BGE 122 IV 356 vom 15. November 1996

Datum: 15. November 1996

Artikelreferenzen:  Art. 55 VRV, Art. 51 SVG , Art. 92 Abs. 2 SVG, Art. 51 Abs. 1 SVG, Art. 55 Abs. 2 VRV, Art. 277bis BStP

BGE referenzen:  83 IV 42, 83 IV 46, 95 IV 150, 97 IV 224, 124 IV 79 , 83 IV 42, 95 IV 150, 83 IV 46, 97 IV 224

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

122 IV 356


54. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 15. November 1996 i.S. Generalprokurator des Kantons Bern gegen T. (Nichtigkeitsbeschwerde)

Regeste

Art. 92 Abs. 2 SVG ; pflichtwidriges Verhalten nach Unfall; Unfall, Verletzung.
Atypischer Unfall. Wer mit seinem Personenwagen die Flucht vor einem Fussgänger ergreift, diesen dabei anfährt und im Wissen darum seine Flucht fortsetzt, flüchtet nach einem Unfall im Sinne von Art. 92 Abs. 2 SVG (E. 3a).
Wer bei einem Unfall eine leichte Verstauchung, Prellung und Schürfung eines Fingers erleidet, wird verletzt im Sinne dieser Bestimmung. Das gilt ungeachtet davon, ob eine ärztliche Behandlung nötig ist (E. 3b; Bestätigung der Rechtsprechung).

Sachverhalt ab Seite 357

BGE 122 IV 356 S. 357

A.- T. behinderte F. am 29. Januar 1992 durch seine Fahrweise mehrfach in dessen freien Fahrt. In der Folge überholte F. den Personenwagen des T., worauf beide Fahrer anhielten. F. stieg aus und begab sich zum anderen Fahrzeug. Nachdem entweder T. oder F. die Fahrertüre des Personenwagens T. geöffnet hatte, fasste F. an deren Griff. In diesem Augenblick gab T. aus Angst Gas und fuhr weg. Dadurch kam F. zu Fall und zog sich eine leichte Verletzung an einem Finger zu, die ärztlich nicht behandelt werden musste.

B.- Mit Urteil vom 7. Juni 1994 gab der Gerichtspräsident von Niedersimmental dem Verfahren gegen T. wegen Missachtung des Vortritts, mangelnder Rücksichtnahme auf nachfolgende Fahrzeuge sowie pflichtwidrigen Verhaltens nach Verkehrsunfall wegen Eintritts der absoluten Verjährung keine weitere Folge.
Diesen Entscheid bestätigte das Obergericht des Kantons Bern (I. Strafkammer) am 9. Mai 1996 auf Appellation sowohl von T. als auch des Generalprokurators des Kantons Bern.

C.- Der Generalprokurator des Kantons Bern erhebt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, das Urteil des Obergerichts (I. Strafkammer) des Kantons Bern vom 9. Mai 1996 aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung beziehungsweise zur Verurteilung von T. an die Vorinstanz zurückzuweisen, soweit es dem Verfahren gegen T. wegen pflichtwidrigen Verhaltens nach Unfall keine weitere Folge gegeben habe.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3. Ergreift ein Fahrzeugführer, der bei einem Verkehrsunfall einen Menschen getötet oder verletzt hat, die Flucht, so wird er mit Gefängnis bestraft ( Art. 92 Abs. 2 SVG ; SR 741.01).
a) Art. 92 Abs. 2 SVG setzt zunächst einen Verkehrsunfall und eine daran anschliessende Flucht des beteiligten Fahrzeugführers voraus. Nach der Rechtsprechung gilt als Strassenverkehrsunfall jedes schädigende Ereignis, das geeignet ist, einen Personen- oder Sachschaden hervorzurufen ( BGE 83 IV 46 E. 1 mit Hinweis). Der Beschwerdegegner ergriff mit seinem Personenwagen die Flucht vor F., fuhr diesen dabei an und setzte die Fahrt im Wissen um das Vorgefallene fort. Angesichts des Zusammenstosses zwischen dem Personenwagen und dem Fussgänger ist vorliegend ein Verkehrsunfall im Sinne von Art. 92 Abs. 2 SVG (i.V.m. Art. 51 Abs. 1 SVG ) gegeben. Wohl zeigt der Unfallhergang unter anderem insofern einen atypischen Verlauf, als der Beginn der Flucht dem Unfall
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zeitlich vorgelagert war. Doch flüchtete der Beschwerdeführer im Sinne von Art. 92 Abs. 2 SVG , als er trotz des Unfalles seine Fahrt fortsetzte und sich vom Unfallort entfernte.
b) Zu prüfen bleibt, ob das objektive Tatbestandsmerkmal der Verletzung gemäss Art. 92 Abs. 2 SVG erfüllt ist.
In einem älteren Entscheid hat das Bundesgericht erwogen, der Begriff der Körperverletzung gemäss Art. 36 Abs. 2 MFG umfasse namentlich innere Verletzungen, die äusserlich nicht sichtbar seien, sowie Quetschungen und Schürfwunden, sofern es sich hierbei nicht bloss um geringfügige, praktisch bedeutungslose Schäden handle. Eine Quetschung mit Bluterguss, zumal wenn sie eine Arbeitsunfähigkeit von mindestens vier Tagen zur Folge habe, sei eine Verletzung im Sinne von Art. 36 Abs. 2 MFG ( BGE 83 IV 42 ). Seit dem Inkrafttreten des geltenden Strassenverkehrsgesetzes hat sich das Bundesgericht in zwei publizierten Entscheiden zum Begriff der Verletzung gemäss Art. 92 Abs. 2 SVG geäussert. Es führte aus, das Gesetz spreche ohne Einschränkung von einem "verletzten" Menschen, weshalb es auf die Schwere der Verletzung nicht ankomme und es somit unerheblich sei, dass sie ambulant behandelt werden könne. Eine Person sei schon dann "verletzt" im Sinne dieser Bestimmung, wenn sie kleine Schürfungen oder Prellungen erleide ( BGE 95 IV 150 E. 1; BGE 97 IV 224 ). Diese Rechtsprechung wurde im Schrifttum überwiegend zustimmend aufgenommen (BADERTSCHER/SCHLEGEL, Strassenverkehrsgesetz, 2. Aufl., Zürich 1967, S. 257; BUSSY/RUSCONI, Commentaire du code suisse de la circulation routière, 3e éd., Lausanne 1996, N. 2.2 ad Art. 92 LCR; GIGER/SIMMEN, Kommentar zum SVG, 5. Aufl., Zürich 1996, S. 237; LEIPOLD, Verkehrsunfallflucht, Eine rechtsvergleichende Untersuchung der Länder Österreich, Schweiz und Bundesrepublik Deutschland, Diss. Pfaffenweiler 1987, S. 151; SCHAFFHAUSER, Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Bd. I, Bern 1984, N. 804; SCHULTZ, Die Strafbestimmungen des Bundesgesetzes über den Strassenverkehr vom 19. Dezember 1958, Bern 1964, S. 218; ders., Die strafrechtliche Rechtsprechung zum Strassenverkehrsrecht in den Jahren 1968-1972, S. 179; ULLRICH, Strafrechtlich sanktionierte Hilfeleistungspflichten in der Schweiz, Diss. Diessenhofen 1980, S. 174 f.; vgl. auch FRANCIS MEYER, Les dispositions pénales de la loi fédérale sur la circulation routière, ZStrR 76/1960, S. 44 f.; WEIGEND/GEUENICH, Verkehrsunfallflucht im europäischen Ausland, Deutsches Autorecht 57/1988, S. 267 Fn. 104; anders THALMANN, Pflichtwidriges Verhalten,
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Im Stiche lassen eines Verletzten und Führerflucht nach Unfällen im Strassenverkehr, Diss. Basel 1968, S. 107).
Wie dargelegt wurde, trifft Art. 92 Abs. 2 SVG keine Unterscheidung zwischen schweren und leichten Verletzungen ( BGE 83 IV 42 ; BGE 95 IV 150 E. 1). Die Rechtsprechung hat aber anerkannt, dass eine Person nicht als verletzt im Sinne von Art. 92 Abs. 2 SVG zu betrachten sei, wenn sie nur absolut geringfügige, praktisch bedeutungslose Schäden erlitten habe, denen kaum Beachtung geschenkt werden müsse ( BGE 83 IV 42 ). Kleine Schürfungen oder geringfügige Prellungen genügten jedoch, damit jemand als verletzt im Sinne der fraglichen Bestimmung gelte ( BGE 95 IV 150 E. 1). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Der Umstand, dass Art. 55 Abs. 2 der Verkehrsregelverordnung (VRV; SR 741.11) vom 13. November 1962 "bei kleinen Schürfungen und Prellungen" eine Benachrichtigung der Polizei nicht vorschreibt, steht dem nicht entgegen, zumal der Verursacher auch bei solch geringfügigen Verletzungen seinen Namen und seine Adresse anzugeben hat ( Art. 55 Abs. 2 VRV ). Damit wird vorausgesetzt, dass er den Unfallort nicht einfach verlassen darf. Nur weil das in Art. 51 SVG festgelegte allgemeine Erfordernis der Polizeibenachrichtigung bei Unfällen mit Personenschaden entfällt, darf nicht angenommen werden, solche kleinen Verletzungen machten keinerlei Hilfe erforderlich und eine Führerflucht sei nicht möglich. Da Kollisionen zwischen einem Fahrzeug und einem Fussgänger oft schwere, nicht immer sichtbare Folgen nach sich ziehen, soll der Verletzer in jedem Fall nach dem Verunfallten sehen und auch bei harmlos scheinenden Verletzungen genau abklären, ob der Verletzte nicht noch grössere Schäden erlitten hat (LEIPOLD, a.a.O., S. 151; ULLRICH, a.a.O., S. 175 mit Hinweisen).
Vorliegend hat die Vorinstanz verbindlich festgestellt ( Art. 277bis BStP ), dass F. durch den Unfall eine "leichte Verstauchung/Prellung/Schürfung" eines Fingers der rechten Hand erlitt. Dennoch verneinte sie die Erfüllung des objektiven Tatbestandes der Führerflucht aufgrund fehlender Verletzung im Sinne von Art. 92 Abs. 2 SVG , weshalb sie sich zum subjektiven Tatbestand und zu allfälligen Rechtfertigungsgründen nicht äusserte. Nach dem Gesagten war hier das Tatbestandsmerkmal der Verletzung im Sinne von Art. 92 Abs. 2 SVG jedoch erfüllt. Indem die Vorinstanz dies verkannte, hat sie Bundesrecht verletzt. Folglich ist der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Bei dieser Sachlage ist unerheblich, ob der Beschwerdegegner den Vorsatz hatte, F. zu verletzen.

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