Urteilskopf
123 IV 23
4. Urteil der Anklagekammer vom 10. Februar 1997 i.S. Generalprokurator des Kantons Bern gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich
Regeste
Art. 350 StGB
und
Art. 351 StGB
,
Art. 263 BStP
; Festsetzung des Gerichtsstandes.
Triftige Gründe, aus denen ausnahmsweise vom gesetzlichen Gerichtsstand abgewichen werden kann, liegen vor, wenn in einem Kanton ein offensichtliches Schwergewicht der deliktischen Tätigkeit liegt. Wenn mehr als zwei Drittel einer grösseren Anzahl von vergleichbaren Straftaten auf einen einzigen Kanton entfallen, ist dies in der Regel der Fall. Diese Vermutung gilt jedoch nicht absolut, sondern muss ihrerseits einer Überprüfung vor allem nach prozessökonomischen Gesichtspunkten standhalten. Wenn die Untersuchung am Ort des gesetzlichen Gerichtsstandes sozusagen beendet ist, rechtfertigt sich in der Regel ein Abweichen von diesem Gerichtsstand nicht mehr.
B. und O. wird vorgeworfen, 17 Diebstähle und einen Versuch dazu begangen zu haben.
Einem Rapport der Stadtpolizei Bern vom 17. Oktober 1996 ist zu entnehmen, die beiden hätten im Juli 1996 in Antwerpen/B beschlossen, sich nach Zürich zu begeben, um dort Diebstähle zu begehen. Von Zürich aus seien sie jeweils zum selben Zweck nach Bern gefahren.
Die erste Verfolgungshandlung wurde am 25. Juli 1996 durch die Stadtpolizei Bern vorgenommen. Die Täter hatten einen abgestellten Reisebus aufgebrochen und aus der Tasche einer Reiseteilnehmerin Deliktsgut im Wert von Fr. 6'800.-- behändigt. Zunächst gelang ihnen die Flucht, doch wurde O. anhand einer Identitätskarte, die sich in einem zurückgelassenen Veston befand, zur Verhaftung ausgeschrieben und zusammen mit B. (sowie einer Drittperson) am folgenden Tag in St. Gallen im Anschluss an den dort verübten Diebstahlsversuch festgenommen und am 12. September 1996 ins Regionalgefängnis Bern überführt.
O. gab an, von Anfang August bis zur Festnahme in St. Gallen gemeinsam mit B. täglich einen Diebstahl in Zürich verübt zu haben. Vom 24. September bis 4. Oktober 1996 befanden sich die beiden bei den Zürcher Behörden und wurden dort befragt. Dabei konnten ihnen sechs Diebstähle, die in der Stadt Zürich begangen worden waren, zugeschrieben werden. Weiter sollen sie in Zürich noch einige weitere Diebstähle zum Nachteil "unbekannter Car-Chauffeure"
BGE 123 IV 23 S. 25
verübt haben, über die auch sonst "keine weiteren Angaben vorhanden" sind. Auf den Kanton Bern, wo sich die Angeschuldigten seit dem 4. Oktober 1996 wieder im Regionalgefängnis befinden, entfallen insgesamt drei Diebstähle.
Aufgrund des bisherigen Ermittlungsergebnisses entfallen von den insgesamt 17 Diebstählen deren 14 auf den Kanton Zürich und die übrigen drei auf den Kanton Bern.
B.-
Der Generalprokurator des Kantons Bern gelangt an die Anklagekammer des Bundesgerichts und beantragt, es seien die Strafverfolgungsbehörden des Kantons Zürich für berechtigt und verpflichtet zu erklären, die B. und O. zur Last gelegten strafbaren Handlungen zu verfolgen und zu beurteilen.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich beantragt, es sei das Gesuch des Kantons Bern abzuweisen und dieser berechtigt und verpflichtet zu erklären, die den beiden Angeschuldigten zur Last gelegten strafbaren Handlungen zu verfolgen und zu beurteilen.
Die Anklagekammer zieht in Erwägung:
1.
Der Gesuchsteller anerkennt, dass gemäss
Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB
an sich die Zuständigkeit der bernischen Behörden gegeben wäre, da an diesem Ort die Untersuchung zuerst angehoben worden ist. Er beruft sich aber auf
Art. 263 BStP
, wonach die Anklagekammer des Bundesgerichts die Zuständigkeit beim Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen anders als in
Art. 350 StGB
bestimmen kann. Er macht geltend, das Schwergewicht der deliktischen Tätigkeit der beiden Angeschuldigten liege offensichtlich im Kanton Zürich.
2.
a) Wird jemand wegen mehrerer, an verschiedenen Orten verübter strafbarer Handlungen, die mit der gleichen Strafe bedroht sind, verfolgt, so sind die Behörden des Ortes zuständig, wo die Untersuchung zuerst angehoben wird (
Art. 350 Ziff. 1 StGB
). Da diese Regelung gelegentlich unbefriedigend ist, sieht
Art. 263 BStP
vor, dass die Anklagekammer des Bundesgerichts die Zuständigkeit beim Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen anders als in
Art. 350 StGB
bestimmen kann. Dabei hat sich die Anklagekammer vom Sinn, den der Gesetzgeber dabei im Auge hatte, nämlich die richtige und die rasche Anwendung des materiellen Rechts zu ermöglichen, leiten zu lassen (ERHARD SCHWERI, Interkantonale Gerichtsstandsbestimmung in Strafsachen, Bern 1987, N. 405). Insbesondere aus Zweckmässigkeits-, Wirtschaftlichkeits- und prozessökonomischen
BGE 123 IV 23 S. 26
Gründen kann ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand gerechtfertigt sein (
BGE 121 IV 224
E. 3a mit Hinweisen; SCHWERI a.a.O. N. 407 f. und 421). Es geht darum zu verhindern, dass die Anwendung der gesetzlichen Regelung zu besonderen prozessualen Schwierigkeiten führt (SCHWERI a.a.O. N. 408 mit Hinweis).
Die Anklagekammer setzt für ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand triftige Gründe voraus (
BGE 121 IV 224
E. 3a mit Hinweisen). Dies kann zum Beispiel dann der Fall sein, wenn in einem Kanton ein offensichtliches Schwergewicht der deliktischen Tätigkeit liegt, wobei es allerdings nicht genügt, dass auf einen Kanton einige wenige Delikte mehr als auf einen anderen entfallen, sondern das Übergewicht muss so offensichtlich und bedeutsam sein, dass sich das Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand geradezu aufdrängt (BGE
BGE 117 IV 87
E. 2a; SCHWERI, a.a.O. N. 421 ff., je mit Hinweisen). Wenn mehr als zwei Drittel einer grösseren Anzahl von vergleichbaren Straftaten auf einen einzigen Kanton entfallen, kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass in diesem Kanton ein Schwergewicht besteht, welches es rechtfertigt, vom gesetzlichen Gerichtsstand abzuweichen. Diese Vermutung gilt jedoch nicht absolut, sondern muss ihrerseits einer Überprüfung vor allem nach prozessökonomischen Gesichtspunkten standhalten (SCHWERI a.a.O. N. 421 in fine). Insbesondere sollen grobe Verfahrensverzögerungen und deshalb nach Möglichkeit ein unnötiger prozessualer Aufwand verhindert werden. Wenn die Untersuchung am Ort des gesetzlichen Gerichtsstandes sozusagen beendet ist, rechtfertigt sich in der Regel ein Abweichen von diesem Gerichtsstand nicht mehr (SCHWERI a.a.O. N. 469).
b) Der Gesuchsteller macht zur Hauptsache geltend, im vorliegenden Fall entfielen rund 82% der Diebstähle auf den Kanton Zürich und der bisher in diesem Kanton errechnete Deliktsbetrag betrage ca. Fr. 10'830.-- gegenüber Fr. 8'200.-- im Kanton Bern. Zudem seien die Straftaten im Kanton Zürich noch gar nicht alle geklärt, und es drängten sich dort insbesondere in bezug auf die Straftaten zum Nachteil unbekannter Car-Chauffeure weitere Abklärungen auf.
Dagegen bringt die Gesuchsgegnerin im wesentlichen vor, der Deliktsbetrag der den Angeschuldigten in den beiden Kantonen "mit hinreichender Substantiierung" vorwerfbaren Taten betrage je zwischen ca. Fr. 8'000.-- und Fr. 9'000.-- und sei somit in etwa gleich. Im übrigen sei der bei weitem gewichtigste Fall mit einem Deliktsbetrag
BGE 123 IV 23 S. 27
von Fr. 6'800.-- im Kanton Bern begangen worden. Weitere Untersuchungen im Kanton Zürich (z.B. hinsichtlich der maximal ca. acht Chauffeurtaschen) seien nicht erfolgversprechend und folglich auch nicht angezeigt. Die notwendig erscheinenden Abklärungen seien vom Berner Untersuchungsrichter bereits veranlasst und von den Zürcher Behörden rechtshilfeweise erledigt worden. Weiter falle unter dem Gesichtswinkel der Prozessökonomie in Betracht, dass das Verfahren bisher nach der bernischen Prozessordnung in Bern geführt worden sei und die Angeschuldigten von Berner Anwälten verteidigt würden.
c) Im vorliegenden Fall sprechen Zweckmässigkeits- und prozessökonomische Gesichtspunkte gegen ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand, obwohl von der Anzahl der in Frage stehenden Straftaten her gesehen ein Übergewicht im Kanton Zürich besteht.
Der Gesuchsgegnerin ist beizupflichten, dass nicht ersichtlich ist, welche Untersuchungshandlungen noch nötig sein könnten. O. hat zunächst zwar angegeben, sie hätten von Anfang August bis zur Festnahme in St. Gallen "täglich" einen Diebstahl in Zürich verübt. Dazu wurde er in Zürich befragt, und die Einvernahme führte zum Ergebnis, dass heute sechs konkrete Diebstähle in der Stadt Zürich abgeklärt sind und der Verdacht besteht, dass die beiden noch maximal acht Diebstähle von Chauffeurtaschen begangen haben sollen, über die aber keine weiteren konkreten Erkenntnisse und insbesondere keine Anzeigen der Geschädigten vorhanden sind, weshalb es z.B. unmöglich ist, diese zu befragen. Auch der Gesuchsteller vermag keine konkreten Untersuchungshandlungen zu nennen, die noch erforderlich wären. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Untersuchung im wesentlichen abgeschlossen ist.
Die Beschwerdegegnerin verweist im übrigen zu Recht darauf, dass bereits bernische Anwälte als amtliche Verteidiger bezeichnet sind und sich auch schon mit dem Fall befasst haben. Fürsprecher X. als Verteidiger von O. hat z.B. Einsicht in die Akten genommen und diese am 14. Oktober 1996 an den Untersuchungsrichter zurückgeschickt. Dies gilt auch für Fürsprecher Y. als Verteidiger von B., der überdies, wie sich aus seinem Schreiben vom 23. September 1996 ergibt, mit seinem Mandanten gesprochen und in dessen Auftrag den Antrag gestellt hat, mit der Familie in Chile telefonieren zu können. Schliesslich haben beide Verteidiger an je einer Einvernahme der Angeschuldigten teilgenommen. Es ist also nebst dem Umstand, dass die Untersuchung mehr oder weniger abgeschlossen ist, zu berücksichtigen, dass bereits zwei Verteidiger
BGE 123 IV 23 S. 28
bestimmt und bis zu einem gewissen Grad eingearbeitet sind (vgl. dazu SCHWERI a.a.O. N. 476, der diesem Umstand jedenfalls dann kein Gewicht beimisst, "wenn sich (das Untersuchungsverfahren) noch im Anfangsstadium befindet"). Im Hinblick auf eine optimale Weiterführung und Beendigung des Verfahrens wäre es geradezu kontraproduktiv, wenn vom gesetzlichen Gerichtsstand im jetzigen Zeitpunkt noch abgewichen würde.
Am Rande mag auch noch darauf hingewiesen werden, dass die weitaus gewichtigste Straftat im Kanton Bern begangen wurde. Die Täter erbeuteten Deliktsgut in Höhe von Fr. 6'800.-- und verursachten am Reisecar durch das Aufbrechen des Schlosses überdies einen Sachschaden von ca. Fr. 1'000.--. Die übrigen Delikte weisen einen viel geringeren Deliktsbetrag auf und wurden alle ohne Gewaltanwendung verübt.
Das Gesuch wird abgewiesen, und die Behörden des Kantons Bern werden berechtigt und verpflichtet erklärt, die B. und O. zur Last gelegten strafbaren Handlungen zu verfolgen und zu beurteilen.