Urteilskopf
124 I 203
25. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 3. Juli 1998 i.S. X. gegen die Direktion der Justiz des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste
Persönliche Freiheit (Recht des Gefangenen auf Bargeldbesitz; Zulässigkeit einer disziplinarischen Besuchssperre).
Die verfassungsrechtlichen Schranken für Eingriffe in die Freiheitsrechte gelten auch bezüglich des Bargeldbesitzes von Gefangenen (E. 2b-c). Die Weisung der Direktion der kantonalen Strafanstalt Pöschwies vom 20. Februar 1995 betreffend das Mitführen von Bargeld bei Besuchen liegt im öffentlichen Interesse und stützt sich auf eine ausreichende gesetzliche Grundlage (E. 2d-f). Zulässigkeit von angemessenen Disziplinarsanktionen zur Durchsetzung der Weisung vom 20. Februar 1995. Das im vorliegenden Fall verhängte disziplinarische Besuchsverbot von einem Monat Dauer erscheint nicht als unverhältnismässiger Eingriff in die persönliche Freiheit des betroffenen Gefangenen (E. 4).
X. befindet sich seit 26. November 1997 in der kantonalen Strafanstalt Pöschwies im Strafvollzug. Die Direktion der Strafanstalt disziplinierte ihn mit Verfügung vom 19. Dezember 1997 wegen Widerhandlung gegen eine interne Weisung vom 20. Februar 1995 betreffend Mitführens von Bargeld bei Besuchen. Als Disziplinarsanktion wurde X. ein Monat Besuchssperre auferlegt. Gleichzeitig wurde die (den erlaubten Betrag von Fr. 20.-- übersteigende) Barschaft von Fr. 93.70 auf seinen Namen sichergestellt. Einen gegen die Disziplinarverfügung erhobenen Rekurs wies die Direktion der Justiz des Kantons Zürich mit Entscheid vom 4. Februar 1998 ab.
Dagegen gelangte X. mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 11. März 1998 an das Bundesgericht. Er rügt eine Verletzung der persönlichen Freiheit, von
Art. 4 BV
,
Art. 7 und
Art. 8 Ziff. 2 EMRK
sowie des Grundsatzes "nulla poena sine lege" und beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es auf sie eintritt.
Aus den Erwägungen:
2.
a) Der Beschwerdeführer rügt zunächst, es bestehe keine ausreichende gesetzliche Grundlage für die fragliche Weisung vom 20. Februar 1995 (betreffend Mitführens von Bargeld bei Besuchen) und somit auch für die ausgesprochene Disziplinarsanktion. Der Gefängnisdirektor sei dazu von Gesetzes wegen gar nicht befugt. Ausserdem widerspreche die Weisung dem übergeordneten kantonalen Recht. Der Beschwerdeführer beanstandet in diesem Zusammenhang eine Verletzung der persönlichen Freiheit, von
Art. 7 und
Art. 8 Ziff. 2 EMRK
sowie des Grundsatzes "nulla poena sine lege".
b) Nach ständiger Praxis des Bundesgerichtes darf die Beschränkung der Freiheitsrechte von Gefangenen nicht über das hinausgehen, was zur Gewährleistung der Haftzwecke und zur Aufrechterhaltung eines ordnungsgemässen Gefängnisbetriebes erforderlich ist (
BGE 123 I 221
E. I/4c S. 228 mit Hinweisen). Sie muss auf gesetzlicher Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und
BGE 124 I 203 S. 205
verhältnismässig sein; zudem dürfen die verfassungsmässigen Freiheitsrechte weder völlig unterdrückt noch ihres Gehaltes als Institution der Rechtsordnung entleert werden (
BGE 124 I 40
E. 3a S. 42;
BGE 123 I 221
E. I/4 S. 226). Falls die Voraussetzungen für den Freiheitsentzug in einem formellen Gesetz ausreichend konkretisiert sind, können die Haftbedingungen in einem materiellen Gesetz (Gefängnisreglement) geregelt werden. Zur wirksamen Durchsetzung von Sicherheitsvorschriften kann das Gefängnisreglement auch eine Disziplinarordnung enthalten und für Widerhandlungen angemessene Disziplinarsanktionen vorsehen (
BGE 118 Ia 64
E. 3r-3t S. 88 ff.). Das Gefängnisreglement hat allerdings ein Mindestmass an Klarheit und Regelungsdichte aufzuweisen (
BGE 123 I 221
E. I/4a S. 226 mit Hinweisen). Die fragliche Rechtsnorm muss ausreichend zugänglich sein, und der Betroffene soll in hinreichender Weise erkennen können, welche rechtlichen Vorschriften auf einen gegebenen Fall anwendbar sind. Das Gesetz muss mithin so präzise formuliert sein, dass der Rechtsunterworfene sein Verhalten danach ausrichten und die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen kann (
BGE 124 I 40
E. 3b S. 43 mit Hinweisen).
c) Im Lichte dieser Erwägungen kann der Auffassung der kantonalen Justizdirektion, der Bargeldbesitz gehöre zum vornherein "nicht zu den Rechten (...), die Strafgefangenen gemäss Verfassung oder Gesetz zustehen und die nur auf gesetzlicher Grundlage eingeschränkt werden dürften", offensichtlich nicht gefolgt werden. Vielmehr ist in den nachfolgenden Erwägungen zu prüfen, ob die streitige Weisung und die sich darauf stützende Disziplinarsanktion vor der Verfassung standhalten und insbesondere auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruhen.
Die ebenfalls angerufenen
Art. 7 und
Art. 8 Ziff. 2 EMRK
haben in diesem Zusammenhang keine über das bereits Dargelegte hinausgehende selbständige Bedeutung. Analoges gilt für die Maxime "nulla poena sine lege". Soweit der Beschwerdeführer mit der Anrufung dieses in
Art. 1 StGB
ausdrücklich verankerten Grundsatzes sinngemäss eine Verletzung von materiellem Bundesstrafrecht rügt, kann darauf nicht eingetreten werden (
Art. 84 Abs. 2 OG
i.V.m Art. 268 f. BStP).
d) Die zürcherische Verordnung über die kantonale Strafanstalt Pöschwies vom 12. Februar 1975 (VoSP [LS 333.3]) regelt in §§ 17-21 die Verwendung der Arbeitsentschädigung (Verdienstanteil) und des dem Gefangenen gehörenden Bargeldes. Von seinem Verdienstanteil
BGE 124 I 203 S. 206
wird ihm monatlich ein von der Justizdirektion festzulegender Betrag, jedoch höchstens ein Drittel, bar ausbezahlt. Der Rest wird dem Gefangenen gutgeschrieben und angemessen verzinst (§ 18 VoSP). Über den ausbezahlten Barbetrag kann der Gefangene "im Rahmen der Hausordnung frei verfügen" (§ 19 Abs. 1 VoSP). Die Justizdirektion legt auch den maximalen Bargeldbetrag fest, den die Gefangenen besitzen dürfen. "Mehrbeträge sind sofort abzuliefern" (§ 19 Abs. 2 VoSP). Die Hälfte des Verdienstanteils wird auf einem Sperrkonto für die Entlassung reserviert (§ 20 VoSP). Der Rest wird dem Gefangenen als Reserve für besondere Aufwendungen gutgeschrieben und ebenfalls verzinst (§ 21 Abs. 1 VoSP). Beim Eintritt in die Strafanstalt vorhandenes Bargeld und während des Aufenthalts in der Strafanstalt eingehende Beträge werden je zur Hälfte der Reserve für besondere Aufwendungen und dem Sperrkonto gutgeschrieben (§ 21 Abs. 3 VoSP). Der Direktor der Strafanstalt ist ausserdem befugt, "die für die Wahrung der Sicherheit notwendigen Weisungen" zu erlassen, insbesondere betreffend Kontrollen von Gefangenen und Besuchern (§ 65 Abs. 1 VoSP). Der Direktor kann die Rechte, welche den Gefangenen aufgrund der Verordnung zustehen, vorübergehend einschränken, soweit dies zur Wahrung der Anstaltssicherheit erforderlich ist (§ 65 Abs. 2 VoSP).
Die streitige Weisung der Direktion der kantonalen Strafanstalt Pöschwies vom 20. Februar 1995 lautet wie folgt:
"1. Insassen dürfen beim Besuch nur noch einen Betrag von maximal Fr. 20.-- auf sich tragen.
2. Das auf sich getragene Geld von dagegen zuwiderhandelnden Insassen wird sichergestellt, und der fehlbare Insasse wird diszipliniert."
e) Die Weisung vom 20. Februar 1995 liegt im Interesse der Sicherheit des Gefängnisses und der Haftzwecke. Es handelt sich um eine sachlich angemessene Vorkehr gegen das Ein- und Ausschmuggeln grösserer Bargeldbeträge. Damit sollen insbesondere Kollusions- und Fluchtvorbereitungshandlungen sowie Aktivitäten im Hinblick auf illegale Geschäfte (namentlich Drogenhandel) unterbunden werden. Es stellt keine unzulässige Einschränkung der persönlichen Freiheit dar, wenn die Gefangenen vor dem Betreten des Besucherpavillons den Fr. 20.-- übersteigenden Betrag ihres Bargeldes vorübergehend in ihrer abschliessbaren Einzelzelle oder bei der Gefängnisleitung deponieren müssen. Die streitige Weisung kann sich somit auf § 65 VoSP stützen, wonach der Direktor der Anstalt die für die Wahrung der Sicherheit notwendigen Weisungen
BGE 124 I 203 S. 207
erteilen kann. Die streitige Weisung selbst ist ausreichend klar und deutlich formuliert. Die Anstaltsordnung als materielles Gesetz findet ihre formellrechtliche Grundlage wiederum im zürcherischen Straf- und Vollzugsgesetz vom 30. Juni 1974 (StVG [LS 331],
§ 29 Abs. 1 und
§ 30 Abs. 1 StVG
). Der Beschwerdeführer verkennt, dass die Weisung der Anstaltsdirektion das Recht der Gefangenen auf Bargeldbesitz nicht generell sondern lediglich für den Fall von Besuchen einschränkt. Während §§ 17-21 VoSP für den Anstaltsbetrieb im allgemeinen gelten, bezieht sich die Weisung lediglich auf den Spezialfall der Besuche. Die aus Sicherheitsgründen erlassene und auf die Dauer der Besuche beschränkte Weisung widerspricht demnach auch nicht § 19 Abs. 2 VoSP, wonach der im allgemeinen zulässige Bargeldbetrag von der Justizdirektion festgelegt wird.
f) Nach dem Gesagten erweist sich die Rüge, die Weisung vom 20. Februar 1995 habe keine ausreichende gesetzliche Grundlage, als unbegründet.
3.
... (Verfassungskonformität der Annahme eines Disziplinarvergehens bejaht.)
4.
Schliesslich rügt der Beschwerdeführer, die angefochtene disziplinarische Besuchssperre von einem Monat Dauer verstosse gegen das aus der persönlichen Freiheit abzuleitende (und in § 46 VoSP ausdrücklich verankerte) Recht des Gefangenen auf Empfang von Besuchen. Die Schwere der Sanktion sei zudem unverhältnismässig und sachlich unhaltbar. Auch diese Rüge erweist sich als unbegründet.
a) Wie bereits erwähnt, dürfen die Grundrechte der Gefangenen soweit eingeschränkt werden, als es zur Wahrung der Sicherheit des Gefängnisses sachlich notwendig erscheint (vgl. oben, E. 2b). Nötigenfalls sind zur Durchsetzung der Gefängnisordnung auch angemessene Disziplinarsanktionen zulässig (
BGE 118 Ia 64
E. 3r S. 88 f.). Wie in Erwägung 3 dargelegt, hat der Beschwerdeführer eine gültige Weisung der Anstaltsdirektion betreffend das Mitführen von Bargeld bei Besuchen missachtet; die Ausfällung einer disziplinarischen Besuchssperre ist nach dem anwendbaren kantonalen Recht zulässig.
b) Ein Besuchsverbot von einem Monat Dauer erscheint im vorliegenden Fall nicht als unverhältnismässig schwerer Eingriff in die persönliche Freiheit des Beschwerdeführers. Die Gefangenen in der Strafanstalt Pöschwies dürfen grundsätzlich alle zwei Wochen einen Besuch naher Angehöriger empfangen (§ 46 Abs. 1 VoSP). Das
BGE 124 I 203 S. 208
Gesetz lässt eine disziplinarische Besuchssperre bis zu drei Monaten zu (§ 58 Abs. 1 lit. e VoSP). Angesichts der dargelegten Umstände liegt hier kein schwerer Disziplinarverstoss vor. Die Ausfällung einer einmonatigen Besuchssperre ist sachlich vertretbar. Der Beschwerdeführer macht zwar geltend, seine Schwester sei vergeblich aus den USA in die Schweiz gereist und auch sein in Frankreich lebender Halbbruder habe ihn über Weihnachten 1997 besuchen wollen. Gemäss den Darlegungen der kantonalen Behörden hat der Beschwerdeführer die Gefängnisleitung jedoch nicht über die angeblich geplanten Besuche informiert. Ausserdem hat er sich am 20. Dezember 1997 mit dem sofortigen Vollzug der Besuchssperre unterschriftlich einverstanden erklärt. Wenn er die Erklärung vom 20. Dezember 1997 unterzeichnet hat, ohne deren Inhalt zu verstehen bzw. ohne deren Erläuterung oder Übersetzung in seine Muttersprache zu verlangen, kann er den kantonalen Behörden nicht vorwerfen, der sofortige Vollzug der Besuchssperre sei unverhältnismässig hart gewesen.
c) Unter den gegebenen Umständen hält die angefochtene Disziplinarverfügung vor der Verfassung stand.