Urteilskopf
123 III 374
58. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 12. Juni 1997 i.S. X. Financial Services GmbH gegen W. (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste
Lugano-Übereinkommen (Lugü): Überprüfung der Zuständigkeit des urteilenden Gerichts durch das Gericht des Vollstreckungsstaats. Verfahrenseinleitendes Schriftstück im Sinne von
Art. 27 Ziff. 2 LugÜ
.
Wird eine Klage vor Inkrafttreten des Lugano-Übereinkommens zwischen Erkenntnis- und Vollstreckungsstaat angehoben, ergeht der Entscheid aber erst nachher, so sind die Behörden des Vollstreckungsstaats abweichend vom Grundsatz von
Art. 28 Abs. 4 LugÜ
zu einer umfassenden Kontrolle der Zuständigkeit befugt (
Art. 54 Abs. 2 LugÜ
; E. 2). Einem Urteil, das weder Tatsachenfeststellungen noch eine Urteilsbegründung enthält, ist in einem solchen Fall die Vollstreckbarkeit zu versagen (E. 4).
Der Mahnbescheid gemäss §§ 688 ff. der deutschen Zivilprozessordnung stellt, wenn der Antragsgegner dagegen Widerspruch erhoben hat, nicht das verfahrenseinleitende Schriftstück im Sinne von
Art. 27 Ziff. 2 LugÜ
für das nachfolgende streitige Verfahren dar (E. 3).
Die in T. (Deutschland) ansässige X. Leasing GmbH macht gegen W. aus einem Leasingvertrag über ein Fahrzeug der Marke "P." Ansprüche in der Höhe von insgesamt DM 116'766.73 geltend. Da ihre Forderung nicht erfüllt wurde, beantragte sie beim Amtsgericht Stuttgart den Erlass eines Mahnbescheids, der W. am 31. März 1994 in G. (Deutschland), wo er zu jenem Zeitpunkt Wohnsitz hatte, persönlich zugestellt wurde. W. erhob dagegen am 7. April 1994 vollumfänglich Widerspruch. Auf Antrag der X. Leasing GmbH und nach Eingang des Prozesskostenvorschusses am 18. April 1994 beim Amtsgericht Stuttgart wurden die Akten zur Durchführung des streitigen Verfahrens ans örtlich zuständige Landgericht München I überwiesen.
Am 15. Juni 1994 reichte die X. Leasing GmbH beim Landgericht München I die Anspruchsbegründung ein, worauf die Parteien mit Verfügung vom 22. Juni 1994 zu einem frühen ersten Termin mit mündlicher Verhandlung am 26. September 1994 vorgeladen und dem Beklagten eine zweiwöchige Frist zur schriftlichen Klageerwiderung eingeräumt wurde. Die Vorladung konnte W. in G. allerdings nicht zugestellt werden. Seine Ehefrau nahm gemäss Postzustellungsurkunde vom 30. Juni 1994 die Verfügung entgegen, sandte sie jedoch mit dem Vermerk, W. sei seit Anfang Juni 1994 nicht mehr in Deutschland wohnhaft, wieder zurück.
Am 30. August 1994 teilte die X. Leasing GmbH dem Landgericht München I mit, der Beklagte habe seinen Wohnsitz in die Schweiz verlegt. Gestützt auf Art. XIX Ziff. 2 der Allgemeinen Leasingbedingungen, welche bei Verlegung des Wohnsitzes oder Aufenthaltsortes des Leasingnehmers aus dem Inland den Gerichtsstand am Sitz
BGE 123 III 374 S. 376
der Leasinggeberin vorsehen, beantragte sie die Verweisung des Verfahrens an das Landgericht Stuttgart. Nach einer mündlichen Verhandlung gab das Landgericht München I dem Antrag mit Beschluss vom 26. September 1994 statt. Das Landgericht Stuttgart setzte der X. Leasing GmbH mit Verfügung vom 11. November 1994 Frist, um die Wirksamkeit der Zustellung der Vorladung des Landgerichts München I vom 22. Juni 1994 nachzuweisen und die Adresse anzugeben, unter welcher W. geladen werden konnte. Mit Schreiben vom 8. Dezember 1994 teilte die X. Leasing GmbH dem Gericht mit, dass W. nach Angaben der Gemeinde G. am 1. Juni 1994 nach Zürich verzogen sei. Laut Auskunft der Einwohnergemeinde Zürich vom 11. August 1994 sei W. jedoch schon am 1. Oktober 1977 nach Z. verzogen, wo er indes unbekannt sei. Die X. Leasing GmbH beantragte deshalb die öffentliche Zustellung der Anspruchsbegründung. Mit Verfügung vom 14. Dezember 1994 teilte das Landgericht Stuttgart der X. Leasing GmbH mit, die Kammer erachte den Nachweis, dass der Aufenthalt von W. im Sinne von § 203 der deutschen Zivilprozessordnung vom 30. Januar 1877 (DZPO) unbekannt sei, noch nicht als erbracht. Die X. Leasing GmbH wurde deshalb aufgefordert, weitere Abklärungen über den Aufenthaltsort des Beklagten anzustellen. Nachfragen bei der Einwohnergemeinde G. und bei der Ehefrau von W. blieben jedoch ohne Ergebnis. Mit Schreiben vom 29. Dezember 1994 versuchte schliesslich auch das Landgericht Stuttgart erfolglos, Frau W. an der letztbekannten Adresse in G. zu erreichen und von ihr den Aufenthaltsort ihres Ehemannes in Erfahrung zu bringen, da sie inzwischen unbekannt verzogen war, so dass schliesslich mit Beschluss vom 23. Februar 1995 die öffentliche Zustellung der Anspruchsbegründung der X. Leasing GmbH und der Verfügungen des Gerichts bewilligt wurde und im März 1995 erfolgte.
Am 13. Juni 1995 verpflichtete das Landgericht Stuttgart W. durch Säumnisurteil, der inzwischen in X. Financial Services GmbH umbenannten Klägerin DM 116'766.73 nebst 4% Zinsen über dem Bankdiskontsatz seit dem 4. März 1994 zu zahlen. Das Urteil wurde dem Beklagten am 7. August 1995 öffentlich zugestellt. Im Frühjahr 1996 erfuhr die X. Financial Services GmbH von der Einwohner- und Fremdenkontrolle der Stadt Zürich, dass sich W. bereits am 1. Oktober 1994 in Zürich unter der Adresse Y. angemeldet hatte.
Mit Verfügung vom 23. April 1996 erklärte der Einzelrichter im summarischen Verfahren des Bezirkes Zürich das Säumnisurteil des Landgerichts Stuttgart vom 13. Juni 1995 auf Antrag der X. Financial
BGE 123 III 374 S. 377
Services GmbH für vollstreckbar. Der von W. gegen diesen Entscheid erhobene Rekurs wurde vom Obergericht des Kantons Zürich mit Beschluss vom 17. Oktober 1996 gutgeheissen und das Gesuch um Vollstreckbarerklärung abgewiesen.
Die von der X. Financial Services GmbH dagegen erhobene staatsrechtliche Beschwerde weist das Bundesgericht ab
aus folgenden Erwägungen:
1.
Das Übereinkommen vom 16. September 1988 über die gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Lugano-Übereinkommen [LugÜ]; SR 0.275.11) enthält den Grundsatz der Nichtrückwirkung (
Art. 54 Abs. 1 LugÜ
; vgl.
BGE 119 II 391
E. 2 S. 393). Allerdings sieht
Art. 54 Abs. 2 LugÜ
eine Ausnahme von diesem Grundsatz vor, wenn die Klage zwar noch vor Inkrafttreten des Übereinkommens zwischen dem Ursprungsstaat und dem ersuchten Staat erhoben, die Entscheidung aber erst danach ergangen ist. Als "ergangen" gilt ein Entscheid, wenn er gemäss den Bestimmungen des Urteilsstaats nach aussen wirksam geworden ist (vgl. Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 5. Aufl., Heidelberg 1996, N. 7 zu Art. 54 EuGVÜ/LugÜ). Im vorliegenden Verfahren ist zwar umstritten, worin das verfahrenseinleitende Schriftstück zu erblicken und welches demnach der massgebliche Zeitpunkt der Klageerhebung ist. Die Parteien sind sich aber darin einig, dass das Verfahren jedenfalls vor Inkrafttreten des Lugano-Übereinkommens in der Schweiz (1. Januar 1992; SR 0.275.11) und der Bundesrepublik Deutschland (1. März 1995; KROPHOLLER, a.a.O., N. 47 der Einleitung) angehoben worden ist. Unstreitig ist ferner, dass das Säumnisurteil des Landgerichts Stuttgart am 7. August 1995 und damit zu einem Zeitpunkt öffentlich zugestellt worden ist, in dem das Übereinkommen sowohl im Erkenntnis- als auch im Vollstreckungsstaat in Kraft war. Das Lugano-Übereinkommen findet somit gemäss
Art. 54 Abs. 2 LugÜ
auf den vorliegenden Sachverhalt Anwendung.
2.
a) Nach
Art. 28 Abs. 4 LugÜ
ist es dem Vollstreckungsrichter grundsätzlich untersagt, die Zuständigkeit der Gerichte des Ursprungsstaats nachzuprüfen, weil die Mitgliedstaaten des Übereinkommens wechselseitig davon ausgehen, dass das Gericht des Urteilsstaates nicht nur eine sachlich richtige Entscheidung gefällt, sondern auch die Zuständigkeitsregeln des Abkommens richtig
BGE 123 III 374 S. 378
angewendet hat (KROPHOLLER, a.a.O., N. 2 zu Art. 28 EuGVÜ/LugÜ; YVES DONZALLAZ, La Convention de Lugano, Vol. II, Bern 1997, § 3133). Ausnahmen vom Überprüfungsverbot der internationalen Zuständigkeit ergeben sich insbesondere aus
Art. 28 Abs. 1 und 2 LugÜ
, ferner für die Schweiz aus dem Vorbehalt in Art. Ia des Protokolls Nr. 1 zum Lugano-Übereinkommen. Liegt - wie im vorliegenden Fall - übergangsrechtlich ein Fall von
Art. 54 Abs. 2 LugÜ
vor, können Entscheidungen nach den Bestimmungen des Übereinkommens (
Art. 31 ff. LugÜ
) vollstreckt werden, wenn das Gericht des Ursprungsstaats aufgrund von Vorschriften zuständig war, die mit den Zuständigkeitsvorschriften des Titels II oder eines Abkommens übereinstimmen, das im Zeitpunkt der Klageerhebung zwischen dem Ursprungsstaat und dem Staat, in dem die Entscheidung geltend gemacht wird, in Kraft war.
Art. 54 Abs. 2 LugÜ
gestattet den Behörden des Vollstreckungsstaates in diesen Fällen demnach abweichend vom Grundsatz von
Art. 28 Abs. 4 LugÜ
eine umfassende Zuständigkeitskontrolle (PAUL VOLKEN, Rechtsprechung zum Lugano-Übereinkommen, SZIER 1994, S. 417; GERHARD WALTER, Internationales Zivilprozessrecht der Schweiz, Bern 1995, S. 380).
b) Die Beschwerdeführerin sieht im Umstand, dass das Obergericht Fragen der ordnungsgemässen Zustellung nicht nur nach den Bestimmungen des Lugano-Übereinkommens, sondern auch nach dem Abkommen vom 2. November 1929 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Deutschen Reich über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen und Schiedssprüchen (VA; SR 0.276.191.361) geprüft hat, eine Verletzung von
Art. 54 Abs. 2 LugÜ
. Da das Obergericht die ordnungsgemässe und rechtzeitige Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks aber bereits nach den Bestimmungen des Lugano-Übereinkommens verneint hat, ist die Beschwerdeführerin durch eine zusätzliche Prüfung nach dem schweizerisch-deutschen Vollstreckungsabkommen nicht beschwert (
Art. 88 OG
). Auf die entsprechende Rüge ist deshalb nicht einzutreten.
Der Beschwerdegegner seinerseits bestreitet die Vollstreckbarkeit des Urteils des Landgerichts Stuttgart schon deshalb, weil die Zuständigkeit der deutschen Gerichte nicht gegeben sei. Er macht geltend, einerseits seien die Formerfordernisse gemäss
Art. 17 LugÜ
für eine gültige Gerichtsstandsvereinbarung nicht erfüllt, anderseits handle es sich vorliegend um eine Verbraucherstreitigkeit im Sinne von
Art. 13 LugÜ
, für die
Art. 14 Abs. 2 LugÜ
den Gerichtsstand
BGE 123 III 374 S. 379
am Wohnsitz des Verbrauchers vorsehe. Das Domizil des Beschwerdegegners habe sich aber im massgeblichen Zeitpunkt der Rechtshängigkeit der Klage nicht mehr in Deutschland, sondern in der Schweiz befunden.
Dem Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 13. Juni 1995 sind weder Ausführungen zum Sachverhalt noch die Urteilsmotive zu entnehmen, offenbar weil es sich um ein Versäumnisurteil handelt, das gemäss § 313b Abs. I DZPO des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe nicht bedarf. Es ist jedenfalls nicht ersichtlich, aus welchen Gründen und gestützt auf welchen Sachverhalt das Landgericht Stuttgart seine örtliche Zuständigkeit bejaht hat. Unter den Parteien ist aber unstreitig, dass dem Beschwerdegegner der Mahnbescheid persönlich zugestellt werden konnte und dass er zu diesem Zeitpunkt noch Wohnsitz in Deutschland gehabt hatte. Es ist deshalb zunächst zu prüfen, ob der Mahnbescheid das verfahrenseinleitende Schriftstück im Sinne von
Art. 27 Ziff. 2 LugÜ
darstellt, da in diesem Fall auch die Zuständigkeit der deutschen Gerichte gegeben ist.
3.
Gemäss
Art. 27 Ziff. 2 LugÜ
wird eine Entscheidung nicht anerkannt, wenn dem Beklagten, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat, das dieses Verfahren einleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück nicht ordnungsgemäss und nicht so rechtzeitig zugestellt worden ist, dass er sich verteidigen konnte.
a) Während der Einzelrichter dem Mahnbescheid die Eigenschaft eines verfahrenseinleitenden Schriftstücks zuerkannte, hielt das Obergericht dafür, diese Voraussetzung sei nur dann erfüllt, wenn der Antragsgegner nicht Widerspruch erhoben habe und auf Begehren des Antragstellers ein Vollstreckungsbescheid ergehe, der einem für vorläufig vollstreckbar erklärten Versäumnisurteil gleichstehe. Erhebe der Antragsgegner hingegen Widerspruch, sei nach deutschem Zivilprozessrecht die Überleitung des Rechtsstreits in ein streitiges Verfahren von einem weiteren Antrag einer der beiden Parteien abhängig. Mahnverfahren und streitiges Verfahren bildeten somit keine Verfahrenseinheit, weshalb der Mahnbescheid grundsätzlich nicht zugleich verfahrenseinleitendes Schriftstück bezüglich des streitigen Verfahrens sein könne. In Betracht zu ziehen sei die Verfahrenseinheit allenfalls dann, wenn die Streitsache "alsbald" nach Erhebung des Widerspruchs an das Gericht abgegeben werde, da diesfalls gemäss § 696 Abs. III DZPO die Rechtshängigkeit auf den Zeitpunkt der Zustellung des Mahnbescheids zurückbezogen werde. Das Obergericht sah jedoch die Voraussetzung der
BGE 123 III 374 S. 380
alsbaldigen Abgabe unter den gegebenen Umständen nicht erfüllt und sprach dem Mahnbescheid die Eigenschaft als verfahrenseinleitendes Schriftstück deshalb ab.
Die Beschwerdeführerin sieht darin eine Verletzung von
Art. 27 Ziff. 2 LugÜ
. Unrichtig sei vorab die Auffassung des Obergerichts, wonach die Streitsache nach Erhebung des Widerspruchs auf Antrag einer Partei "ans Gericht" abgegeben werde. Es handle sich vielmehr um die Abgabe des Verfahrens von einer gerichtlichen Instanz an eine andere. So spreche der Gerichtshof der europäischen Gemeinschaften in einem Urteil aus dem Jahre 1981 von einem Überleiten des Verfahrens in ein streitiges. Nicht massgeblich sei ferner, ob das Verfahren "alsbald" nach Erhebung des Widerspruchs abgegeben worden, die Rechtshängigkeit nach deutschem Zivilprozessrecht demnach mit der Zustellung des Mahnbescheids eingetreten sei. Die Frage, zu welchem Zeitpunkt die Rechtshängigkeit eintrete, bleibe mangels Regelung im Lugano-Übereinkommen den nationalen Verfahrensrechten überlassen. Ob ein Schriftstück als verfahrenseinleitend zu qualifizieren sei, beurteile sich dagegen nach europäischem Einheitsrecht. Im übrigen trete die Rechtshängigkeit bei einer nicht alsbaldigen Abgabe des Verfahrens mit dem Akteneingang beim Empfangsgericht ein, so dass wiederum nur der Mahnbescheid das verfahrenseinleitende Schriftstück darstellen könne.
b) Das Mahnverfahren des deutschen Zivilprozessrechts (§§ 688 ff. DZPO) soll dem Gläubiger einer wahrscheinlich unstreitigen Geldforderung schnell und einfach ohne mündliche Verhandlung einen Vollstreckungstitel verschaffen (vgl. BAUMBACH/LAUTERBACH/ALBERS/HARTMANN, Zivilprozessordnung, 55. Aufl., München 1997, N. 2 vor § 688 ff. DZPO). Der Gläubiger kann beim Rechtspfleger des Amtsgerichts am allgemeinen Gerichtsstand des Schuldners den Erlass eines Mahnbescheids beantragen, ohne die Schlüssigkeit seines Anspruchs darlegen zu müssen (§ 690 DZPO). Das Amtsgericht nimmt lediglich eine formale Kontrolle vor und erlässt den Mahnbescheid ohne Prüfung, ob der Anspruch in der Sache begründet ist. Erhebt der Schuldner nach Erhalt des Mahnbescheids nicht rechtzeitig Widerspruch, erlässt das Gericht auf Antrag des Gläubigers einen Vollstreckungsbescheid, der einem für vorläufig vollstreckbar erklärten Versäumnisurteil gleichsteht (§ 699 f. DZPO). Erhebt der Schuldner hingegen fristgerecht Widerspruch, gibt das Gericht auf Antrag einer Partei den Rechtsstreit zur Durchführung eines streitigen Verfahrens von Amts wegen an das zuständige Gericht ab (§ 696 DZPO). Der Gläubiger hat nun seinen
BGE 123 III 374 S. 381
Anspruch binnen zwei Wochen in einer der Klageschrift entsprechenden Form zu begründen (§ 697 DZPO).
Das verfahrenseinleitende Schriftstück im Sinne von
Art. 27 Ziff. 2 LugÜ
(bzw. dem gleichlautenden Art. 27 Ziff. 2 des Europäischen Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. September 1968 [EuGVÜ]) ist die vom Recht des Urteilsstaates vorgesehene Urkunde, durch deren Zustellung der Beklagte erstmals von dem der Entscheidung zugrunde liegenden Verfahren Kenntnis erlangt. Es ist dasjenige Schriftstück, dessen ordnungsgemässe und rechtzeitige Zustellung den Beklagten in die Lage versetzt, seine Rechte vor Erlass einer vollstreckbaren Entscheidung im Urteilsstaat geltend zu machen (Kropholler, N. 24 zu Art. 27 EuGVÜ/LugÜ).
Art. 27 Ziff. 2 LugÜ
dient mithin dem Schutz des rechtlichen Gehörs des Beklagten. In der Literatur zu Lugano-Übereinkommen und EuGVÜ wird der Mahnbescheid des deutschen Zivilprozessrechts verschiedentlich als Beispiel eines verfahrenseinleitenden Schriftstücks erwähnt (KROPHOLLER, a.a.O., N. 24 zu Art. 27 EuGVÜ/LugÜ; SCHLOSSER, EuGVÜ, München 1996, N. 10 zu Art. 27-29 EuGVÜ; VERONIKA PAETZOLD, Vollstreckung deutscher Entscheidungen nach dem Lugano-Übereinkommen in der Schweiz, S. 26). Auch der Gerichtshof der europäischen Gemeinschaften hat im Urteil Klomps gegen Michel vom 16. Juni 1981 (EuGHE 1981 Bd. II, S. 1593 ff.) zur Auslegung von Art. 27 Ziff. 2 EuGVÜ/LugÜ festgehalten, unter den Begriff "verfahrenseinleitendes Schriftstück" falle ein Schriftstück wie der Zahlungsbefehl des deutschen Rechts (der dem Mahnbescheid des geltenden deutschen Zivilprozessrechts entspricht), dessen Zustellung es dem Gläubiger nach dem Recht des Urteilsstaats ermögliche, wenn der Schuldner untätig bleibt, eine Entscheidung zu erwirken, die nach den Bestimmungen des Übereinkommens anerkannt und vollstreckt werden kann (EuGHE a.a.O., S. 1606). Im Urteil Hengst Import BV gegen Campese vom 13. Juli 1995 (SZIER 1996, S. 145 ff.) qualifizierte der Gerichtshof auch das "decreto ingiuntivo" des italienischen Zivilprozessrechts, eine dem deutschen Mahnbescheid vergleichbare Verfügung, als verfahrenseinleitendes Schriftstück im Sinne von Art. 27 Nr. 2 EuGVÜ, hob allerdings hervor, dass diese Voraussetzung erst durch die Verbindung des Mahnbescheids mit der Antragsschrift - die im Unterschied zum deutschen Recht eine Begründung des Anspruchs und die Nennung von Beweismitteln enthalten muss - gebildet werde. Bei dem "decreto ingiuntivo" handle es sich
BGE 123 III 374 S. 382
nämlich um ein einfaches Formular, das zusammen mit der Antragsschrift gelesen werden müsse, um verstanden zu werden. In der Literatur wurde daraus geschlossen, dass der Mahnbescheid des deutschen Zivilprozessrechts die vom Gerichtshof gestellten Anforderungen nicht erfülle und ein gestützt darauf ergangener Vollstrekkungsbescheid in einem andern Vertragsstaat nicht vollstreckt werden dürfte (WOLFGANG GRUNSKY, Das verfahrenseinleitende Schriftstück beim Mahnverfahren, IPRax 1996, S. 245 f.). Dasselbe wurde in Bezug auf den Zahlungsbefehl nach schweizerischem Betreibungsrecht angenommen (PAUL VOLKEN, Rechtsprechung zum Lugano-Übereinkommen [1995], SZIER 1996 S. 149 f.).
c) Die vom Gerichtshof der europäischen Gemeinschaften beurteilten Fälle unterscheiden sich von dem hier vorliegenden Sachverhalt allerdings insofern, als dort die Beklagten nach Erhalt des Zahlungsbefehls jeweils keinen Widerspruch erhoben hatten, so dass es zum Erlass eines Vollstreckungsbescheids kam, ohne dass ein streitiges Verfahren durchgeführt worden wäre. Ob in einem solchen Fall, in dem schon das Mahnverfahren zur Ausstellung eines Vollstreckungsbescheids führt, das verfahrenseinleitende Schriftstück im Mahnbescheid zu erblicken ist, kann hier aber offenbleiben. Erhebt nämlich der Schuldner - wie im vorliegenden Fall - Widerspruch gegen den Mahnbescheid und beantragt eine Partei die Durchführung des streitigen Verfahrens, so endet das Mahnverfahren mit dem Akteneingang beim nunmehr zuständigen Gericht (BAUMBACH/LAUTERBACH/ALBERS/HARTMANN, a.a.O., N. 8 zu § 696 DZPO). Das Verfahren tritt damit in ein neues Stadium: Es erfolgt regelmässig ein Wechsel des zuständigen Gerichts, der Gläubiger hat seinen Anspruch in einer der Klageschrift entsprechenden Form zu begründen, und bei Eingang der Anspruchsbegründung ist nun wie im kontradiktorischen Verfahren vor den Landgerichten bei Einreichung einer Klage zu verfahren (§ 697 Abs. I und II DZPO).
Mahnverfahren und streitiges Verfahren stellen demnach zwei grundlegend verschiedene Verfahrensarten dar. Im Mahnverfahren ist weder der Antrag auf Erlass des Mahnbescheids noch der Widerspruch zu begründen. Ebenso einfach wie der Antragsteller das Mahnverfahren in Gang setzen kann, vermag es der Antragsgegner durch Erhebung des Widerspruchs wieder zum Stillstand zu bringen. Die Wirkungen des Widerspruchs sind indessen auf das Mahnverfahren beschränkt. Die Zustellung des Mahnbescheids versetzt den Beklagten nur in die Lage, seine Rechte innerhalb dieses Verfahrens wahrzunehmen. Weder weiss er zu jenem Zeitpunkt, ob
BGE 123 III 374 S. 383
der Kläger seinen behaupteten Anspruch überhaupt weiterverfolgen wird, noch auf welche Grundlage dieser die Forderung stützt. Da der Kläger nach deutschem Zivilprozessrecht nach Erhebung des Widerspruchs die Überleitung in ein streitiges Verfahren zu beantragen und seinen Anspruch zu begründen hat, damit das Verfahren fortgesetzt wird (§§ 696 f. DZPO), ist der Anspruch des Beklagten auf Wahrung des rechtlichen Gehörs nur dann hinreichend gewährleistet, wenn er auch von dem Fortsetzungsantrag und der Anspruchsbegründung des Klägers Kenntnis erhalten hat, so dass er nun seinerseits in der Lage ist, die Fundiertheit des klägerischen Anspruchs zu beurteilen und sich mit einer begründeten Eingabe zu verteidigen. Das Obergericht hat deshalb
Art. 27 Ziff. 2 LugÜ
nicht verletzt, wenn es unter den gegebenen Umständen dem Mahnbescheid die Eigenschaft eines das streitige Verfahren einleitenden Schriftstücks aberkannt hat.
d) Ob das Verfahren "alsbald" nach Erhebung des Widerspruchs ans Gericht abgegeben wurde, so dass die Rechtshängigkeit gemäss § 696 Abs. III DZPO auf die Zustellung des Mahnbescheids zurückbezogen wird, spielt dabei entgegen der Auffassung des Obergerichts keine Rolle. Das Lugano-Übereinkommen äussert sich zur Frage des Zeitpunkts der Rechtshängigkeit nicht. Massgebend ist damit das jeweilige nationale Recht (KROPHOLLER, a.a.O., N. 12 zu Art. 21 EuGVÜ/LugÜ). Nach den Bestimmungen des Übereinkommens beurteilt sich hingegen, welches das verfahrenseinleitende Schriftstück im Sinne von
Art. 27 Ziff. 2 LugÜ
darstellt. Bereits daraus folgt, dass der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit dafür nicht entscheidend sein kann. Zudem bezweckt
Art. 27 Ziff. 2 LugÜ
den Schutz des rechtlichen Gehörs des Beklagten. Es soll ihm Gelegenheit gegeben werden, seine Rechte vor Erlass einer vollstreckbaren Entscheidung im Urteilsstaat geltend zu machen (vgl. E. 3b hiervor). Ob ein Schriftstück als verfahrenseinleitend zu qualifizieren ist, ist deshalb allein unter diesem Gesichtspunkt zu entscheiden und kann nicht davon abhängen, wie lange nach Erhebung des Widerspruchs das Verfahren ans Gericht abgegeben worden ist.
4.
Fällt der Mahnbescheid als verfahrenseinleitendes Schriftstück ausser Betracht, kommt hiefür nur eine der folgenden, im Sachverhalt erwähnten Verfügungen in Frage. Keine von diesen wurde dem Beschwerdegegner persönlich, sondern alle ersatzweise öffentlich zugestellt, da er nach den Feststellungen des Obergerichts vor dem ersten Zustellungsversuch, nämlich bereits am 1. Juni 1994, seinen Wohnsitz in Deutschland aufgegeben hatte. Somit wäre im
BGE 123 III 374 S. 384
Lichte von
Art. 27 Ziff. 2 LugÜ
zu prüfen, ob es sich dabei um ordentliche und rechtmässige Zustellungen handelte. Indessen ist die Vollstreckbarkeit bereits aus einem andern Grunde zu versagen:
In übergangsrechtlichen Fällen hat nach
Art. 54 Abs. 2 LugÜ
das Zweitgericht die Zuständigkeit des Urteilsgerichts umfassend zu prüfen (vgl. E. 2a hiervor). Es ist dabei allerdings gemäss
Art. 28 Abs. 3 LugÜ
an die tatsächlichen Feststellungen des Erstgerichts gebunden. War mit Bezug auf den Mahnbescheid die Zuständigkeit der deutschen Gerichte im internationalen Verhältnis noch klar gegeben, muss diese Frage für den nunmehr massgeblichen Zeitraum der Verfahrenseinleitung, dem der Wegzug des Beschwerdegegners aus Deutschland unstreitig vorangeht, erneut untersucht werden. Das Versäumnisurteil des Landgerichts Stuttgart enthält jedoch weder Tatsachenfeststellungen noch eine Urteilsbegründung. Den Gerichten im Vollstreckungsstaat ist es daher nicht möglich zu überprüfen, ob der Sachverhalt, wie ihn das Landgericht seinem Urteil zugrundegelegt hat, die Zuständigkeit der deutschen Gerichte begründet hätte. Ist die internationale Zuständigkeit aber wie im vorliegenden Fall umstritten und auch nicht ohne weiteres aus den Akten ersichtlich, ist ein Urteil ohne Sachverhaltsfeststellungen von vornherein nicht geeignet, nach den Bestimmungen des Lugano-Übereinkommens vollstreckt zu werden. Der Vorwurf der Beschwerdeführerin, das Obergericht habe das Übereinkommen verletzt, indem es dem Urteil des Landgerichts Stuttgart die Vollstreckbarkeit versagt hat, ist deshalb unbegründet.