Urteilskopf
119 IV 255
48. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 10. November 1993 i.S. S. gegen Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste
Art. 31 Abs. 2 SVG
,
Art. 18 Abs. 3 und
Art. 19 StGB
; fahrlässiges Fahren in angetrunkenem Zustand, Bedeutung eines privaten Atemlufttests.
Das Ergebnis eines Atemalkoholmessgeräts kann erheblich vom Resultat einer Blutprobe abweichen; Gründe (E. 2a). Dass Abweichungen vorkommen können und genossener Alkohol eine gewisse Zeit braucht, um vom Blut aufgenommen zu werden, gehört zum Allgemeinwissen (E. 2b). Annahme einer Sorgfaltspflichtverletzung, weil der Fahrzeuglenker aufgrund des Testergebnisses, des Allgemeinwissens und der persönlichen Verhältnisse seine Angetrunkenheit hätte erkennen und entsprechend handeln können (E. 2c).
A.-
S. trank nach eigenen Angaben am 24. August 1991 zum Nachtessen zwischen 19.00 und 20.00 Uhr etwa 5 dl Oeil-de-Perdrix und um 23.00 bis 23.20 Uhr zwei Fläschchen Spezialbier zu je 33 cl. Gegen 23.45 Uhr machte er mit seinem privaten Alcometer Lyon S-D2 zwei Atemtests, die Werte von 0,55 und 0,5 Promille ergaben. Hierauf fuhr er mit seinem Personenwagen von Bern stadtauswärts. Da er bei sternenklarer Nacht die Nebellichter eingeschaltet hatte, fiel er einer Polizeipatrouille auf. Sie hielt ihn an und stellte bei ihm Alkoholmundgeruch fest. Ein Blastest um 0.10 Uhr fiel mit 0,75 Promille positiv aus und die Blutprobe um 0.50 Uhr ergab einen Minimalwert von 1,01 Gewichtspromille.
Am 20. Juni 1988 war S. wegen vorsätzlichen Führens eines Personenwagens in angetrunkenem Zustand zu einer zwölftägigen Gefängnisstrafe, bedingt auf zwei Jahre, und Fr. 2'500.-- Busse verurteilt worden.
B.-
Wegen des Vorfalls vom 24./25. August 1991 sprach das Obergericht des Kantons Bern S. am 15. Dezember 1992 schuldig des fahrlässigen Führens eines Personenwagens in angetrunkenem Zustand und auferlegte ihm eine bedingte Gefängnisstrafe von fünfzehn Tagen und eine Busse von Fr. 10'000.--.
C.-
S. führt Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache zur Freisprechung, eventuell zur Herabsetzung des Strafmasses an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Aus den Erwägungen:
1.
Die Vorinstanz wirft dem Beschwerdeführer vor, er habe sich trotz seiner Erfahrung auf dem Gebiet des Fahrens in angetrunkenem Zustand nur auf sein Atemprüfgerät (welches immerhin einen Wert von 0,5 Promille angezeigt habe) verlassen und nicht in seine Überlegungen einbezogen, dass dieses Gerät keine genauen Befunde liefere, und er habe sich nicht auf seine subjektiven Empfindungen verlassen dürfen. Dadurch, dass er eben nicht überlegt und gehandelt habe, wie es der Situation entsprochen hätte, habe er den Tatbestand unbewusst fahrlässig erfüllt.
Der Beschwerdeführer macht geltend, bei der Prüfung der Frage, ob er seinen Irrtum in bezug auf die Angetrunkenheit hätte vermeiden können, sei die Vorinstanz auf wesentliche Punkte nicht eingegangen. Die Problematik der Resorptionsphase stelle medizinisches
BGE 119 IV 255 S. 257
und rechtliches Wissen dar, das bei ihm als Laien nicht vorausgesetzt werden könne. Nach dem Vorfall im Jahre 1988 habe er sich einen Alcometer angeschafft, um sich nicht mehr auf sein subjektives Gefühl verlassen zu müssen. Man habe ihm erklärt, wie dieses Gerät zu handhaben und dass es 100%ig sicher sei, und er lasse es jährlich von der Polizei auf Funktionsfähigkeit und Genauigkeit überprüfen. Unter diesen Umständen sei eine Fahrlässigkeit zu verneinen.
2.
Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt und hätte er den Irrtum bei pflichtgemässer Sorgfalt vermeiden können, so ist er wegen Fahrlässigkeit strafbar, wenn die fahrlässige Verübung der Tat mit Strafe bedroht ist (
Art. 19 StGB
). Fahrlässig begeht ein Verbrechen oder ein Vergehen, wer die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedacht oder nicht darauf Rücksicht genommen hat. Pflichtwidrig ist die Unvorsichtigkeit, wenn der Täter die Vorsicht nicht beobachtet, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet ist (
Art. 18 Abs. 3 StGB
). Konkret ist zu prüfen, ob der Beschwerdeführer durch das Abstellen auf den privaten Blastest seinen Sorgfaltspflichten genügte oder ob er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen um seine Angetrunkenheit hätte wissen und entsprechend handeln können.
a) Die neueren Atemalkoholmessgeräte liefern in bezug auf die Atemalkoholkonzentration (AAK) recht genaue Ergebnisse, wenn sie nach Vorschrift bedient werden. Auch eine falsche Atemtechnik verfälscht das Resultat in der Regel nicht mehr, da moderne Geräte nur dann eine Luftprobe der Messeinheit zuführen, wenn der Atemstoss korrekt erfolgt. Zudem sind die luftführenden Geräteteile thermostatisiert, womit geräteintern den Auswirkungen der unterschiedlichen Temperaturen der Atemluft begegnet wird. Die gängigen Geräte zeigen aber als Messergebnis nicht die AAK an, sondern rechnen diesen Wert mittels eines Durchschnittsfaktors in die Blutalkoholkonzentration (BAK) um. Die so ermittelte BAK muss folglich nicht mit der BAK als Ergebnis einer Blutprobe übereinstimmen. Zudem können die Ergebnisse des Atemtests und der Blutprobe je nach Zeitpunkt der Testvornahme voneinander abweichen. Die Ursache für diese Abweichungen liegt im wesentlichen in den Lungen des Probanden, namentlich in Unregelmässigkeiten der Lungendurchblutung und des Gasaustauschs. Weitere Faktoren, die unterschiedliche Resultate bewirken können, sind der Zeitpunkt des Atemtests (Alkoholinvasions-, postresorptive/spät-eliminatorische
BGE 119 IV 255 S. 258
Phase), die Körpertemperatur sowie Alter, Geschlecht und Konstitution des Probanden. Alle Faktoren zusammen können dazu führen, dass das Ergebnis des Alcotests bis zu etwa 20% über oder unter der mittels Blutprobe festgestellten BAK liegt. Auch für eine Rückrechnung anhand des Resultats eines Atemtests stehen keine gesicherten Erkenntnisse zur Verfügung (THOMAS SIGRIST, Blutalkoholbestimmung und Atemalkoholtest: Stand der Technik und der Diskussion, Referat gehalten an der Tagung "Rechtsmedizinische Aspekte der Rechtspflege" des schweizerischen Instituts für Verwaltungskurse an der Hochschule St. Gallen vom 22. Juni 1993 in Luzern, S. 10 f.; erscheint demnächst in der AJP). Um die Atemalkoholanalyse forensisch als beweissicher erachten zu können, wird die Festlegung eines eigenen Grenzwertes für die AAK verlangt, was z.B. in Frankreich und Österreich mit 0,4 mg/l und in den Niederlanden mit 0,22 mg/l bereits Tatsache ist (vgl. RENÉ SCHAFFHAUSER, Anlassfreie Atemalkoholkontrolle: rechtsvergleichende und rechtspolitische Fragen, AJP 2/1993 S. 801 und 804 f.).
b) Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die modernen Atemtestgeräte zwar die AAK genau messen, das nach einer Umrechnung als BAK ausgedrückte Ergebnis eines Alcotests aus den dargelegten Gründen jedoch deutlich von der mittels Blutprobe festgestellten BAK abweichen kann. Wie die Vorinstanz und der Generalprokurator zutreffend ausführen, ist davon auszugehen, dass die Ungenauigkeit der Blastestresultate allgemein bekannt ist, da ja sonst eine anschliessende Blutprobe überflüssig wäre. Dabei muss der durchschnittliche Fahrzeuglenker das genaue Ausmass der möglichen Abweichungen nicht kennen; von Bedeutung ist vielmehr das Wissen darum, dass der Wert des Blastests von der tatsächlichen BAK abweichen kann.
Ein Fahrzeuglenker, der alkoholische Getränke zu sich nimmt, hat zu bedenken, dass der genossene Alkohol nicht unverzüglich ins Blut übergeht, sondern dass mit einer längstmöglichen Resorptionszeit von zwei Stunden zu rechnen ist (Weisungen betreffend die Feststellung der Angetrunkenheit des EJPD vom 12. November 1986, Beilage der schweizerischen Gesellschaft für gerichtliche Medizin, Blutalkohol: Richtlinien zur medizinischen Interpretation, Ziff. 2.1.2.). Auch hier muss ein Fahrzeuglenker nicht die genaue Zeitspanne der längstmöglichen Resorptionszeit kennen. Zum Allgemeinwissen gehört jedoch, dass genossener Alkohol eine gewisse Zeit braucht, um vom Blut aufgenommen zu werden und sich nur relativ langsam abbaut.
c) Der Beschwerdeführer ist als langjähriger Restaurateur von Berufs wegen mit dem Umgang und der Wirkung von Alkohol vertraut. Das soeben umschriebene Allgemeinwissen kann bei ihm als bekannt vorausgesetzt werden. Entgegen seiner Auffassung ist es dabei nicht von Belang, dass er juristisch und medizinisch kein Detailwissen besitzt. Entscheidend ist vielmehr, ob er aufgrund des erwähnten Allgemeinwissens und allfälliger persönlicher Umstände hätte bedenken müssen, möglicherweise angetrunken zu sein.
Nach eigenen Aussagen trank der Beschwerdeführer am fraglichen Abend zwischen 19.00 und 20.00 Uhr ca. 5 dl Oeil-de-Perdrix. Anschliessend liess er sich im Auto nach Bern führen, weil er zu Recht annahm, er könnte angetrunken sein. Als er um 23.00 Uhr zwei Spezialbier trank, musste er davon ausgehen, dass sein Körper den Alkohol des Roséweins noch nicht vollständig ausgeschieden hatte. Da er die zwei Bier in zwanzig Minuten und damit in kurzer Zeit zu sich nahm, hätte er sich erst recht Gedanken darüber machen müssen, ob der genossene Alkohol in der relativ kurzen Zeit bis zum Atemtest (23.45 Uhr) bereits vollständig ins Blut übergegangen sein konnte. Unter diesen Umständen hätte er das Ergebnis der Atemprobe zumindest anzweifeln müssen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Angetrunkenheit in jedem Fall als erwiesen gilt, wenn der Fahrzeugführer eine BAK von 0,8 oder mehr Gewichtspromille aufweist oder eine Alkoholmenge im Körper hat, die zu einer solchen BAK führt (
Art. 2 Abs. 2 VRV
;
BGE 108 IV 107
).
Die einschlägige Erfahrung aus dem Jahre 1988 hätte den Beschwerdeführer ebenfalls stutzig machen müssen. Damals machte er sehr ähnliche Angaben über seinen Alkoholkonsum, der zu einer BAK von mindestens 1,65 Promille geführt hatte. Wenn nun ein etwa gleich grosser Alkoholkonsum ein derart tiefes Ergebnis zeitigte, hätte er den Blastest um so mehr in Frage stellen müssen. Der Beschwerdeführer hätte somit aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung sowie seiner persönlichen Verhältnisse und Erfahrung erkennen können, dass er trotz beziehungsweise gerade wegen der Anzeige seines privaten Blastests angetrunken sein könnte. Indem er diese Umstände nicht beachtete und entsprechend handelte, hat er seine Sorgfaltspflicht verletzt. Die Vorinstanz hat somit kein Bundesrecht verletzt.