Urteilskopf
120 IV 246
40. Auszug aus dem Urteil der Anklagekammer vom 14. Juni 1994 i.S. P. GmbH gegen Bundesamt für Kommunikation
Regeste
Art. 84 Abs. 1 lit. a VStrR
. Revision.
Für die Auslegung von
Art. 84 Abs. 1 lit. a VStrR
ist die Lehre und Rechtsprechung zu
Art. 397 StGB
heranzuziehen. Neu bzw. nicht bekannt sind der Verwaltung Tatsachen oder Beweismittel, wenn sie ihr im ursprünglichen Verfahren gegen den Beschuldigten überhaupt nicht zur Beurteilung vorlagen (E. 2a u. 3b).
Erheblich sind Tatsachen oder Beweismittel, namentlich wenn es sich dabei um für die rechtliche Qualifikation oder die Strafzumessung bedeutende Umstände handelt, die von der Verwaltung nicht berücksichtigt wurden (E. 2b) und die wahrscheinlich zu einer Änderung des früheren Urteils führen.
Grundsätzlich sind alle während der Strafuntersuchung erstellten Unterlagen den Akten beizufügen (E. 3c).
Reichweite eines Sprechfunkgerätes als neue erhebliche Tatsache im Zusammenhang mit einer Bestrafung wegen Widerhandlung gegen das Fernmeldegesetz (E. 4).
A.-
Die Firma Z., Zürich, bestellte bei der Firma P. GmbH, Richterswil, 2000 Handsprechfunkgeräte "Walkie-Talkie HU 2" zum Gesamtpreis von Fr. 26'400.--; die Geräte wurden der Bestellerin am 12. Mai 1992 direkt ab Zollfreilager geliefert. Die Bestellerin gab 430 dieser nicht zugelassenen batteriegespiesenen Spielzeuggeräte gratis an Kinder ab. Nachdem festgestellt worden war, dass die Geräte über keine Typengenehmigung verfügten, beschlagnahmte das Bundesamt für Kommunikation am 7. Juli 1992 die restlichen Geräte. Am 8. Juli 1992 wurde gegen G. als verantwortlichem Direktor der P. GmbH eine Strafuntersuchung eröffnet.
Mit Strafbescheid des Bundesamtes für Kommunikation vom 25. März 1993 wurde die P. GmbH wegen Inverkehrbringens nicht zugelassener Teilnehmeranlagen (
Art. 57 Abs. 1 lit. d FMG
) in Anwendung von
Art. 7 VStrR
zu einer Busse von Fr. 4'500.-- verurteilt; gleichzeitig wurde der unrechtmässige Gewinn von Fr. 1'300.-- eingezogen.
B.-
Parallel zum Verfahren gegen die Firma P. GmbH wurde auch ein Verwaltungsstrafverfahren gegen den Verantwortlichen der Firma Z. bezüglich der gleichen Geräte geführt.
In den Akten dieses Verfahrens befindet sich eine "Aktennotiz funktechnische Messungen" vom 7. Juli 1992 von G., Bundesamt für Kommunikation, wonach das Handsprechfunkgerät "Hynamic 9821" von Handsprechfunkgerät zu Handsprechfunkgerät über eine Reichweite von ca. 5 m, von Handsprechfunkgerät zu einem Messempfänger von ca. 8 m verfüge; diese Messungen liessen "auf eine äusserst geringe, effektiv abgestrahlte Leistung schliessen".
Am 2. September 1993 erhielt die Firma P. GmbH Kenntnis von der Aktennotiz vom 7. Juli 1992.
C.-
Mit Revisionsgesuch vom 22. September 1993 beantragte die Firma P. GmbH dem Bundesamt für Kommunikation, den Strafbescheid aufzuheben und sie freizusprechen.
Mit Verfügung vom 31. März 1994 wies das Bundesamt für Kommunikation das Revisionsgesuch ab.
D.-
Mit Beschwerde vom 22. April 1994 beantragt die Firma P. GmbH der Anklagekammer des Bundesgerichts, die Verfügung des Bundesamtes für Kommunikation vom 31. März 1994 aufzuheben und die Revision vorzunehmen;
BGE 120 IV 246 S. 248
demgemäss sei der Strafbescheid aufzuheben und sie freizusprechen.
Das Bundesamt für Kommunikation beantragt, die Beschwerde abzuweisen.
Aus den Erwägungen:
1.
a) Ein durch Strafbescheid der Verwaltung rechtskräftig abgeschlossenes Strafverfahren kann gemäss
Art. 84 Abs. 1 lit. a VStrR
(SR 313.0) auf Antrag wieder aufgenommen werden "auf Grund erheblicher Tatsachen oder Beweismittel, die der Verwaltung zur Zeit des früheren Verfahrens nicht bekannt waren".
In der bundesrätlichen Botschaft finden sich keine Erläuterungen zu den
Art. 84 ff. VStrR
(vgl. BBl 1971 I 1015). Die Bestimmung deckt sich indessen im wesentlichen mit dem Wortlaut von
Art. 397 StGB
, welcher im Sinne einer Minimalgarantie einen selbständigen bundesrechtlichen Revisionsgrund zugunsten des Verurteilten aufstellt (
BGE 116 IV 353
E. 4b). Geht es daher wie im vorliegenden Fall um die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten, kann für die Auslegung von
Art. 84 Abs. 1 lit. a VStrR
auf die Lehre und Rechtsprechung zu
Art. 397 StGB
zurückgegriffen werden.
b) Gegen die Abweisung des Revisionsgesuches kann der Gesuchsteller bei der Anklagekammer des Bundesgerichts Beschwerde führen, wobei die Verfahrensvorschriften von
Art. 28 Abs. 2-5 VStrR
sinngemäss gelten (
Art. 88 Abs. 4 VStrR
). Mit der Beschwerde kann somit die Verletzung von Bundesrecht, die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes oder die Unangemessenheit gerügt werden.
2.
a) Neu bzw. nicht bekannt sind der Verwaltung Tatsachen oder Beweismittel, die ihr im ursprünglichen Verfahren gegen den Beschuldigten überhaupt nicht in irgendeiner Form zur Beurteilung vorlagen (vgl.
BGE 116 IV 353
E. 3a).
b) Erheblich sind neue Tatsachen oder Beweismittel, wenn sie geeignet sind, die Beweisgrundlage des früheren Urteils so zu erschüttern, dass aufgrund des veränderten Sachverhaltes ein wesentlich milderes Urteil möglich ist (
BGE 117 IV 40
E. 2a), namentlich infolge der Berücksichtigung von Strafmilderungsgründen oder auch bloss strafmindernden Umständen (vgl. CLERC, SJK 955, S. 7). Dabei ist an die Voraussetzung des wesentlich milderen Urteils kein strenger Massstab anzulegen (
BGE 117 IV 40
E. 2a). Kommt die
BGE 120 IV 246 S. 249
Verwaltung daher zum Schluss, eine mildere Bestrafung komme in Frage, so darf die Beurteilung, ob es sich um eine wesentliche oder unwesentliche Milderung handle, nicht über das Schicksal des Wiederaufnahmegesuches entscheiden, denn es lassen sich keine konkreten Kriterien dafür finden, wann eine Änderung bedeutend ist oder nicht; die Wiederaufnahme ist vielmehr immer dann zuzulassen, wenn ein für die Strafzumessung bedeutender Umstand, welcher von der Verwaltung nicht berücksichtigt wurde, dargetan wird (vgl. ADAM-CLAUS ECKERT, Die Wiederaufnahme des Verfahrens im schweizerischen Strafprozessrecht, Berlin 1974, S. 53 und 72).
Auch wenn die Wiederaufnahme des Verfahrens zu bewilligen ist, wenn ein günstigeres Urteil "möglich" ist, so darf dies nicht so verstanden werden, als sei eine Wiederaufnahme bereits zuzulassen, wenn eine Änderung des früheren Urteils nicht geradezu als unmöglich oder als ausgeschlossen betrachtet werden müsse. Möglich ist eine solche Änderung vielmehr, wenn sie sicher, höchstwahrscheinlich oder wahrscheinlich ist (
BGE 116 IV 353
E. 5a).
3.
a) Das Bundesamt für Kommunikation macht geltend, die Aktennotiz stamme aus einem anderen Verfahren zur Zeit des Verfahrens gegen die Beschwerdeführerin und sei ihm daher bekannt gewesen. Die Aktennotiz sei aber, da sie nicht rechtserheblich und für das Verfahren ohne Aussagekraft gewesen sei, nicht einbezogen und der Beschwerdeführerin auch nicht zur Kenntnis gebracht worden. Es handle sich somit nicht um eine neue Tatsache bzw. ein neues Beweismittel.
Nach Auffassung der Beschwerdeführerin kommt es nicht darauf an, ob die Aktennotiz vom 7. Juli 1992 dem Bundesamt für Kommunikation bekannt gewesen sei; entscheidend sei vielmehr, ob die Aktennotiz im betreffenden Verfahren bekannt gewesen sei und in den Akten oder den Erwägungen ihren Niederschlag gefunden habe; eine der Verwaltung an sich bekannte Tatsache müsse daher als unbekannt gelten, wenn sie im Verfahren als nicht existent behandelt und überhaupt nicht berücksichtigt werde; dies gelte zumindest dann, wenn die Tatsache dem Beschuldigten völlig unbekannt gewesen sei und er sie daher nicht habe vorbringen oder mit Beweisanträgen versehen können.
b) Das Bundesamt für Kommunikation räumt ausdrücklich ein, die in Frage stehende Aktennotiz vom 7. Juli 1992 sei ihm zwar aus dem Verfahren gegen den Kunden der Beschwerdeführerin bekannt gewesen; es habe sie aber im Verfahren gegen letztere "nicht einbezogen". Es fehlen in den Akten denn
BGE 120 IV 246 S. 250
auch jegliche Hinweise darauf, dass die Aktennotiz auch im Verfahren gegen die Beschwerdeführerin Berücksichtigung gefunden hätte. Unter diesen Umständen kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass dem Bundesamt für Kommunikation die sich aus der Aktennotiz ergebende Tatsache im Verfahren gegen die Beschwerdeführerin zur Beurteilung vorlag. Die Aktennotiz bzw. die sich daraus ergebende Tatsache ist daher als neu zu betrachten.
c) Die Aktennotiz betrifft im übrigen jene Geräte, die die Beschwerdeführerin in Verkehr brachte und die Gegenstand der gegen sie geführten Strafuntersuchung waren. Wurden diese Geräte tatsächlich einer technischen Prüfung unterzogen - unabhängig davon, ob diese Prüfung durch die Verwaltung als wesentlich erachtet wird oder nicht -, so sind alle diesbezüglichen Unterlagen den Akten beizufügen, auch wenn die Prüfung im Verfahren gegen den Käufer der Geräte durchgeführt wurde; andernfalls wird der Anspruch des Beschuldigten, sich auch zu den von der Verwaltung (allenfalls zu Unrecht) als unwesentlich erachteten Argumenten vernehmen zu lassen, verletzt. Dies muss umso mehr verlangt werden, als die Verwaltung im Verwaltungsstrafverfahren über die weitaus besseren technischen Mittel zur Sachverhaltsermittlung verfügt als dies beim betroffenen Privaten der Fall ist.
4.
a) Während die Beschwerdeführerin davon ausgeht, die Aktennotiz vom 7. Juli 1992 sei erheblich im Sinne von
Art. 84 Abs. 1 lit. a VStrR
, vertritt das Bundesamt für Kommunikation die Ansicht, die Aktennotiz sei nicht rechtserheblich, da sie sich "nur zur Reichweite, nicht aber zum Störpotential des Gerätes äussert". Für die Beschwerdeführerin liegt es auf der Hand, dass die Reichweite eines Funkgerätes sein Störpotential entscheidend bestimme. Bei einer Reichweite von fünf bis acht Metern könnten die in Frage stehenden Geräte indessen nur ein äusserst geringes Störpotential verwirklichen. Diesem Umstand sei bei der Bemessung der Busse Rechnung zu tragen.
b) Es ist nicht einzusehen, weshalb das Bundesamt für Kommunikation selber die Geräte in einer messtechnischen Prüfung auf ihre Reichweite hin untersuchte, wenn diese von vornherein für das Verfahren ohne Bedeutung sein soll. Führt die Verwaltung solche Messungen an Geräten durch, so ist vielmehr zu vermuten, dass diese von Bedeutung für die Untersuchung sind, andernfalls sie unnötig wären und zu unterbleiben hätten. Dass die Reichweite von Sprechfunkgeräten für das durch die Fernmeldegesetzgebung angestrebte störungsfreie Funktionieren des Fernmeldeverkehrs (vgl.
BGE 120 IV 246 S. 251
BGE 118 IV 67
E. 3d, dd) von Bedeutung ist, erscheint jedenfalls als naheliegend und zeigt auch die "Ergänzung der Untersuchung" vom 28. Oktober 1993, wonach die Störung anderer Spektrumsbenutzer durch die Ausstrahlung von elektromagnetischen Wellen unter anderem abhängig sei von der abgestrahlten Leistung des Signals. Damit führt die Aktennotiz, nach welcher die Messungen auf eine "äusserst geringe, effektiv abgestrahlte Leistung schliessen" lassen, zumindest höchstwahrscheinlich zu einer Veränderung des Sachverhaltes, so dass die neue Tatsache insoweit als erheblich zu betrachten ist. Dies, weil im Gegensatz dazu im Schlussprotokoll, auf das im Strafbescheid verwiesen wurde, betreffend die Schwere der Widerhandlung, erklärt worden war, die technischen Unzulänglichkeiten der Geräte führten zu "empfindlichen Störungen oder Beeinträchtigungen konzessionierter Funkteilnehmer". Auch in rechtlicher Hinsicht ist die neue Tatsache erheblich, weil die Beschwerdeführerin wegen der äusserst geringen abgestrahlten Leistung unter Umständen Grund zur Annahme hatte, bei den in Frage stehenden Geräten handle es sich um nicht bewilligungspflichtige Fernmeldeanlagen, und weil die Schwere der Widerhandlung deswegen möglicherweise wesentlich anders zu beurteilen sein wird. Die in der Aktennotiz festgehaltene geringe Reichweite der Geräte wurde im übrigen im Verfahren gegen den Käufer der Geräte bei der Beurteilung der Schwere der Widerhandlung ausdrücklich berücksichtigt.
c) Das Bundesamt für Kommunikation verletzte daher Bundesrecht, indem es die streitige Tatsache als nicht neu und nicht erheblich bezeichnete und das Revisionsgesuch abwies. Da die Beschwerdeführerin auch beantragt, "die Revision vorzunehmen", ist das Revisionsgesuch gutzuheissen.