Urteilskopf
121 IV 155
27. Urteil des Kassationshofes vom 17. Februar 1995 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen gegen B. (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste
Art. 100 Abs. 1, 100bis und 100ter StGB
;
Art. 1 Abs. 4 VStGB 1
; Arbeitserziehungsanstalt, Altersgrenze.
Delinquiert ein Täter vor dem erfüllten 25. Altersjahr, kann der Richter an Stelle einer Strafe seine Einweisung in eine Arbeitserziehungsanstalt anordnen (E. 2a).
Delinquiert ein Täter vor und nach dem erfüllten 25. Altersjahr, spricht der Richter für die vor dem 25. Altersjahr begangenen Straftaten eine Sanktion des Erwachsenenstrafrechts aus oder kann bei gegebenen Voraussetzungen eine Arbeitserziehung anordnen; für Delikte nach diesem Zeitpunkt muss er auf eine Sanktion des Erwachsenenstrafrechts erkennen (E. 2c).
Der Richter hat eine zugleich mit der Arbeitserziehung ausgesprochene Freiheitsstrafe zugunsten der Massnahme aufzuschieben und im Zeitpunkt der Entlassung aus dem Massnahmevollzug zu entscheiden, ob und wieweit allfällig aufgeschobene Strafen noch vollstreckt werden sollen (E. 2c).
A.-
Der am 9. September 1967 geborene B. begann ab dem 17. Juni 1992, einige Monate vor seinem 25. Geburtstag, zu delinquieren, insbesondere Drogen zu erwerben und zu verkaufen, und fuhr damit bis in sein 26. Altersjahr hinein fort.
B.-
Die Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen fand ihn am 8. September 1994 schuldig der schweren Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz, des Betäubungsmittelkonsums, des Diebstahls und des Versuchs dazu und wies ihn in eine Arbeitserziehungsanstalt ein.
C.-
Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen erhebt Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die kantonale Behörde zurückzuweisen, damit diese neben der Arbeitserziehung noch eine Strafe festsetze.
D.-
Der Beschwerdegegner beantragt in seiner Vernehmlassung, auf die Beschwerde nicht einzutreten, sie eventuell abzuweisen und ihm die
BGE 121 IV 155 S. 157
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
a) Die Vorinstanz sieht die materiellen Voraussetzungen zur Einweisung des Beschwerdegegners in eine Arbeitserziehungsanstalt nach
Art. 100bis Ziff. 1 StGB
erfüllt. Er solle im eingeleiteten und bereits deutlich positiven Reifeprozess möglichst bestärkt werden. Allerdings sei die Arbeitserziehungsanstalt nur für junge Erwachsene bestimmt; die Einweisung könne nach
Art. 100 StGB
angeordnet werden, wenn der Täter zur Zeit der Tat das 25. Altersjahr noch nicht zurückgelegt habe. Der Beschwerdegegner habe ab dem 17. Juni 1992, also einige Monate vor seinem 25. Geburtstag am 9. September 1992, sein strafbares Verhalten begonnen und auch schon in erheblichem Umfang Drogen erworben oder verkauft. Er habe bis in das 26. Altersjahr hinein mit Drogen gehandelt und dabei einen noch weit grösseren Umsatz erzielt. Im Zeitpunkt der vorläufigen Einweisung sei er gerade sechsundzwanzig Jahre alt gewesen; heute habe er das 27. Altersjahr erreicht. Es erscheine vernünftig und zweckmässig, die Arbeitserziehung auch bei einem dafür geeigneten Täter zu ermöglichen, der vor und nach dem 25. Geburtstag straffällig geworden sei. Soweit seien sich die Parteien einig. Die Beschwerdeführerin beantrage jedoch, in sinngemässer Anwendung von
Art. 1 Abs. 4 VStGB 1
(SR 311.01) die Arbeitserziehung anzuordnen sowie zugleich eine Strafe auszufällen und deren Vollzug aufzuschieben; dagegen beantrage der Beschwerdegegner, nach
Art. 100bis StGB
die Arbeitserziehung anstelle einer Strafe auszusprechen.
Die Verordnung 1 zum StGB regle nur den Übertritt von der Altersstufe des Jugendlichen zu jener des jungen Erwachsenen. Die Massnahme der Arbeitserziehung sei monistisch ausgestaltet; davon sei nicht abzuweichen. Weder Betroffene noch Behörden sollten sich an einer Strafe orientieren können, der richtige Zeitpunkt der Entlassung solle sich allein aus dem Erfolg und nicht aus dem Vergleich der Aufenthaltsdauer mit einer Strafe ergeben. Der Täter solle nicht durch renitentes Verhalten eine vorzeitige Entlassung erwirken können, aber auch nicht unnötig lange zurückgehalten werden. Zudem entstünden praktische Schwierigkeiten, wenn der Anteil der nach dem 25. Altersjahr begangenen Taten ausgeschieden und dafür allein eine Strafe zugemessen werden müsste. Die in der Lehre vereinzelt empfohlene Übernahme der Verordnungsbestimmung über strafbare Handlungen
BGE 121 IV 155 S. 158
vor und nach Vollendung des 18. Lebensjahres auf den nicht geregelten Fall des Delinquierens vor und nach dem 25. Altersjahr sei auch deshalb fragwürdig, weil die darin vorgenommene formelle Aufspaltung der Rechtsfolgen nach Alterskategorien durchaus umstritten sei. Es sei unbefriedigend, wenn für eine Altersstufe, in welcher der Monismus eingeführt worden sei, beim Übergangsalter doch wieder eine Art Dualismus geschaffen werde. Eine Strafe auszusprechen und zugunsten der Arbeitserziehung aufzuschieben, hätte nur bei Scheitern der Massnahme Bedeutung. Es wäre unvernünftig und inhuman, den Erfolg der Arbeitserziehung durch den nachträglichen Strafvollzug wieder aufs Spiel zu setzen. Sei die Massnahme erfolgreich, lasse sich unter Resozialisierungsgesichtspunkten nur der Verzicht auf den Vollzug aufgeschobener Strafen verantworten. Es sei nicht gerechtfertigt, allein im Hinblick auf einen möglichen (im besonderen Fall nach einem rund einjährigen Aufenthalt in der Arbeitserziehung und guter Führung schon zunehmend unwahrscheinlicher gewordenen) Misserfolg einen gesetzlichen Grundsatz aufzugeben und statt dessen eine umstrittene Verordnungsbestimmung analog anzuwenden.
b) Die Beschwerdeführerin will die Rechtslage dort geklärt wissen, wo bei einem an sich der Massnahme der Arbeitserziehung zuzuführenden jungen Erwachsenen nicht nur Taten bis zur Zurücklegung des 25. Altersjahres zu beurteilen sind, sondern auch solche, die er danach begangen hat. Es frage sich, ob bei diesem Täter nur die Massnahme gemäss der grundsätzlich monistischen Ausgestaltung verhängt werden solle oder analog
Art. 1 Abs. 4 VStGB 1
für jugendliche Übergangstäter neben der Massnahme wegen der späteren Delikte zusätzlich eine Strafe auszusprechen sei. Für die Kombination von Massnahme und Strafe spreche der Wortlaut von
Art. 100 Abs. 1 StGB
, der die Arbeitserziehung für im Tatzeitpunkt über fünfundzwanzigjährige Täter nicht vorsehe. Zudem schreibe die Verordnung die vorgeschlagene Lösung von Massnahme und Freiheitsstrafe für jugendliche Übergangstäter gerade vor, also bei Tätern, für die sonst ein konsequent monistisches, im Primat der Massnahmen beruhendes Sanktionensystem gelte. Die Kritik der Vorinstanz an der ausnahmsweise dualistischen Ausgestaltung der an sich monistischen Massnahme treffe für jene Fälle noch in vermehrtem Mass zu. Die angesprochenen praktischen Probleme seien lösbar.
2.
Gemäss
Art. 100 Abs. 1 StGB
gelten unter Vorbehalt von Artikel 100bis und 100ter die allgemeinen Bestimmungen des Gesetzes, wenn der Täter zur
BGE 121 IV 155 S. 159
Zeit der Tat das 18., aber nicht das 25. Altersjahr zurückgelegt hat.
a) Für achtzehn- bis fünfundzwanzigjährige Täter gelten somit die allgemeinen Bestimmungen des Gesetzes, das für junge Erwachsene grundsätzlich kein Sonderrecht schafft (TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, Art. 100 N. 1), doch bleiben die
Art. 100bis und 100ter StGB
vorbehalten. Nach
Art. 100bis Ziff. 1 StGB
kann der Richter unter bestimmten Voraussetzungen "an Stelle einer Strafe seine Einweisung in eine Arbeitserziehungsanstalt anordnen." Nach diesem Wortlaut ist wie nach jenem von
Art. 100 StGB
grundsätzlich das ordentliche Sanktionensystem des Erwachsenenstrafrechts anzuwenden, es sei denn, der Täter erfülle die Einweisungsvoraussetzungen.
Zum gleichen Ergebnis führt eine Beurteilung nach Systematik und Sinn des Gesetzes. Die
Art. 82, 89 und 100 StGB
legen über Altersgrenzen fest, wer als Kind, Jugendlicher oder junger Erwachsener gilt, und bestimmen für diese Täterkategorien vom erfüllten 7. bis 25. Altersjahr spezifische, dem jeweiligen Alter angemessene Sanktionen. Auf die ersten beiden Alterskategorien finden die allgemeinen Bestimmungen nur insoweit Anwendung, als sie mit Sinn und Zweck des Jugendstrafrechts vereinbar und einer günstigen Entwicklung des Täters förderlich sind (
BGE 117 IV 9
E. 3a,
BGE 94 IV 56
E. 1a). An diesen Grundgedanken des Jugendstrafrechts knüpft jenes für junge Erwachsene von achtzehn bis fünfundzwanzig Jahren an, weil sich diese noch in Entwicklung befinden und deshalb auf ihre charakterliche Entwicklung (
Art. 100bis StGB
) eingewirkt werden soll (
BGE 118 IV 351
E. 2b und e,
BGE 100 IV 205
E. 4). Eine Einweisung kann indessen nur unter bestimmten Voraussetzungen erfolgen, so dass unter Vorbehalt von
Art. 100bis und 100ter StGB
für junge Erwachsene das ordentliche Erwachsenenstrafrecht gilt (vgl.
BGE 115 IV 8
II/a S. 16). Wie das Jugendstrafrecht ist die Arbeitserziehung junger Erwachsener monistisch ausgestaltet, so dass neben der Massnahme keine Strafe ausgesprochen wird (BGE
BGE 118 IV 351
E. 2d). Das Gesetz enthält somit eine nach Alterskategorien abgestufte Annäherung an das Sanktionensystem des Erwachsenenstrafrechts.
b) Art. 1 der Verordnung (1) zum Schweizerischen Strafgesetzbuch vom 13. November 1973 (VStGB 1) enthält eine Sonderregelung für Jugendliche, die sich vor und nach dem 15. Altersjahr, sowie Täter, die sich vor und nach dem 18. Altersjahr strafbar gemacht haben. Abs. 4 lautet:
BGE 121 IV 155 S. 160
"Hat sich ein Täter teils vor und teils nach dem zurückgelegten 18. Altersjahr strafbar gemacht und bedarf er einer Massnahme, so ist diejenige Massnahme des Jugend- und Erwachsenenrechts anzuordnen, die dem Zustand des Täters angepasst ist. Ordnet der Richter eine Massnahme des Jugendrechts an, so erkennt er auch auf die Strafe des Erwachsenenrechts, schiebt aber im Fall einer Freiheitsstrafe deren Vollzug auf und entscheidet erst vor der Entlassung aus der Massnahme, ob und wieweit die Freiheitsstrafe im Zeitpunkt der Entlassung noch vollstreckt werden soll."
Danach ist bei Tätern, die teils vor und teils nach dem 18. Altersjahr delinquiert haben, neben der Massnahme des Jugendstrafrechts eine Strafe des Erwachsenenrechts, gegebenenfalls eine Freiheitsstrafe, auszusprechen und der Vollzug aufzuschieben. Wie es sich hingegen bei einem Täter verhält, der teils vor und teils nach dem 25. Altersjahr delinquiert hat, regelt auch die Verordnung nicht.
c) Dem Strafgesetzbuch und der VStGB 1 lassen sich somit für Täter, die vor und nach dem 25. Altersjahr delinquiert haben, keine Sonderbestimmungen entnehmen. Für Taten vor dem 25. Altersjahr sind also die
Art. 100 ff. StGB
anwendbar, während sich die Sanktionen für Straftaten nach dem erfüllten 25. Altersjahr nach dem ordentlichen Erwachsenenstrafrecht bestimmen. Damit stellen sich für diese Täter hinsichtlich der Sanktionen der Sache nach dieselben Schwierigkeiten, die den Bundesrat zum Erlass der VStGB 1 veranlasst haben. Er hat mit der Verordnung eine den Grundgedanken des Gesetzes konkretisierende, sinnvolle und tragfähige Lösung für die erste Täterkategorie gefunden. Dieser Weg ist weiterzugehen, und entsprechend ist für die zweite Täterkategorie die VStGB 1 analog anzuwenden.
Demzufolge spricht der Richter für die vor dem 25. Altersjahr begangenen Straftaten eine Sanktion des ordentlichen Erwachsenenstrafrechts aus oder kann bei gegebenen Voraussetzungen eine Arbeitserziehung anordnen; für Delikte nach diesem Zeitpunkt muss er auf eine Sanktion des Erwachsenenstrafrechts erkennen. Analog
Art. 1 Abs. 4 VStGB 1
ist auch die prioritäre Sanktion zu bestimmen, denn die Massnahme bezweckt, eine Fehlentwicklung durch Erziehung zur Arbeit und durch charakterliche Festigung zu berichtigen und damit künftigen Straftaten vorzubeugen (
Art. 100bis StGB
; oben E. 2a; STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil II, S. 446 ff., 459 f.; TRECHSEL, a.a.O.,
Art. 100bis N 13
, 15). Der Monismus der Arbeitserziehung und der an das Jugendstrafrecht anknüpfende Erziehungsgedanke legen es nahe, die Massnahme einer zugleich
BGE 121 IV 155 S. 161
ausgesprochenen Freiheitsstrafe vorgehen zu lassen. Entsprechend ist der Vollzug der Strafe aufzuschieben und im Zeitpunkt der Entlassung aus dem Massnahmenvollzug zu entscheiden, ob und wieweit "allfällig aufgeschobene Strafen noch vollstreckt werden sollen" (
Art. 100ter Ziff. 3 StGB
; STRATENWERTH, a.a.O., § 13 N. 52 und N. 6; TRECHSEL, a.a.O.,
Art. 100ter N 7
). Dieses Vorgehen stellt die rechtsgleiche Behandlung verschiedener Täter nicht in Frage, weil aufgrund des objektiven Alterskriteriums von
Art. 100 StGB
ein unterschiedliches Sanktionensystem anwendbar wird und so zwei ungleiche Situationen zu beurteilen sind (
BGE 118 IV 351
E. 2e; vgl. auch STRATENWERTH, a.a.O., § 13 N. 24, sowie REHBERG, Strafrecht II, Strafen und Massnahmen, 6. Auflage, S. 142).
Hingegen muss an dieser Stelle offenbleiben, unter welchen Voraussetzungen sich ein Verzicht auf den Vollzug der Strafe rechtfertigen lässt; dafür wird es gerade auch auf die konkrete Situation im Einzelfall ankommen. Grundsätzlich ist aber STRATENWERTH (a.a.O., § 13 N. 52) zuzustimmen, dass es ebenso unvernünftig wie inhuman erschiene, den Erfolg der Arbeitserziehung nach Bewährung in der Probezeit durch nachträglichen Vollzug von aufgeschobenen Strafen wieder aufs Spiel zu setzen. Unter dem Gesichtspunkt von
Art. 100ter StGB
ist TRECHSEL (a.a.O., Art. 100ter N. 7) der Ansicht, bei erfolgreicher Massnahme sei auf den Vollzug der Strafe zu verzichten (in diesem Sinn wohl auch REHBERG, a.a.O., S. 147). Jedenfalls ist aufgrund des jugend- wie des erwachsenenstrafrechtlichen Massnahmenrechts davon auszugehen, dass es möglich sein muss, auf den nachträglichen Vollzug der Strafe zu verzichten (vgl. auch
BGE 111 IV 5
E. 2 und 3).
d) Es ist unbestritten, dass der Beschwerdegegner die Einweisungsvoraussetzungen von
Art. 100bis Ziff. 1 StGB
erfüllt und ihm deshalb die Arbeitserziehung zu ermöglichen ist. Die Vorinstanz hat die Massnahme angeordnet und zu Recht auf die Festsetzung einer Freiheitsstrafe verzichtet. Auf die Straftaten nach dem zurückgelegten 25. Altersjahr sind die
Art. 100 ff. StGB
nicht anwendbar. Die Vorinstanz hätte für diese eine Sanktion des ordentlichen Erwachsenenstrafrechts aussprechen müssen.
Entsprechend ist die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie für die nach dem zurückgelegten 25. Altersjahr begangenen Straftaten eine Sanktion des Erwachsenenstrafrechts festsetzt und deren Vollzug aufschiebt.