkt ist. Ist nur die Hemmschwelle - z.B. alkoholbedingt - herabgesetzt, liegt keine Widerstandsunfähigkeit vor (STRATENWERTH, a.a.O.).
Die Vorinstanz ging davon aus, die Geschädigte sei im Verlauf des Geschehens allmählich erwacht, denn sie habe eine relativ genaue Schilderung des ganzen Ablaufs geben können. Dieses allmähliche "Aus-dem-Schlaf-Erwachen" und die dazugehörige Schläfrigkeit stellten allenfalls einen Aspekt der Widerstandsunfähigkeit dar. Zum Geschehensablauf hielt die Vorinstanz fest, die Geschädigte sei nach der Silvesterfeier sehr müde und alkoholisiert zu Bett gegangen. Sie habe zusammen mit ihrem Kleinkind im Kinderzimmer der Wohnung ihrer Freunde geschlafen. Das obere Bett sei zu dem Zeitpunkt, als sie schlafen ging, ihrem Mann, der noch auswärts weiterfeierte, zugewiesen gewesen. Sie habe sich somit "allein mit ihrer Familie im ausschliesslich ihr zugewiesenen Kinderzimmer" befunden. Als sie durch die Berührungen des Beschwerdeführers aufgewacht sei, sei sie etwa in folgendem Zustand gewesen: Sie habe nicht gewusst, dass ihr Ehemann bereits heimgekommen war und im oberen Bett schlief. Sie habe angenommen, dass ihr Ehemann (erst) jetzt nach
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Hause gekommen sei und sie umarme, wie er dies auch sonst gelegentlich bei der Heimkehr zu tun pflege. Sie habe daher die Umarmung genossen und weitergeschlafen. In der Folge sei sie durch die Liebkosungen des Beschwerdeführers und das "Aus-dem-Bett-Heben" langsam aufgeweckt worden. Sie habe an den Kopf des Mannes gegriffen und festgestellt, dass dieser - ebenso wie ihr Mann - einen Wuschelkopf und einen Schnauz hatte. Nach wie vor habe sie sich aber noch im Halbschlaf befunden und sei unter Wirkung des genossenen Alkohols gestanden. Als ein Finger heftig in ihre Scheide eingeführt worden sei, habe sie gefragt, "wer das sei". Unmittelbar darauf habe der Mann sein Glied eingeführt und "bitte, bitte" gesagt. Zusammenfassend stellte die Vorinstanz fest: "Die Widerstandsunfähigkeit der Geschädigten setzte sich also aus folgenden einzelnen Komponenten zusammen: Schlaf - Halbschlaf - Schläfrigkeit, Angetrunkenheit/Betrunkenheit und Irrtum in bezug auf die Person des Täters."
Unter den gegebenen Umständen hat die Vorinstanz die Widerstandsunfähigkeit zu Recht bejaht. Die Geschädigte befand sich - insofern vergleichbar mit der Konstellation in
BGE 103 IV 165
- in einer Situation, in der sie nicht damit rechnen musste, von einem Fremden sexuell angegangen zu werden. Soweit sie in die Handlungen des Beschwerdeführers einwilligte, geschah dies nur in der Annahme, der Beschwerdeführer sei ihr Ehemann. Schon deshalb konnte ihre Einwilligung den Tatbestand nicht ausschliessen (vgl. LAUFHÜTTE, Leipziger Kommentar, 10. A.,
§ 179 N 12
f.; HORN, Systematischer Kommentar,
§ 179 N 13
). Die von der Vorinstanz genannten Faktoren der Schläfrigkeit, der Alkoholisierung und des Irrtums haben deshalb in ihrer Summierung die Widerstandsfähigkeit der Geschädigten vollständig aufgehoben.
b) Weiter stellt sich die Frage, ob der Beschwerdeführer Kenntnis vom Zustand der Geschädigten hatte. Die Vorinstanz stellte diesbezüglich fest, aus den Aussagen der Geschädigten sei klar ersichtlich, dass der Beschwerdeführer den Geschlechtsverkehr in Kenntnis ihres widerstandsunfähigen Zustandes vollzogen habe. Er habe "bitte, bitte" gesagt, woraus sich sein Wissen darum ergebe, dass die Geschädigte in normalem Zustand nicht zum Geschlechtsverkehr mit ihm bereit gewesen wäre. Es sei nicht ersichtlich, wie die Geschädigte in ihrem Zustand die in ihr auftauchende Frage nach der Identität des Mannes anders als mit der Frage, wer er sei, hätte ausdrücken können. Diese Frage aber habe sie gestellt. Zudem habe der Beschwerdeführer nie mit ihrer Einwilligung rechnen können; denn
BGE 119 IV 230 S. 234
einerseits habe zwischen den beiden keine Anziehung in sexueller Hinsicht bestanden und andererseits habe der Ehemann der Geschädigten im selben Zimmer geschlafen. Zusammengefasst führte die Vorinstanz aus, der Beschwerdeführer habe damit gerechnet, "dass die nach Alkoholkonsum schlafende Geschädigte als Ehefrau und Mutter, welche mit ihrem vier Monate alten Säugling im Bett lag und welche das Zimmer für ihre Familie zur ausschliesslichen Benutzung zugewiesen erhalten hatte, ihm keinen Widerstand würde leisten können". Es ist nicht ersichtlich und ergibt sich auch nicht aus der Beschwerde, inwieweit die Vorinstanz mit diesen Erwägungen den Vorsatz des Beschwerdeführers in Verletzung von Bundesrecht bejaht haben sollte.