Urteilskopf
122 IV 292
45. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 31. Oktober 1996 i.S. F. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste
Art. 44 Ziff. 6 Abs. 2 StGB
; nachträgliche Einweisung in eine Anstalt für Trunksüchtige.
Auch die nachträgliche Anordnung einer stationären Massnahme für Trunksüchtige ist zulässig.
A.-
Am 30. Juni 1994 verurteilte das Bezirksgericht Zürich den zweifach, nämlich in den Jahren 1989 und 1991, einschlägig vorbestraften F. (geboren 1966) wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand
BGE 122 IV 292 S. 293
etc. zu sechs Monaten Gefängnis (unbedingt). Am 11. April 1995 stellte F. gestützt auf
Art. 44 Ziff. 6 Abs. 2 StGB
das Gesuch um nachträgliche Anordnung einer Massnahme für Trunksüchtige unter Aufschub des Strafvollzugs. Das Bezirksgericht Zürich ordnete am 11. Mai 1995 in Gutheissung des Gesuchs die Einweisung von F. in eine Anstalt für Trunksüchtige an und schob den Vollzug der Strafe für die Dauer der Massnahme auf. Es nahm Vormerk vom bereits (nämlich am 10. April 1995) erfolgten Massnahmeantritt von F. in einer Klinik. Zur Begründung seines Entscheides führte es aus, dass
Art. 44 Ziff. 6 Abs. 2 StGB
nach der Praxis der Gerichte und der Strafvollzugsbehörden auch auf Trunksüchtige anzuwenden sei und dass die Voraussetzungen der nachträglichen Anordnung einer Massnahme im übrigen erfüllt seien.
Das Obergericht des Kantons Zürich hob am 11. April 1996 den Beschluss des Bezirksgerichts vom 11. Mai 1995 in Gutheissung des von der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich dagegen eingelegten Rekurses auf und ordnete den Vollzug der Gefängnisstrafe von sechs Monaten gemäss dem Urteil des Bezirksgerichts vom 30. Juni 1994 an. Zur Begründung wird im wesentlichen ausgeführt,
Art. 44 Ziff. 6 Abs. 2 StGB
betreffend die nachträgliche Anordnung einer Massnahme unter Aufschub des Strafvollzugs sei nur auf Rauschgiftsüchtige, nicht auch auf Trunksüchtige anwendbar.
B.-
F. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich vom 11. April 1996 sei aufzuheben und die Sache zur Bestätigung des Beschlusses des Bezirksgerichts vom 11. Mai 1995 an die Vorinstanz zurückzuweisen.
F. ersucht zudem um die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich haben auf Gegenbemerkungen verzichtet.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Art. 44 StGB
enthält in den Ziffern 1 bis 5 Vorschriften über die Anordnung von Massnahmen gegenüber Trunksüchtigen und den Vollzug aufgeschobener Strafen nach der Entlassung aus der Anstalt. Diese Vorschriften sind nach
Art. 44 Ziff. 6 Abs. 1 StGB
sinngemäss auf Rauschgiftsüchtige anwendbar.
Art. 44 Ziff. 6 Abs. 2 StGB
, angefügt durch Bundesgesetz vom 21. Juni 1991, in Kraft seit 1. Januar 1992, lautet:
BGE 122 IV 292 S. 294
Erweist sich ein zu einer Freiheitsstrafe verurteilter Rauschgiftsüchtiger nachträglich als behandlungsbedürftig, behandlungsfähig und behandlungswillig, so kann ihn der Richter auf sein Gesuch hin in eine Anstalt für Rauschgiftsüchtige einweisen und den Vollzug der noch nicht verbüssten Strafe aufschieben.
a) Nach Auffassung der Vorinstanz bezieht sich
Art. 44 Ziff. 6 Abs. 2 StGB
nach seinem Wortlaut und seiner systematischen Stellung im Gesetz eindeutig allein auf rauschgiftsüchtige Täter. Auch in den Verhandlungen der Eidgenössischen Räte sei insoweit ausschliesslich von Rauschgiftsüchtigen die Rede gewesen. Da somit keine Unklarheit bestehe, sei auch kein Bedarf vorhanden, die Bestimmung auszulegen. Hinsichtlich des Heilungsbedarfs gebe es zwischen Trunksüchtigen einerseits und Rauschgiftsüchtigen andererseits einen Unterschied. Während Trunksüchtige von der legalen Droge Alkohol abhängig und allfällige Delikte Sekundärerscheinungen seien, seien Rauschgiftsüchtige von der illegalen Droge Betäubungsmittel abhängig und würden oft bereits wegen ihrer Sucht zwingend straffällig. Da die Abstinenzbehandlung zur Deliktsverhütung bei den Trunksüchtigen demzufolge weniger dringlich sei als bei den Rauschgiftsüchtigen, habe man letzteren eine weitergehende Suchtbehandlung ermöglichen wollen. Auch vor diesem Hintergrund sei anzunehmen, dass
Art. 44 Ziff. 6 Abs. 2 StGB
ausschliesslich auf Rauschgiftsüchtige anwendbar sei. Das Gesetz lasse daher insofern keine Fragen offen, die es zu beantworten gelte; eine echte Lücke liege demnach auch nicht vor.
b) Der Beschwerdeführer stellt nicht in Abrede, dass die grammatikalische, systematische und historische Auslegungsmethode für die Auffassung der Vorinstanz sprechen. Er macht aber wie bereits im kantonalen Verfahren geltend, diese Methoden seien lediglich Hilfsmittel, um den eigentlichen Sinn einer Gesetzesbestimmung zu ermitteln. Massgebend sei die "ratio legis". Nach ihr sei
Art. 44 Ziff. 6 Abs. 2 StGB
in extensiver Auslegung auch auf Trunksüchtige anwendbar. Allenfalls sei eine echte Lücke anzunehmen, die in freier Rechtsfindung praeter legem durch einen zulässigen Analogieschluss zugunsten des Täters in dem Sinne zu füllen sei, dass
Art. 44 Ziff. 6 Abs. 2 StGB
betreffend Rauschgiftsüchtige auch auf Trunksüchtige angewendet werde. Es gebe keinen sachlichen Grund, die Trunksüchtigen, die im übrigen gleich behandelt werden wie die Rauschgiftsüchtigen (
Art. 44 Ziff. 6 Abs. 1 StGB
), in bezug auf die Möglichkeit der nachträglichen Anordnung einer Massnahme anders zu behandeln als die Rauschgiftsüchtigen.
BGE 122 IV 292 S. 295
2.
a)
Art. 44 Ziff. 6 Abs. 2 StGB
bezieht sich nach seinem Wortlaut ausschliesslich auf rauschgiftsüchtige Straftäter.
b)
Art. 44 Ziff. 6 Abs. 2 StGB
ist bei Gelegenheit der Änderung des Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes betreffend strafbare Handlungen gegen Leib und Leben, gegen die Sittlichkeit und gegen die Familie sowie betreffend die disziplinarische Ahndung des Konsums geringer Mengen von Betäubungsmitteln während des Militärdienstes (siehe dazu die Botschaft des Bundesrates, BBl 1985 II 1009 ff., 1098 f.) auf Antrag von Ständerat Jagmetti und Vorschlag der ständerätlichen Kommission von den Eidgenössischen Räten diskussionslos angenommen worden (siehe Amtl.Bull. StR 1987 S. 359, 361, 363, 407 f., Voten Jagmetti und Bundesrätin Kopp; Amtl.Bull. NR 1990 S. 2263, Votum Bundesrat Koller).
Ständerat Jagmetti begründete seinen Antrag in der Kleinen Kammer ausführlich (Amtl.Bull. StR 1987 S. 407); (siehe
BGE 122 IV 290
E. 1a).
Gemäss den Vorstellungen des Gesetzgebers sollte damit im Sinne eines zusätzlichen Beitrags zur Lösung des dringenden gesellschaftspolitischen Problems der Drogenkriminalität die Möglichkeit geschaffen werden, auch noch nach der Verurteilung eines betäubungsmittelabhängigen Straftäters zu einer Freiheitsstrafe und selbst nach Beginn des Strafvollzugs unter den in
Art. 44 Ziff. 6 Abs. 2 StGB
genannten Voraussetzungen eine Massnahme zur Behandlung des Täters anzuordnen, da die oft noch jungen Drogenabhängigen nicht selten erst in dieser späteren Phase die notwendige Einsicht und Bereitschaft bekunden, sich einer solchen Behandlung zu unterziehen.
aa) Der Gesetzgeber wollte mithin unter dem Eindruck des wichtigen und aktuellen Problems der Betäubungsmittelabhängigkeit und der damit zusammenhängenden Kriminalität möglichst rasch eine ergänzende Regelung schaffen, um die soziale Wiedereingliederung von betäubungsmittelabhängigen Tätern zu erleichtern. Er fand die Gelegenheit, diesen Änderungsvorschlag im Gesetzesentwurf C des genannten Revisionspaketes unterzubringen, der die disziplinarische Ahndung des Konsums geringer Mengen von Betäubungsmitteln während des Militärdienstes regelte. Ständerat Jagmetti machte darauf aufmerksam, es gehe dabei nicht nur um irgendeine Finesse im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches, sondern letztlich um ein soziales Problem (Amtl.Bull. StR 1987 S. 407). Er wies darauf hin, "dass der ganze Artikel 44, der ursprünglich ausschliesslich für die Alkoholiker gedacht war, etwas kompliziert, unübersichtlich formuliert ist." Wenn nun vorgeschlagen werde, "heute nicht die ganze
BGE 122 IV 292 S. 296
Arbeit zu tun, sondern das Wesentliche nur noch beizufügen, so deshalb, weil uns später einmal eine Vorlage erwartet, die den ganzen Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches betrifft. Für heute geht es einfach um die Lösung dieses an sich wichtigen und aktuellen Problems" (Amtl.Bull. StR 1987 S. 408).
bb) Der Gesetzgeber hat im Bestreben, aus aktuellem Anlass möglichst rasch eine Regelung betreffend die nachträgliche Anordnung einer Massnahme für rauschgiftsüchtige Täter zu schaffen und diese im Rahmen des genannten grossen Revisionspaketes zu verabschieden, dem Anschein nach nicht ausreichend bedacht, dass sich die gleichen Fragen auch in bezug auf alkoholsüchtige Straftäter stellen, und dass durch die auf rauschgiftsüchtige Täter beschränkte neue Regelung eine bis anhin nicht bestehende Diskrepanz hinsichtlich der Behandlung der Alkoholsüchtigen einerseits und der Rauschgiftsüchtigen andererseits geschaffen wird. Nichts deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber die nachträgliche Anordnung einer Massnahme etwa für alkoholsüchtige Täter aus diesem oder jenem Grunde prinzipiell ablehnte.
Unter diesen Umständen muss eine echte Gesetzeslücke angenommen werden. Sie ist unter Rückgriff auf die "ratio legis" auszufüllen.
c) Es mag zutreffen, dass die Betäubungsmittelabhängigen trotz ihrer im Vergleich zu den Alkoholabhängigen weit geringeren Zahl gerade auch wegen der Illegalität der Betäubungsmittel in kriminalpolitischer Hinsicht vielfältigere Probleme bereiten als die Alkoholsüchtigen. Daher mag insoweit vielen die Lösung des Betäubungsmittelproblems dringlicher erscheinen als die Lösung des dadurch etwas in den Hintergrund gedrängten Alkoholproblems. Dies ist hier indessen unerheblich. Entscheidend ist vielmehr, dass sich die Frage der nachträglichen Anordnung einer Massnahme in bezug auf einen alkoholabhängigen Täter in genau gleicher Weise stellt wie hinsichtlich eines betäubungsmittelabhängigen Delinquenten. In beiden Fällen kann sich der rechtskräftig zu einer Strafe verurteilte Süchtige unter Umständen erst nachträglich als behandlungsbedürftig, behandlungsfähig und behandlungswillig erweisen. In beiden Fällen ist die nachträgliche Anordnung einer Massnahme im Interesse sowohl des Betroffenen als auch der Allgemeinheit in gleicher Weise sinnvoll. Es gibt keinen sachlichen Grund, die Möglichkeit der nachträglichen Anordnung einer Massnahme auf rauschgiftsüchtige Täter zu beschränken. Nach dem Strafgesetzbuch hat die Massnahme ganz allgemein Vorrang vor der Strafe. Der Richter hat unter
BGE 122 IV 292 S. 297
Aufschub des Strafvollzugs die Einweisung des Verurteilten in eine Anstalt anzuordnen, wenn die im Gesetz hiefür genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Insoweit sind insbesondere die trunksüchtigen und die rauschgiftsüchtigen Täter gleichgestellt; nach
Art. 44 Ziff. 6 Abs. 1 StGB
sind die Bestimmungen betreffend Trunksüchtige (
Art. 44 Ziff. 1-5 StGB
) sinngemäss auf Rauschgiftsüchtige anwendbar. Dieser Vorrang des Vollzugs der Massnahme vor dem Strafvollzug muss konsequenterweise für beide Täterkategorien auch dann in gleicher Weise gelten, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen der Massnahme erst nachträglich erfüllt sind.
d) Der Vorentwurf der Expertenkommission von 1993 zum Allgemeinen Teil und zum Dritten Buch des Strafgesetzbuches und zu einem Bundesgesetz über die Jugendstrafrechtspflege sieht in Art. 69 ("Änderung der Sanktion") unter anderem ganz allgemein die Möglichkeit der nachträglichen Anordnung einer stationären Massnahme vor (vgl. dazu HANS WIPRÄCHTIGER, Das Massnahmenrecht der Expertenkommission - Verbesserte Hilfe für die Täter und verbesserter Schutz für die Allgemeinheit, ZStrR 112/1994 S. 405 ff., 425 f.). Dies wird in dem auf der Grundlage der Schlussberichte der Expertenkommission erstellten Bericht des Bundesamtes für Justiz von 1993 damit begründet, dass im Bereich der sozialtherapeutischen Hilfen grösstmögliche Flexibilität ein dringendes praktisches Gebot ist (Bericht S. 89 f.). Art. 69 des Vorentwurfs hat insoweit im Vernehmlassungsverfahren breite Zustimmung gefunden. Auch diese zu erwartende Gesetzesrevision ist zu berücksichtigen, zumal mit ihr nicht das geltende System grundlegend geändert wird, sondern insoweit gerade Lücken des geltenden Rechts unter prinzipieller Beibehaltung der Grundlagen ausgefüllt werden sollen (siehe dazu
BGE 110 II 293
E. 2a S. 296; vgl. ferner
BGE 117 IV 276
E. 3c S. 279).
e)
Art. 44 Ziff. 6 Abs. 2 StGB
betreffend die nachträgliche Anordnung einer stationären Massnahme für Rauschgiftsüchtige ist somit analog auch auf stationäre Massnahmen für Trunksüchtige anzuwenden.
Dies ist kein unzulässiger Analogieschluss zu Ungunsten des Täters. Das Gesetz sieht die stationäre Massnahme für Trunksüchtige und ihren Vorrang vor dem Strafvollzug ausdrücklich vor. Diese Massnahme hat im Interesse des Betroffenen und der Allgemeinheit auch dann Vorrang vor der Strafe, wenn sich die gesetzlichen Voraussetzungen der Massnahme erst nach der rechtskräftigen Verurteilung des Täters zu einer Strafe und allenfalls erst nach dem
BGE 122 IV 292 S. 298
Strafantritt als erfüllt erweisen. Daher muss eine stationäre Massnahme für Trunksüchtige, wie dies
Art. 44 Ziff. 6 Abs. 2 StGB
für stationäre Massnahmen für Rauschgiftsüchtige ausdrücklich vorsieht, vom Richter auch noch nachträglich angeordnet werden können, wenn der Verurteilte darum ersucht.
3.
Die Vorinstanz verletzte somit Bundesrecht, indem sie die durch den Beschluss des Bezirksgerichts Zürich vom 11. Mai 1995 in Anwendung von
Art. 44 Ziff. 6 Abs. 2 StGB
unter Aufschub des Strafvollzugs nachträglich angeordnete Einweisung des Beschwerdeführers in eine Anstalt für Trunksüchtige aufhob und den Vollzug der Strafe von sechs Monaten Gefängnis gemäss dem Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 30. Juni 1994 anordnete mit der Begründung, dass
Art. 44 Ziff. 6 Abs. 2 StGB
nicht auch auf Trunksüchtige anwendbar sei.
Der angefochtene Beschluss ist in Gutheissung der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.