BGE 123 V 175 vom 31. Juli 1997

Datum: 31. Juli 1997

Artikelreferenzen:  Art. 6 EMRK, Art. 4 BV , Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 72bis IVV, Art. 59 Abs. 2 IVG

BGE referenzen:  132 V 376, 136 V 117, 136 V 376, 137 V 210 , 122 V 161

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

123 V 175


32. Auszug aus dem Urteil vom 31. Juli 1997 i.S. B. gegen IV-Stelle des Kantons St. Gallen und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen

Regeste

Art. 4 BV , Art. 6 Ziff. 1 EMRK , Art. 59 Abs. 2 IVG , Art. 72bis IVV : Unabhängigkeit der medizinischen Abklärungsstellen der Invalidenversicherung (MEDAS).
Die nach Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK vorausgesetzte Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gutachter der MEDAS war bereits in der Zeit vor Inkrafttreten des neuen Statuts der medizinischen Abklärungsstellen der Invalidenversicherung (am 1. Juni 1994) gewährleistet. Die Einflussnahme des Bundesamtes für Sozialversicherung beschränkte sich auf administrativ-organisatorische Belange.
Mit dem neuen Statut wurde die schon zuvor bestehende fachlich-inhaltliche Weisungsunabhängigkeit der begutachtenden Ärzte institutionell verankert.

Erwägungen ab Seite 176

BGE 123 V 175 S. 176
Aus den Erwägungen:

3. Das kantonale Gericht gelangte im wesentlichen gestützt auf das Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) vom 28. Juni 1993 sowie in Würdigung der im Verlaufe des Beschwerdeverfahrens eingeholten Arztberichte zur Auffassung, dass der Beschwerdeführer mit Rücksicht auf die Gesundheitsschädigung seinen früheren Beruf als Autospengler im Umfang von 60% ausüben und ein dieser Leistungsfähigkeit entsprechendes Erwerbseinkommen erzielen könnte.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Expertise der MEDAS sei unvollständig, da von einer neuropsychologischen Untersuchung abgesehen worden sei. Das Gutachten könne aber auch deshalb nicht als massgebend erachtet werden, weil der MEDAS aufgrund ihrer besonderen Nähe zur Invalidenversicherung die erforderliche Unabhängigkeit fehle, was sich insbesondere auch aus deren zum Zeitpunkt der Untersuchung im Juni 1993 in Kraft gewesenem Statut (vom 3. April 1978) ergebe. Daraus sei ersichtlich, dass die Ärzte der MEDAS auch bezüglich ihrer medizinischen Gutachtertätigkeit der Weisungsbefugnis des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV) unterstünden, welches ihnen Instruktionen erteilen und sie zu Konferenzen einladen könne. Diese funktionellen und organisatorischen Gegebenheiten seien geeignet, Zweifel an der Unparteilichkeit der Gutachter zu wecken. Das Weisungsrecht des BSV gegenüber den Ärzten der Abklärungsstelle verletze sodann die von Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährleisteten Verfahrensgarantien.
d) Wie das Eidg. Versicherungsgericht in einem neuesten, die Unfallversicherung betreffenden Urteil bestätigt hat, kann auch den Berichten und Gutachten versicherungsinterner Ärzte Beweiswert beigemessen werden, sofern sie als schlüssig erscheinen, nachvollziehbar begründet sowie in sich widerspruchsfrei sind und keine Indizien gegen ihre Zuverlässigkeit bestehen. Die Tatsache allein, dass der befragte Arzt in einem Anstellungsverhältnis zum Versicherungsträger steht, lässt nicht schon auf mangelnde Objektivität und auf Befangenheit schliessen. Es bedarf vielmehr besonderer Umstände, welche das Misstrauen in die Unparteilichkeit der Beurteilung objektiv als begründet erscheinen lassen. Im Hinblick auf die erhebliche Bedeutung, welche den Arztberichten im Sozialversicherungsrecht zukommt, ist an die Unparteilichkeit des Gutachters allerdings ein strenger Massstab anzulegen ( BGE 122 V 161 unten f.). Im nämlichen Urteil (S. 163 ff. Erw. 2) hat das Eidg.
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Versicherungsgericht im weiteren festgestellt, dass es auch im Lichte der von Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährleisteten Verfahrensgarantien im Rahmen der freien Beweiswürdigung grundsätzlich zulässig ist, den Entscheid ausschlaggebend oder gar ausschliesslich auf verwaltungsinterne Abklärungen zu stützen. Aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK und der zugehörigen Rechtsprechung ergeben sich diesbezüglich keine weitergehenden Anforderungen, als sie das Bundesrecht kennt.

4. a) Gemäss Art. 72bis IVV trifft das Bundesamt mit Spitälern oder anderen geeigneten Stellen Vereinbarungen über die Errichtung von medizinischen Abklärungsstellen, welche die zur Beurteilung von Leistungsansprüchen erforderlichen ärztlichen Untersuchungen vornehmen. Es regelt Organisation und Aufgaben dieser Stellen und die Kostenvergütung.
Im Juni 1993, als der Beschwerdeführer in der MEDAS untersucht wurde, stand noch das vom BSV am 3. April 1978 erlassene Statut in Kraft, welches mit Wirkung ab 1. Juni 1994 durch eine neue Regelung ersetzt wurde. Beim fraglichen Statut handelt es sich um eine gestützt auf Art. 72bis IVV erlassene Weisung (MEYER-BLASER, Der Einfluss der Europäischen Menschenrechtskonvention auf das schweizerische Sozialversicherungsrecht, in: ZSR 113 1994, I. Halbband, S. 402 Fn. 76).
Ziff. 1 des im vorliegenden Fall massgeblichen Statuts in der Fassung vom 3. April 1978 umschrieb die Aufgaben der Abklärungsstellen wie folgt:
1.1 Die MEDAS beurteilen im Auftrag der IV-Kommissionen den gesamten Gesundheitszustand von Versicherten, wenn die in diesem Bereich erforderliche Abklärung besonders schwierig ist und auf andere Weise nicht durchgeführt werden kann. Die Abklärungen haben den IV-Organen die für die Beurteilung des Anspruches auf Leistungen erforderlichen medizinischen Angaben zu beschaffen. Insbesondere gehören dazu Angaben über vorliegende Gesundheitsschäden und deren Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit sowie die Möglichkeit und die Zumutbarkeit von Eingliederungsmassnahmen aus medizinischer Sicht ...
1.2 ...
1.3 ...
1.4 ...
Nach Ziff. 2.2 erfolgt die Errichtung von Abklärungsstellen durch Vertrag des BSV mit Trägerorganisationen, die bereit sind, eine MEDAS gemäss Statut, das integrierender Bestandteil des Vertrages ist, zu errichten.
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Gemäss Ziff. 2.3 werden die Kosten für die Einrichtung und den Betrieb der MEDAS im Rahmen einer vernünftigen und wirtschaftlichen Betriebsführung durch die Invalidenversicherung getragen.
Unter dem Titel "Organisation" fand sich in Ziff. 3 des Statuts sodann, soweit vorliegend von Belang, folgende Regelung:
3.1 Die Anstellung des Personals und die Bereitstellung der erforderlichen Einrichtungen erfolgen durch die Trägerorganisation im Einvernehmen mit dem BSV. Der Vertrag mit der Trägerorganisation regelt die Einzelheiten.
3.2 Die MEDAS steht unter der Leitung eines vollamtlich tätigen Arztes, dem ein bis zwei weitere Ärzte und das nötige Hilfspersonal beizugeben sind. Die Obliegenheiten des Personals sind in Pflichtenheften zu umschreiben. Pflichten und Rechte des Personals sind in Einzelarbeitsverträgen festzulegen. Pflichtenhefte und Verträge der Ärzte bedürfen der Genehmigung des BSV.
3.3 ...
3.4 Die Ärzte der MEDAS unterstehen hinsichtlich der medizinischen Gutachtertätigkeit dem ärztlichen Dienst des BSV, der ihnen Weisungen erteilen und sie zu Instruktionen und Konferenzen einladen kann.
b) In den unveröffentlichten Urteilen Z. vom 12. April 1994 und D. vom 6. Juni 1994 hat das Eidg. Versicherungsgericht unter Hinweis auf Art. 72bis IVV festgestellt, dass es sich bei der MEDAS um die spezialisierte Abklärungsstelle handelt, die weder den Durchführungsorganen noch der Aufsichtsbehörde in irgendeiner Art weisungspflichtig noch sonstwie untergeordnet ist, sondern auf tarifvertraglicher Grundlage medizinische Abklärungen vornimmt, die einzig und allein nach bestem ärztlichen Wissen und Gewissen zu erstatten sind. Im Urteil F. vom 4. August 1995 (AHI 1997 S. 120) wurde sodann erkannt, dass das vom BSV gestützt auf Art. 72bis IVV erlassene, am 1. Juni 1994 in Kraft getretene neue Statut der medizinischen Abklärungsstellen in der Invalidenversicherung die erforderliche Unabhängigkeit der MEDAS bei der Erfüllung von Gutachteraufträgen garantiert.
Aus den beiden erstgenannten Urteilen ergibt sich, dass das Eidg. Versicherungsgericht die erforderliche Unabhängigkeit der MEDAS bereits vor Inkrafttreten des neuen Statuts bejaht hat, das in dieser Hinsicht insofern eine Neuerung aufweist, als in Ziff. 4.2.4 nunmehr ausdrücklich festgehalten ist, dass der Chefarzt und die Ärzte der MEDAS ihren gutachterlichen Auftrag unabhängig und in ihrem freien Ermessen erfüllen und in ihrer Meinungsbildung keinerlei
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Einfluss seitens der Aufsichtsorgane unterstehen. Damit wurde die schon zuvor bestehende fachlich-inhaltliche Weisungsunabhängigkeit der begutachtenden Ärzte institutionell verankert (vgl. dazu MEYER-BLASER, a.a.O., S. 401). Ungeachtet des Umstandes, dass das alte Statut keine analoge Bestimmung kannte, lässt sich die nach Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK vorausgesetzte Unabhängigkeit und Unbefangenheit der Abklärungsstelle auch für die Zeit vor Inkrafttreten des revidierten Statuts nicht ernstlich in Zweifel ziehen. Wenn selbst aus der Tatsache, dass ein Arzt in einem Anstellungsverhältnis zum Versicherungsträger steht, nicht auf mangelnde Objektivität und auf Befangenheit zu schliessen ist, kann dieser Vorwurf um so weniger gegenüber den Ärzten der MEDAS erhoben werden, welche nicht durch den Versicherungsträger selber, sondern durch die jeweilige Trägerorganisation angestellt werden. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kann aus Ziff. 3.4 des früheren Statuts nicht abgeleitet werden, dass das BSV auf die inhaltliche Seite der Gutachtertätigkeit Einfluss nehmen konnte. Aus der Systematik des Statuts ergibt sich vielmehr, dass sich die Weisungsbefugnis des Bundesamtes einzig auf die organisatorischen und administrativen Belange bezogen hat, trug doch Ziff. 3 die Überschrift "Organisation".
Schliesslich ist auch nicht entscheidend, dass die Kosten für die Einrichtung und den Betrieb der MEDAS durch die Invalidenversicherung getragen werden (Ziff. 2.3 des Statuts). Denn der Umstand, dass Abklärungsdienste, Gutachterstellen usw. mit Mitteln des Sozialversicherers finanziert werden, steht der Annahme eines fairen Abklärungsverfahrens nicht im Wege (MEYER-BLASER, a.a.O., S. 401 f.).
Nach dem Gesagten liegen keine Gründe vor, die auf mangelnde Objektivität und auf Voreingenommenheit der Ärzte der MEDAS schliessen liessen, was Zweifel am Beweiswert ihrer Gutachten rechtfertigen könnte. Diese sind vielmehr im Rahmen der freien Beweiswürdigung zu prüfen und bei der Beurteilung des streitigen Rechtsanspruchs zu berücksichtigen.

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