BGE 122 III 316 vom 11. September 1996

Datum: 11. September 1996

Artikelreferenzen:  Art. 65 ZPO, Art. 4 BV , Art. 274f Abs. 1 Satz 2 OR, Art. 65 Abs. 5 ZPO, Art. 274f Abs. 1 OR

BGE referenzen:  83 III 92, 111 V 99, 117 IA 421, 119 IA 113, 120 IA 369, 121 III 266, 126 I 235, 136 III 90 , 121 III 266, 117 IA 421, 120 IA 369, 119 IA 113, 111 V 99, 83 III 92, 111 V 99, 83 III 92

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

122 III 316


57. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. September 1996 i.S. F. gegen R. (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

Art. 274f Abs. 1 Satz 2 OR . Beginn des Laufs der dreissigtägigen Klagefrist.
Die Klagefrist beginnt zu laufen, sobald die Schlichtungsbehörde das Nichtzustandekommen einer Einigung ausdrücklich festgestellt und diese Feststellung den Parteien mündlich oder schriftlich eröffnet hat (E. 2).
Folgt einer mündlichen Eröffnung eine schriftliche Mitteilung nach, in der der Beginn des Fristenlaufs unrichtig angegeben wird, ist das Vertrauen darauf zu schützen (E. 3).
Zeitpunkt, in dem behördliche Mitteilungen als zugestellt zu gelten haben (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 317

BGE 122 III 316 S. 317

A.- In einer Mietstreitigkeit zwischen F. als Vermieter und R. als Mieter beraumte die Schlichtungsbehörde Uri auf Begehren des Vermieters auf den 15. Dezember 1995 eine Schlichtungsverhandlung an. Zu dieser Verhandlung erschien der Mieter nicht. In einer schriftlichen Mitteilung an die Parteien vom 21. Dezember 1995 stellte die Schlichtungsbehörde daraufhin das Nichtzustandekommen der Einigung fest.
Am 24. Januar 1996 klagte F. beim Landsgerichtspräsidium Ursern gegen R. auf Bezahlung von Fr. 2'371.80. In seinem Urteil vom 25. März 1996 hielt das Landgerichtspräsidium F. vor, die Klagefrist von 30 Tagen gemäss Art. 274f Abs. 1 Satz 2 OR verpasst zu haben, und trat deshalb auf die Klage nicht ein.

B.- Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde von F. gut und hebt das Urteil des Landgerichtspräsidiums auf.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Hat in einer Mietstreitigkeit die Schlichtungsbehörde das Nichtzustandekommen der Einigung festgestellt, so muss nach Art. 274f Abs. 1 Satz 2 OR die Partei, die auf ihrem Begehren beharrt, innert 30 Tagen den Richter anrufen. Eine entsprechende Vorschrift enthielt schon Art. 28 Abs. 2 des inzwischen aufgehobenen Bundesbeschlusses vom 30. Juni 1972 über Massnahmen gegen Missbräuche im Mietwesen. Für die Auslegung der Bestimmung können daher auch Rechtsprechung und Lehre zum früheren Recht herangezogen werden.
Nach dem SVIT-Kommentar zum Schweizerischen Mietrecht (N. 8 und 10 zu Art. 274f) bleibt es den kantonalen Verfahrensgesetzen überlassen, festzulegen, wann die dreissigtägige Klagefrist zu laufen beginnt. Andere Autoren gehen jedoch davon aus, dass es sich dabei um eine Frage des Bundesrechts handelt (RAISSIG/SCHWANDER, Massnahmen gegen Missbräuche im Mietwesen, 3. Aufl. 1984, S. 144; ROLF HUNZIKER, Das Verfahren in Mietsachen, Diss. Zürich 1977, S. 138; RENÉ MÜLLER, Der Bundesbeschluss über Massnahmen gegen Missbräuche im Mietwesen, Diss. Zürich 1977, S. 233; ebenso das Obergericht TG, in: MP 1991, S. 203 ff., und das Kantonsgericht VS, in: RVJ 1984, S. 143 ff.). Diese Auffassung verdient den Vorzug. Unter welchen Voraussetzungen Mietstreitigkeiten zunächst der Schlichtungsbehörde und bei Ausbleiben einer Einigung anschliessend dem Gericht unterbreitet werden können, bestimmt das Bundesrecht. Im Interesse der einheitlichen Handhabung
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dieses bundesrechtlichen Rechtsschutzanspruchs ist die Regelung der Klagefrist in Art. 274f Abs. 1 OR als abschliessend aufzufassen (vgl. auch BGE 121 III 266 ff.).
Das Landgerichtspräsidium und der Beschwerdeführer nehmen übereinstimmend an, dass für den Beginn der Klagefrist die schriftliche Mitteilung der Feststellung der Nichteinigung massgebend ist. Dieser Standpunkt wurde zwar vereinzelt auch in der Literatur vertreten (GUINAND/KNOEPFLER, SJK 359 (1979), S. 15). Die herrschende Meinung geht heute jedoch dahin, dass die Frist bereits am Tag nach der gescheiterten Schlichtungsverhandlung zu laufen beginnt (JEAN-MARC RAPP, Autorités et procédure en matière de bail à loyer, in: 8ème séminaire sur le droit du bail, Neuchâtel 1994, S. 15; JEANPRÊTRE PITTET/GUINAND/WESSNER, SJK 362B (1993), S. 15; SVIT-Komm. zum Schweizerischen Mietrecht, N. 10 zu Art. 274f; ebenso bereits HUNZIKER, a.a.O.; MÜLLER, a.a.O.; unentschieden RAISSIG/SCHWANDER, a.a.O.), was im übrigen auch der Rechtsprechung verschiedener kantonaler Gerichte entspricht (Obergericht TG, a.a.O.; Kantonsgericht VS, a.a.O.; ebenso offenbar die Zürcher Praxis, auf die GMÜR/CAVIEZEL, Mietrecht - Mieterschutz, 2. Aufl. 1979, S. 81 hinweisen). Dieser Betrachtungsweise ist grundsätzlich zuzustimmen. Präzisierend ist allerdings festzuhalten, dass die Tatsache des Scheiterns einer Schlichtungsverhandlung für sich allein nicht genügt, um die Frist auszulösen. Wie sich bereits aus dem Gesetzeswortlaut ergibt, bedarf es dazu vielmehr zusätzlich der in der Verhandlung von der Schlichtungsbehörde zumindest mündlich getroffenen Feststellung, dass keine Einigung zustandegekommen ist (im gleichen Sinne RAPP, a.a.O.; JEANPRÊTRE PITTET/GUINAND/WESSNER, a.a.O.; anders wohl SVIT-Komm., a.a.O.). Entgegen MÜLLER (a.a.O., Fn. 115) kann blosses "konkludentes Verhalten, z.B. die Entlassung der Parteien" nicht genügen. Die Frist beginnt erst zu laufen, wenn die Schlichtungsbehörde den Parteien bewusst gemacht hat, dass das Schlichtungsverfahren abgeschlossen ist, indem sie das Nichtzustandekommen der Einigung ausdrücklich festgestellt hat. Fristauslösend ist stets die - mündliche oder schriftliche - Eröffnung dieser Feststellung. Eröffnet die Schlichtungsbehörde den Parteien mündlich in der Schlichtungsverhandlung, dass das Schlichtungsverfahren ohne Einigung beendigt ist, so löst dies den Lauf der Klagefrist grundsätzlich unbesehen darum aus, ob die verfahrensbeendigende Feststellung den Parteien später auch noch schriftlich mitgeteilt wird. Stellt die Schlichtungsbehörde dagegen - aus welchen Gründen auch immer - das
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Nichtzustandekommen der Einigung nicht bereits in der Schlichtungsverhandlung, sondern erst in einer späteren schriftlichen Mitteilung an die Parteien ausdrücklich fest, so beginnt die dreissigtägige Frist erst mit deren Zustellung zu laufen.

3. Aus den Akten geht nicht hervor, ob die Schlichtungsbehörde bereits an der Verhandlung vom 15. Dezember 1995 das Nichtzustandekommen der Einigung festgestellt hat oder ob sie diese Feststellung erst in der schriftlichen Mitteilung vom 21. Dezember 1995 ausdrücklich getroffen hat. Aufgrund der besonderen Umstände kann die Frage jedoch im vorliegenden Fall offen bleiben. Entscheidend ist nämlich, dass die Schlichtungsbehörde in der schriftlichen Mitteilung vom 21. Dezember 1995 festgehalten hat, der Beschwerdeführer könne seine Forderung, wenn er sie durchsetzen wolle, innert 30 Tagen beim Präsidium des Landgerichts Ursern geltend machen. Diesen Hinweis durfte der Beschwerdeführer nach Treu und Glauben dahin verstehen, dass die Frist mit der Mitteilung, in der er auf sie aufmerksam gemacht wurde, zu laufen begann. Er durfte daher in guten Treuen davon ausgehen, er habe vom Zeitpunkt der Zustellung der Mitteilung an gerechnet 30 Tage Zeit, um die Klage anzuheben. Und darauf durfte er sich selbst dann verlassen, wenn die Angabe der Schlichtungsbehörde falsch gewesen sein sollte, weil die Feststellung des Nichtzustandekommen der Einigung bereits an der Schlichtungsverhandlung erfolgt war und die Frist gemäss Art. 274f Abs. 1 Satz 2 OR deshalb eigentlich bereits am auf die Verhandlung folgenden Tag zu laufen begonnen hatte. Denn diesfalls könnte sich der Beschwerdeführer jedenfalls darauf berufen, dass ihm aus der unrichtigen behördlichen Auskunft über die Klagefrist kein Nachteil entstehen darf ( BGE 117 Ia 421 E. 2a S. 422, mit Hinweisen; vgl. ferner auch RVJ 1984, S. 145 ff.).

4. Damit bleibt zu prüfen, ob der Beschwerdeführer die Frist von 30 Tagen seit der Zustellung der Mitteilung der Schlichtungsbehörde gewahrt hat, indem er die Klage am 24. Januar 1996 eingereicht hat. Das Landgerichtspräsidium verneint dies, weil es davon ausgeht, die Zustellung der Mitteilung sei bereits am 21. Dezember 1995, dem Datum ihrer Postaufgabe, erfolgt. Der Beschwerdeführer rügt diese Auffassung als willkürlich; massgebend sei, dass ihm die Mitteilung erst am 27. Dezember 1995 ausgehändigt worden sei.
a) Ein Verstoss gegen das aus Art. 4 BV abgeleitete Willkürverbot liegt nach der Rechtsprechung nicht bereits dann vor, wenn eine andere als die vom kantonalen Gericht gewählte Lösung ebenfalls vertretbar oder gar vorzuziehen ist. Das Bundesgericht schreitet erst ein, wenn der
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angefochtene Entscheid nicht nur unrichtig, sondern schlechthin unhaltbar ist, insbesondere wenn er eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt ( BGE 120 Ia 369 E. 3a S. 373; BGE 119 Ia 113 E. 3a S. 117, je mit Hinweisen).
b) Die kantonalen Verfahrensgesetze regeln gewöhnlich nicht ausdrücklich, in welchem Zeitpunkt eine Gerichtsurkunde als zugestellt gilt. Auch die Zivilprozessordnung des Kantons Uri enthält darüber keine ausdrückliche Regelung. Art. 65 Abs. 5 ZPO /UR bestimmt jedoch immerhin, dass die Zustellung auch dann als erfolgt gilt, wenn der Empfang schuldhaft verhindert wird. Daraus ergibt sich, dass die Zustellung im Normalfall erst vollendet ist, wenn der Adressat die Sendung empfangen hat. Dies entspricht denn heute auch allgemeiner schweizerischer Rechtsauffassung (siehe dazu etwa GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 1979, S. 253; LEUCH/MARBACH/KELLERHALS, Kommentar zur Zivilprozessordnung des Kantons Bern, N. 1 zu Art. 98; HAUSER/HAUSER, Komm. zum Gerichtsverfassungsgesetz des Kantons Zürich, 3. Aufl. 1978, S. 635, N. 2 IV/1/a zu § 190; JEANPRÊTRE, L'expédition et la réception des actes de procédure et des actes juridiques, SJZ 69/1973, S. 349 ff.; RIO KAMBER, Das Zustellungswesen im schweizerischen Zivilprozess, Zürcher Diss., Winterthur 1957, S. 16; vgl. ferner auch BGE 111 V 99 E. 2b S. 101; BGE 83 III 92 E. 1 S. 95 f.; Kantonsgericht SG, in: SJZ 62/1966, S. 275 f.). Massgebend für den Beginn von Fristen, die durch die Zustellung einer Gerichtsurkunde ausgelöst werden, ist daher der Zeitpunkt des Eintreffens im Machtbereich des Adressaten. Diesen in Art. 65 Abs. 5 ZPO /UR stillschweigend vorausgesetzten und zudem heute in der Schweiz allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz verletzt das Landgerichtspräsidium krass, wenn es den Zeitpunkt der Postaufgabe der Mitteilung zum Ausgangspunkt seiner Fristberechnung macht, statt auf den Zeitpunkt ihres Empfangs durch den Beschwerdeführer abzustellen.
Wie der Beschwerdeführer mit einer Nachforschung bei der Post nachgewiesen hat, ist ihm die Sendung der Schlichtungsbehörde erst am 27. Dezember 1995 ausgehändigt worden. Die dreissigtägige Klagefrist begann somit erst tags darauf, d.h. am 28. Dezember 1995 zu laufen, weshalb der Beschwerdeführer sie mit der Einreichung der Klage am 24. Januar 1996 gewahrt hat. Der gegenteilige Standpunkt des Landesgerichtspräsidiums ist offensichtlich unhaltbar. Das führt zur Gutheissung der Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.

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