Urteilskopf
122 I 53
10. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 20. März 1996 i.S. X. gegen X. und Zivilgericht des Kantons Basel-Stadt (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste
Art. 4 BV
; rechtliches Gehör.
Es genügt der Verfassung, wenn die Eltern zum Ergebnis des Gesprächs, das der Richter im Verfahren nach
Art. 145 ZGB
von sich aus und unter vier Augen mit ihrem Kind geführt hat, vor dem Entscheid über die Kinderzuteilung Stellung nehmen können (E. 4a). Die Einzelheiten des Gesprächsinhalts müssen den Eltern nicht zugänglich gemacht werden (E. 4c). Daher ist auch ein Protokoll überflüssig (E. 5).
Mit Urteil vom 23. November 1994 schied das Zivilgericht des Kantons Basel-Stadt die Eheleute X. und übertrug die elterliche Gewalt über die Kinder E. (geboren 1979) und M. (geboren 1987) der Mutter; der 1981 geborene Sohn R. wurde derjenigen des Vaters unterstellt. Nach Einreichung der Appellation gegen dieses Urteil erwirkte Sohn E. ein Gespräch unter vier Augen mit dem erstinstanzlichen Instruktionsrichter, dem er den Wunsch vortrug, dem Vater statt der Mutter zugeteilt zu werden. Dem darauf abzielenden Gesuch des Vaters gab der Richter mit Verfügung vom 20. Februar 1995 statt mit der Begründung, Sohn E. habe anlässlich des Gesprächs überzeugend glaubhaft gemacht, er wolle lieber beim Vater als bei der Mutter sein; dieser Wille sei angesichts des Alters von Sohn E. zu respektieren.
Frau X. stellte ein Wiedererwägungsgesuch, das vom Instruktionsrichter des Zivilgerichts des Kantons Basel-Stadt am 7. März 1995 mit etwas ausführlicherer Begründung abgewiesen wurde. Den von Frau X. gleichzeitig mit dem Wiedererwägungsgesuch eingereichten Rekurs gegen die Verfügung vom 20. Februar 1995 wies die II. Kammer des Zivilgerichts des Kantons Basel-Stadt nach Anhörung beider Parteien am 16. November 1995 ohne Begründung ab.
Die von Frau X. gegen den Rekursentscheid eingereichte staatsrechtliche Beschwerde weist das Bundesgericht ab, soweit es auf sie eintritt.
Aus den Erwägungen:
4.
Die Beschwerdeführerin begründet die Verletzung der Verfassung damit, das Zivilgericht hätte ihr das rechtliche Gehör nur gewähren können, wenn es den Instruktionsrichter verpflichtet hätte, den Inhalt des Gesprächs zwischen ihm und Sohn E. festzuhalten und den Parteien zugänglich zu machen. Die Unterlassung der Erstellung eines ausführlichen Protokolls erwecke den Eindruck von Geheimjustiz und habe ihren Anspruch auf Stellungnahme und Beweisführung illusorisch gemacht.
a) Das durch
Art. 4 BV
gewährleistete rechtliche Gehör dient der Sachaufklärung und garantiert dem Betroffenen ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht im Verfahren. Er soll sich vor Erlass des Entscheids zur Sache äussern, erhebliche Beweise beibringen, Einsicht in die Akten nehmen und an der Erhebung von Beweisen mitwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis äussern können, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen (
BGE 121 III 331
E. 3b,
BGE 119 Ia 260
E. 6a,
BGE 117 Ia 262
E. 4b). Aus triftigen Gründen kann das Recht auf umfassende Information und Mitwirkung ohne Verletzung der Verfassung eingeschränkt werden (
BGE 113 Ia 81
E. 3a S. 83,
BGE 112 Ia 5
E. 2c). Insbesondere im Bereich des Kindesschutzes, wo die uneingeschränkte Offizialmaxime gilt, kann die zuständige Behörde nach eigenem Ermessen auf unübliche Art Beweise erheben und von sich aus Berichte einholen, auch wenn das im kantonalen Verfahrensrecht nicht ausdrücklich vorgesehen ist; massgebend ist in erster Linie das Wohl des Kindes (vgl.
Art. 307 Abs. 1 ZGB
). Daraus kann sich, wie in allen persönlichkeitsbezogenen Angelegenheiten, eine Einschränkung des Rechts auf Teilnahme an Beweiserhebungen ergeben, die freilich immer aus sachlichen Gründen gerechtfertigt sein muss (nicht publiziertes Urteil des Bundesgerichts vom 21. November 1994 i.S. St., E. 3d). Als verfassungskonform erachtet das Bundesgericht gerade auch die formlose Anhörung des Kindes in Abwesenheit der Eltern und ihrer Vertreter im Zusammenhang mit der Regelung von Kinderzuteilung und Besuchsrecht (nicht veröffentlichte Urteile vom 27. Juli 1995 i.S. M., E. 3, und vom 10. Juni 1991 i.S. St., E. 5). In solchen Fällen genügt es, wenn die Parteien nachträglich Gelegenheit bekommen, sich zum Beweisergebnis zu äussern (
BGE 119 Ia 260
E. 6d). Inwieweit sie von der Beweisaufnahme ausgeschlossen werden, entscheidet der Richter in Würdigung der auf dem Spiel stehenden Interessen, hier insbesondere des Kindeswohles, nach Ermessen (
BGE 119 Ia 260
E. 6c; CYRIL HEGNAUER, Die Wahrung der Interessen des Kindes im Scheidungsprozess, AJP/PJA 1994, S. 890; OSCAR VOGEL, Freibeweis in der Kinderzuteilung, in: FS C. HEGNAUER, Bern 1986, S. 614 f., 617 f. und 626 f.; INGEBORG SCHWENZER, Die UN-Kinderrechtskonvention und das schweizerische Kindesrecht, in AJP/PJA 1994, S. 823 f.; vgl. auch Botschaft über die Änderung des schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 15. November 1995, BBl 1996 I, S. 144 zu Art. 144 des Entwurfes).
b) (Ausführungen dazu, dass allenfalls vor dem 20. Februar 1995 vorgekommene Verfahrensmängel spätestens im Rekursverfahren geheilt worden
BGE 122 I 53 S. 56
sind und dass die Beschwerdeführerin auch zum im Wiedererwägungsentscheid ausführlicher begründeten Beweisergebnis hatte Stellung nehmen können, wozu Detailkenntnisse über den Gesprächsinhalt nicht erforderlich waren).
c) Streitig ist weiter, ob es
Art. 4 BV
verletzt, die bloss summarische Eröffnung des Gesprächsinhaltes an die Parteien durch die Erwartung des Sohnes E. und das objektiv beurteilte Kindeswohl zu rechtfertigen. Nur darauf kann sich der sehr knapp begründete Vorwurf (
Art. 90 Abs. 1 lit. b OG
) der Beschwerdeführerin beziehen, das Gespräch hätte aktenkundig gemacht werden müssen. Sie beruft sich dafür auf PATRICK STACH, der den Entscheid des Bundesgerichts vom 10. Juni 1991 i.S. St. kommentiert und verlangt, dass solche Gespräche auf Tonband aufgezeichnet werden (AJP/PJA 1992 S. 130; vgl. VOGEL, a.a.O., S. 628). Dabei übersieht sie jedoch, dass sich der Sachverhalt in jenem Entscheid ganz wesentlich vom hier zu beurteilenden Fall unterscheidet. Während dort bei zwei Augenscheinen jeweils nur eine Partei anwesend war (a.a.O., E. 3a), hat hier kein Elternteil am Gespräch zwischen Sohn E. und dem Instruktionsrichter teilgenommen; das Gespräch hat auch nicht bei einer Partei zu Hause stattgefunden. Es leuchtet ohne weiteres ein, dass eine Beweisaufnahme, an der nur die eine Partei anwesend sein konnte, wegen des Gebotes der Waffengleichheit zu Gunsten der abwesenden Partei ausführlich dokumentiert werden muss. Wie das im einzelnen zu geschehen hat, braucht hier nicht erörtert zu werden. Wenn im vorliegenden Fall das Zivilgericht, wie es in der Vernehmlassung ausführt, den Wunsch des Sohnes E. nach Vertraulichkeit, die ihm die unverfälschte freie Darlegung seiner Motive und Wünsche sowie ferner die Aufrechterhaltung eines ungetrübten Verhältnisses zu beiden Elternteilen ermöglichen sollte, als schützenswert erachtete, handelte es im Interesse der Verwirklichung des materiellen Rechts verfassungskonform.
5.
Die Beschwerdeführerin macht weiter erfolglos geltend, es sei nicht einzusehen, wieso der Inhalt des genannten Gesprächs stärker unterdrückt werden müsse als die Unterhaltungen, die in den Gutachten des psychologischen Dienstes ihren Niederschlag fänden. Nach der für Gutachten geltenden Praxis in Basel-Stadt hätte zumindest dem Vertreter der Beschwerdeführerin der Inhalt des Gesprächs offenbart werden müssen. Der von der Beschwerdeführerin zitierte Revers verpflichtet den unterzeichnenden Rechtsvertreter nur dazu, den Inhalt eines Gutachtens nicht seinem Mandanten weiterzugeben (STAEHELIN/SUTTER, Zivilprozessrecht, § 11 Rz. 57 S. 121). Daraus lässt sich kein Anspruch auf Einsicht in
BGE 122 I 53 S. 57
allfällige Gesprächsprotokolle ableiten, die Grundlage des Gutachtens gebildet hatten.
Wenn die Beschwerdeführerin schliesslich die Aufzeichnung des Gespräches verlangt mit der Begründung, was nicht in den Akten enthalten sei, existiere für das Verfahren nicht, bleibt sie ebenfalls erfolglos. Hat das Zivilgericht ohne Verletzung von
Art. 4 BV
die Geheimhaltung des Gesprächsinhalts geschützt und die Wiedergabe des Ergebnisses genügen lassen, macht es keinen Sinn, von Instruktionsrichter die Erstellung eines Wortprotokolls zu verlangen. Diese Rüge spielt für den Ausgang des Beschwerdeverfahrens keine Rolle (
BGE 120 Ia 220
E. 3d, 119 II 193 E. 3e).