Urteilskopf
120 Ia 113
17. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 1. Juli 1994 i.S. X. und Y. gegen Verhöramt und Obergericht (Justizkommission) des Kantons Zug (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste
Art. 4 BV
, formelle Rechtsverweigerung; interkantonale Rechtshilfe in Strafsachen; Umfang der Prüfungsbefugnis der Rechtsmittelbehörde des ersuchten Kantons.
Keine Verletzung von
Art. 4 BV
, wenn die Rechtsmittelbehörde des ersuchten Kantons auf Einwendungen gegen die materielle Zulässigkeit der verlangten Rechtshilfemassnahmen nicht eintritt. Sie kann nur jene Rügen prüfen, welche die formellen Voraussetzungen der Rechtshilfe und die Ausführung der Massnahmen betreffen (Änderung der in
BGE 117 Ia 5
ff. publizierten Rechtsprechung).
Aufgrund einer Strafanzeige der Firma L. führt der Giudice Istruttore della giurisdizione sottocenerina, Lugano, eine Strafuntersuchung wegen Veruntreuung gegen X. und Y., die beide in Zug wohnen. Der Tessiner Untersuchungsrichter richtete am 1. Juli 1992 ein Rechtshilfebegehren an das Verhöramt des Kantons Zug. Unter Hinweis auf die erwähnte Strafanzeige der Firma L. stellte er das Gesuch, es sei im Büro und am Wohnort der beiden Beschuldigten eine Haussuchung durchzuführen und es seien bestimmte, näher bezeichnete Dokumente zu beschlagnahmen. Der Zuger Verhörrichter erliess am 1. Juli 1992 einen Hausdurchsuchungsbefehl. Am 3. Juli 1992 durchsuchte die Kantonspolizei Zug sowohl die Büros als auch die Privatwohnungen der beiden Beschuldigten. Die von ihr beschlagnahmten Akten wurden auf Begehren der Beschuldigten versiegelt. In getrennten Eingaben legten die beiden Beschuldigten am 13. Juli 1992 bei der Justizkommission des Obergerichts des Kantons Zug gegen das Verhöramt Beschwerde ein. Ihre Hauptbegehren lauteten, der Haussuchungs- und Beschlagnahmebefehl des Verhöramts sei als nichtig zu erklären und aufzuheben; alle beschlagnahmten Akten seien den Beschwerdeführern versiegelt zu retournieren; es sei festzustellen, dass durch die Haussuchung und die Beschlagnahme der Akten ein unverhältnismässiger Eingriff in ihre Freiheitsrechte und jene ihrer Familie stattgefunden habe. Am 30. November 1992 wies die Justizkommission des Obergerichts die beiden Beschwerden ab, soweit auf sie eingetreten werden konnte.
Gegen den Entscheid der Justizkommission reichten X. und Y. staatsrechtliche Beschwerde ein. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
Aus den Erwägungen:
1.
a) Die Beschwerdeführer hatten im Verfahren vor der Justizkommission vor allem gerügt, die durchgeführte Hausdurchsuchung und Beschlagnahme seien unrechtmässig, da es an einem hinreichenden Tatverdacht fehle und die getroffenen Massnahmen unverhältnismässig seien. Die Justizkommission trat auf diese Rüge nicht ein. Zur Begründung führte sie aus, die Behörde, von der Rechtshilfe verlangt werde, d.h. die ersuchte Behörde, habe nicht zu prüfen, ob die verlangten Massnahmen rechtmässig oder zweckmässig seien. Sie führe keine selbständige Strafuntersuchung, sondern handle nur stellvertretend für den die Untersuchung führenden auswärtigen Richter. Dieser habe die Zweckmässigkeit und Angemessenheit der von ihm verlangten
BGE 120 Ia 113 S. 115
Massnahmen zu verantworten, und wer deren Rechtmässigkeit bestreiten wolle, müsse sich bei der Rechtsmittelinstanz des ersuchenden Kantons beklagen. Zur Behandlung der vorgebrachten Rüge sei demnach die Justizkommission nicht zuständig. Sie könne nur prüfen, ob die formellen Voraussetzungen der Rechtshilfe erfüllt seien und ob das Verhöramt die verlangten Rechtshilfemassnahmen in den Formen des Zuger Prozessrechts vorgenommen habe.
Soweit die Justizkommission auf die erwähnte Rüge nicht eintrat, beklagen sich die Beschwerdeführer gestützt auf ein Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 15. Mai 1991 (
BGE 117 Ia 5
ff.) über eine Verweigerung des aus
Art. 4 BV
folgenden Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das Bundesgericht hatte in jenem Urteil einen Fall zu entscheiden, der praktisch gleichgelagert war wie der hier zu beurteilende. Auf Ersuchen eines Waadtländer Untersuchungsrichters nahm die Bezirksanwaltschaft Zürich Rechtshilfemassnahmen vor, und die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich trat als Rekursinstanz nicht auf die Rüge ein, die verlangten Zwangsmassnahmen seien in materieller Hinsicht unzulässig, indem sie erklärte, darüber habe die Rechtsmittelbehörde des ersuchenden Kantons zu befinden. Wie im vorliegenden Fall die Justizkommission stellte die Staatsanwaltschaft fest, sie könne nur prüfen, ob die formellen Voraussetzungen der Rechtshilfe erfüllt seien und ob bei der Ausführung Vorschriften des Zürcher Prozessrechts verletzt worden seien. Das Bundesgericht hiess die gegen den Entscheid der Zürcher Staatsanwaltschaft erhobene staatsrechtliche Beschwerde wegen Verweigerung des rechtlichen Gehörs gut. Zur Begründung führte es aus, der Rekurs, wie er in der zürcherischen Strafprozessordnung ausgestaltet sei, stelle ein vollkommenes Rechtsmittel dar, mit dem jeder Mangel des angefochtenen Entscheids gerügt werden könne. Das kantonale Recht enthalte keine Vorschrift, wonach die Kognitionsbefugnis der Staatsanwaltschaft dann eingeschränkt wäre, wenn sie einen Rekurs gegen eine Rechtshilfeverfügung der Bezirksanwaltschaft zu behandeln habe. Eine solche Einschränkung ergebe sich auch nicht aus
Art. 352 StGB
, der sich auf die interkantonale Rechtshilfe bezieht. Da der Rekurrent bei der Staatsanwaltschaft alle Rügen habe vorbringen können, habe er auch geltend machen können, die verlangten Massnahmen seien unzulässig, weil es an einem Tatverdacht fehle und weil sie sowohl unnötig wie unverhältnismässig seien. Indem die Staatsanwaltschaft auf diese die materielle Zulässigkeit betreffenden Einwände nicht eingegangen sei, habe sie ihre Prüfungsbefugnis in sachlich
BGE 120 Ia 113 S. 116
nicht vertretbarer Weise eingeschränkt und damit den aus
Art. 4 BV
folgenden Anspruch des Rekurrenten auf rechtliches Gehör verletzt.
Nach dieser Rechtsprechung der I. öffentlichrechtlichen Abteilung kann sich der Betroffene gegen den Entscheid, mit dem die interkantonal um Rechtshilfe ersuchte Behörde die verlangten Zwangsmassnahmen angeordnet hat, unter Berufung auf seine verfassungsmässigen Rechte, namentlich die persönliche Freiheit und die Eigentumsgarantie, zur Wehr setzen. Es wird von der Überlegung ausgegangen, dass nicht schon das von der Behörde des ersuchenden Kantons gestellte Begehren um Anordnung und Durchführung einer Zwangsmassnahme, sondern erst der Entscheid der Behörde des ersuchten Kantons über die Anordnung der verlangten Massnahme einen Hoheitsakt darstellt, durch den in die Grundrechte des Betroffenen eingegriffen wird. Demzufolge kann dieser gegen den Entscheid der Behörde des ersuchten Kantons nicht nur formelle Rügen erheben, sondern auch einwenden, die angeordnete Zwangsmassnahme bedeute einen unzulässigen Eingriff in seine Grundrechte, da sie auf keiner gesetzlichen Grundlage beruhe, nicht im öffentlichen Interesse liege und unverhältnismässig sei. Anders verhält es sich, wenn es in einem interkantonalen Rechtshilfeverfahren um den Vollzug eines Haft- oder Zuführungsbefehls geht. In diesen Fällen wird die Zwangsmassnahme nicht durch den ersuchten Kanton, sondern direkt durch die Behörde des ersuchenden Kantons angeordnet (vgl.
Art. 352 Abs. 1 StGB
), weshalb sich die Rüge, die angeordnete Massnahme sei materiell unzulässig, gegen ihren Entscheid richten muss.
Würde der vorliegende Fall entsprechend der dargelegten Rechtsprechung beurteilt, wäre die Beschwerde aus den im zitierten Urteil vom 15. Mai 1991 angegebenen Gründen in diesem Punkt gutzuheissen. Wie die Justizkommission ausführte, ist die Beschwerde gemäss § 80 der Zuger Strafprozessordnung (StPO), welche die Beschwerdeführer im kantonalen Verfahren einlegten, ein vollkommenes Rechtsmittel, mit dem alle Mängel des angefochtenen Entscheids gerügt werden können, und die Justizkommission lehnte es, wie im Zürcher Fall die Staatsanwaltschaft, ab, auf die Rügen einzutreten, welche sich gegen die materielle Zulässigkeit der angeordneten Rechtshilfemassnahmen richteten.
b) Die bisherige Rechtsprechung ist indessen zu überprüfen, und zwar deshalb, weil das am 2. November 1993 in Kraft getretene Konkordat über die Rechtshilfe und die interkantonale Zusammenarbeit in Strafsachen vom
BGE 120 Ia 113 S. 117
5. November 1992 (SR 351.71, AS 1993, S. 2876 ff.; im folgenden abgekürzt: Konkordat) eine Regelung enthält, die dazu im Widerspruch steht.
Das Konkordat bestimmt unter dem Titel "Rechtsmittel. Verfahren und Zuständigkeit" in Art. 19 Ziff. 2 folgendes:
"Bei der Behörde des ersuchten Kantons können nur die Beschwerdegründe betreffend Gewährung und Ausführung der Rechtshilfe geltend gemacht werden. In allen anderen Fällen, namentlich bei Einwendungen materieller Art, muss das Rechtsmittel bei der zuständigen Behörde des ersuchenden Kantons eingereicht werden; Artikel 18 ist sinngemäss anwendbar."
Die Vorschrift von Art. 18 mit dem Titel "Rechtsmittelbelehrung" lautet:
"Wenn das anwendbare Recht ein Rechtsmittel gegen einen Entscheid vorsieht, muss dieser die Rechtsmittelbelehrung, die Rechtsmittelinstanz und die Rechtsmittelfrist angeben."
Nach dieser Ordnung kann der Betroffene gegen den Entscheid der Behörde des ersuchten Kantons nur Rügen erheben, welche die formellen Voraussetzungen der Rechtshilfe und die Ausführung der verlangten Handlung betreffen. Einwendungen gegen die materielle Zulässigkeit der angeordneten Massnahmen muss er bei der Rechtsmittelbehörde des ersuchenden Kantons vorbringen. Im Gegensatz zur erwähnten Rechtsprechung, wonach im interkantonalen Rechtshilfeverfahren - abgesehen von den Haft- und Zuführungsbefehlen - einzig der Entscheid der ersuchten Behörde über die Anordnung der verlangten Massnahme angefochten werden kann, geht das Konkordat davon aus, dass auch das von der Behörde des ersuchenden Kantons gestellte Begehren um Anordnung der Massnahme Gegenstand einer Beschwerde sein kann. Das hat zur Folge, dass jeder Entscheid separat angefochten werden kann, der Betroffene mithin zwei Rechtsmittel einlegen muss, wenn er sowohl die materielle Zulässigkeit einer Rechtshilfemassnahme wie deren formelle Durchführung beanstanden will. Demgegenüber muss er nach der bisherigen Rechtsprechung auch in diesem Fall nur ein einziges Rechtsmittel einreichen. Diese Lösung ist für den von einer strafprozessualen Zwangsmassnahme betroffenen Bürger von Vorteil. Sie hat aber auf der anderen Seite Unzukömmlichkeiten für die Behörden und für den Gang des Strafverfahrens zur Folge. Wenn die Behörden des ersuchten Kantons nicht nur die formelle Zulässigkeit des Rechtshilfeersuchens, sondern auch die materielle Zulässigkeit der verlangten Massnahmen
BGE 120 Ia 113 S. 118
prüfen müssen, kann das unter Umständen zu unverhältnismässigen Aktenübermittlungen unter den Kantonen führen oder in Unkenntnis der gesamten Aktenlage getroffene und damit fragwürdige Entscheide über die Zulässigkeit einer Rechtshilfemassnahme bewirken (
BGE 119 IV 90
). Da nur ein einziges Rechtsmittelverfahren durchzuführen war, konnten anderseits in einfacheren Fällen unnötige Verzögerungen vermieden werden, die sich aus einer Aufspaltung des Rechtsmittelverfahrens ergeben können. Im Zuge der Anpassung der interkantonalen Rechtshilfe an die Bedürfnisse einer effizienten Bekämpfung der Kriminalität hat sich bei den Kantonen die Ansicht durchgesetzt, dass dem um Rechtshilfe ersuchten Kanton generell verwehrt sein soll, auf Beschwerde hin die materielle Zulässigkeit einer Rechtshilfemassnahme zu überprüfen. Das hat im Konkordat seinen Niederschlag gefunden. Dem Willen der Kantone kann sich das Bundesgericht nicht verschliessen, es sei denn, die von ihnen vorgesehene Ordnung hätte zur Folge, dass der verfassungsmässig garantierte Schutz der Rechte des von der Zwangsmassnahme betroffenen Bürgers nicht mehr in ausreichendem Umfang gewährleistet wäre. Das trifft auf die im Konkordat getroffene Regelung nicht zu. Es ergibt sich aus Art. 19 Ziff. 2 in Verbindung mit Art. 18 des Konkordats, dass jeder Entscheid dem Betroffenen mitgeteilt und gegebenenfalls mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen werden muss. Ausserdem hat der Betroffene die Möglichkeit, die Rechtsmittelschrift in der Sprache des ersuchten oder in derjenigen des ersuchenden Kantons abzufassen (Art. 19 Ziff. 1 des Konkordats). Darüber hinaus wäre es wohl gerechtfertigt, dass im Falle der Einreichung des Rechtsmittels bei einer unzuständigen Behörde diese die Eingabe von Amtes wegen an die zuständige Behörde überweisen muss (in analoger Anwendung der in Art. 15 Ziff. 3 des Konkordats vorgesehenen Pflicht zur Überweisung des bei einer unzuständigen Behörde eingereichten Rechtshilfegesuchs). Eine solche Überweisungspflicht wäre zusammen mit den im Konkordat vorgesehenen Erleichterungen gewissermassen eine Kompensation dafür, dass vom Betroffenen ein zusätzlicher Aufwand verlangt wird, indem er - wenn er die Zwangsmassnahme formell wie materiell beanstanden will - in zwei Kantonen ein Rechtsmittel einlegen muss. Im Sinne dieser Erwägungen kann davon ausgegangen werden, dass die im Konkordat vorgesehene Ordnung sowohl den Interessen der Strafverfolgungsbehörden an einer Vereinfachung des Verfahrens wie auch dem Interesse des Betroffenen an einem wirksamen Schutz seiner Grundrechte in
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hinreichender Weise Rechnung trägt. Es drängt sich daher auf, die bisherige Rechtsprechung aufzugeben und sich der im Konkordat getroffenen Lösung anzuschliessen, wonach bei der Rechtsmittelbehörde des ersuchten Kantons nur Rügen vorgebracht werden können, welche die formellen Voraussetzungen der Rechtshilfe und die Ausführung der verlangten Massnahme betreffen, während Einwendungen gegen die materielle Zulässigkeit der verlangten Rechtshilfemassnahme bei der Rechtsmittelbehörde des ersuchenden Kantons geltend zu machen sind. Da die Rechtsmittelinstanz des ersuchten Kantons nicht über die materielle Zulässigkeit der Massnahme zu befinden hat, beging die Justizkommission keine formelle Rechtsverweigerung, wenn sie auf jene Rügen der Beschwerdeführer nicht eintrat, welche die materielle Zulässigkeit der vom Verhörrichter angeordneten Rechtshilfemassnahmen betrafen. Die staatsrechtliche Beschwerde ist deshalb insoweit abzuweisen.
c) Hätten es die Beschwerdeführer im Vertrauen auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts unterlassen, die materielle Zulässigkeit der vom Giudice Istruttore angeordneten Massnahme bei der Tessiner Rekursbehörde zu beanstanden, in der Annahme, diese Rüge könne im Anschluss an den Vollzug bei der Zuger Beschwerdeinstanz vorgebracht werden, so müsste ihnen nach Treu und Glauben wohl auf irgendeine Weise die Möglichkeit eingeräumt werden, nachträglich die die materielle Zulässigkeit betreffenden Rügen bei der Camera dei ricorsi penali des Kantons Tessin vorzubringen. Darauf muss indessen nicht eingegangen werden, da die beiden Beschwerdeführer auch bei dieser Tessiner Rechtsmittelinstanz Beschwerde eingereicht hatten.