BGE 124 III 346 vom 28. Mai 1998

Datum: 28. Mai 1998

Artikelreferenzen:  Art. 95 OR, Art. 119 OR, Art. 324 OR, Art. 337 OR , Art. 336c OR, Art. 336c Abs. 1 OR, Art. 119 Abs. 1 OR, Art. 324 Abs. 1 OR

BGE referenzen:  109 II 330, 115 V 437, 120 II 365, 125 III 65 , 115 V 437, 109 II 330, 120 II 365

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

124 III 346


61. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 28. Mai 1998 i.S. X. AG gegen Y. und Arbeitslosenkasse Q. (Berufung)

Regeste

Art. 336c OR .
Der zeitliche Kündigungsschutz gemäss Art. 336c OR gilt auch im Falle einer ganzen oder teilweisen Betriebsschliessung (E. 1 und 2).

Sachverhalt ab Seite 347

BGE 124 III 346 S. 347

A.- Mit Arbeitsvertrag vom 21. November 1988 wurde Y. von der X. AG als Hilfsarbeiterin für die Bandmontage angestellt. Sie arbeitete in einem Betriebsteil ("Betrieb I"), in welchem im Auftrag der Z. AG Bohrmaschinen montiert wurden. Im Juni 1993 wurde Y. schwanger. Mit Schreiben vom 19. Oktober 1993 kündigte die X. AG das Arbeitsverhältnis per 30. April 1994 mit der Begründung, die Z. AG habe den Montageauftrag nicht mehr erneuert, weshalb der Betrieb I geschlossen werden müsse. Am 22. März 1994 gebar Y. einen Sohn.

B.- Am 22. Juni 1994 klagte Y. beim Arbeitsgerichtspräsidenten von Solothurn-Lebern auf Bezahlung von Fr. 19'023.35 nebst Zins, soweit die Forderung nicht von der Subrogationserklärung der Arbeitslosenkasse Q. erfasst werde. Das Arbeitsgericht hiess die Klage mit Urteil vom 24. September 1996 im Umfang von Fr. 11'414.-- nebst Zins gut. Auf Nichtigkeitsbeschwerde der X. AG reduzierte das Obergericht des Kantons Solothurn mit Urteil vom 8. Dezember 1997 die Parteientschädigung und bestätigte im Übrigen den angefochtenen Entscheid.

C.- Die Beklagte gelangt mit eidgenössischer Berufung ans Bundesgericht und beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

D.- Das Bundesgericht weist die Berufung ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Nach den Feststellungen der Vorinstanz hat die Beklagte den Arbeitsvertrag zu einem Zeitpunkt gekündigt, als die Klägerin bereits schwanger war. Streitig ist im vorliegenden Fall einzig, ob der zeitliche Kündigungsschutz gemäss Art. 336c Abs. 1 OR auch im Falle einer Teilbetriebsschliessung zur Anwendung gelangt.
a) Art. 336c Abs. 1 OR verbietet dem Arbeitgeber, das Arbeitsverhältnis nach der Probezeit während bestimmter Sperrfristen zu kündigen. Wird die Kündigung gleichwohl ausgesprochen, ist sie nichtig (Abs. 2). Zweck dieser Bestimmung ist es, dem Arbeitnehmer die Stelle zu erhalten, solange er verhindert ist, nach einem neuen Arbeitsplatz Ausschau zu halten ( BGE 115 V 437 E. 3b S. 441; BGE 109 II 330 E. 2b S. 332, je mit Hinweisen; AB 1985 N 533; STAEHELIN, Zürcher Kommentar, 3. Aufl., Zürich 1996, N. 1 zu Art. 336c OR ; VISCHER, Der Arbeitsvertrag, in: SPR VII/1, III, S. 173; BRÜHWILER, Kommentar zum Einzelarbeitsvertrag, 2. Aufl., Bern 1996, N. 1 zu Art. 336c OR ). Ob der Arbeitgeber während der Zeit, da der
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Arbeitnehmer die Arbeitsleistung nicht erbringen kann, verpflichtet ist, den Lohn weiter zu entrichten, lässt sich Art. 336c OR indessen nicht entnehmen; Kündigungsschutz und Lohnfortzahlungspflicht gelten unabhängig voneinander (REHBINDER, Berner Kommentar, Bern 1992, N. 10 zu Art. 336c OR ; VISCHER, a.a.O., S. 177; STREIFF/VON KAENEL, Leitfaden zum Arbeitsvertragsrecht, 5. Aufl., Zürich 1992, N. 11 zu Art. 336c OR ; BRÜHWILER, a.a.O., N. 9 zu Art. 336c OR ; BGE 120 II 365 , unveröffentlichte E. 5b).
b) Weder der Wortlaut noch die Entstehungsgeschichte dieser Norm enthalten einen Hinweis, wonach der zeitliche Kündigungsschutz bei einer vollständigen oder teilweisen Betriebsschliessung nicht zur Anwendung gelangen soll. Der überwiegende Teil der Lehre vertritt denn auch die Ansicht, die Sperrfristen gemäss Art. 336c OR würden auch in einem solchen Falle gelten (REHBINDER, a.a.O., N. 1 zu Art. 336c OR ; STAEHELIN, a.a.O., N. 3 zu Art. 336c OR ; BRUNNER/BÜHLER/WAEBER, Kommentar zum Arbeitsvertragsrecht, Basel 1997, N. 1 zu Art. 336c OR ; WERNER GLOOR, ArbR 1992 S. 64). Die Beklagte beruft sich aber auf Urs Nef (Aktuelle Probleme im arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz, SJZ 88/1992 S. 102 ff.; ebenso Gabriela Riemer-Kafka, Der neurechtliche Kündigungsschutz bei Schwangerschaft und Niederkunft, SJZ 85/1989, S. 58) und macht geltend, die Gewerbetreibenden müssten aufgrund der Handels- und Gewerbefreiheit frei entscheiden können, ob und zu welchem Zeitpunkt sie ihren Betrieb einstellen wollten. Diese Möglichkeit würde ihnen aber genommen, wenn sie zuerst den Ablauf aller möglichen Sperrfristen abzuwarten hätten. Das Ziel des zeitlichen Kündigungsschutzes, dem Arbeitnehmer während gewisser Sperrfristen die Stelle zu erhalten, werde bei einer Betriebsschliessung ohnehin unerreichbar. Deshalb werde in diesem Fall das Arbeitsverhältnis beendigt und der Arbeitgeber gemäss Art. 119 Abs. 1 OR von der Lohnzahlungspflicht befreit.

2. a) Gemäss Art. 324 Abs. 1 OR bleibt der Arbeitgeber, wenn die Arbeit infolge seines Verschuldens nicht geleistet werden kann oder er aus anderen Gründen mit der Annahme der Arbeitsleistung in Verzug kommt, zur Entrichtung des Lohnes verpflichtet. In Abweichung von Art. 95 OR zwingt diese Bestimmung den Arbeitnehmer nicht zum Vertragsrücktritt, sondern gewährt ihm einen Lohnanspruch, wenn der Arbeitgeber die Annahme der Arbeitsleistung verweigert. Ein Verschulden des Arbeitgebers ist dabei entgegen der Ansicht der Beklagten nicht erforderlich, der Verzug tritt auch dann ein, wenn er die Unmöglichkeit nicht zu vertreten hat
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(SCHÖNENBERGER/STAEHELIN, Zürcher Kommentar, 3. Aufl., Zürich 1996, N. 2 und 10 zu Art. 324 OR ; VISCHER, a.a.O., S. 122; STREIFF/VON KAENEL, a.a.O., N. 4 zu Art. 324 OR ). Insofern geht Art. 324 Abs. 1 OR der allgemeinen Regel von Art. 119 Abs. 1 OR vor.
Ferner trägt nach nahezu einhelliger Auffassung der Arbeitgeber das Betriebs- und das Wirtschaftsrisiko ( BGE 57 I 370 ff.; SCHÖNENBERGER/STAEHELIN, a.a.O., N. 12 ff. zu Art. 324 OR ; REHBINDER, Berner Kommentar, Bern 1992, N. 29 zu Art. 324 OR ; VISCHER, a.a.O., S. 122 f.; STREIFF/VON KAENEL, a.a.O., N. 5 zu Art. 324 OR ; BRÜHWILER, a.a.O., N. 2 zu Art. 324 OR ; SCHWEINGRUBER, Kommentar zum Arbeitsvertrag, Zürich 1974, N. 2 f. zu Art. 324 OR ; BENNO SCHNÜRIGER, Annahmeverzug und Betriebsrisiko, Diss. Zürich 1981, S. 39 f. und 58; anders in Bezug auf das wirtschaftliche Risiko NEF, a.a.O., S. 105). Ist die Arbeitsleistung als solche zwar möglich, lehnt sie der Arbeitgeber aber aus betriebstechnischen oder wirtschaftlichen Gründen ab, gerät er somit in Annahmeverzug und bleibt zur Lohnzahlung verpflichtet, wenn der Arbeitnehmer seine Leistung gehörig anbietet. Das Betriebsrisiko stellt überdies grundsätzlich auch keinen wichtigen Grund im Sinne von Art. 337 OR dar, der eine vorzeitige Auflösung des Arbeitsverhältnisses gestatten würde (STAEHELIN, a.a.O., N. 25 zu Art. 337 OR ; REHBINDER, a.a.O., N. 2 zu Art. 337 OR ; SCHNÜRIGER, a.a.O., S. 107 f.).
b) Selbst wenn die Beklagte, wie sie vorbringt, aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen war, einen Betriebsteil zu schliessen, entbindet sie dies nach dem Gesagten nicht von der Erfüllung ihrer arbeitsvertraglichen Pflichten. Auch Nef, dessen Meinung sich die Beklagte zu eigen macht, bestreitet im Übrigen nicht, dass auch im Falle einer Betriebsschliessung die ordentlichen Kündigungsfristen einzuhalten sind (NEF, a.a.O., S. 103). Weshalb aber die gesetzlichen Sperrfristen gemäss Art. 336c Abs. 1 OR diesfalls nicht zur Anwendung gelangen sollten, ist nicht einsehbar. Das Anliegen des Gesetzgebers, dem Arbeitnehmer genügend Zeit für die Stellensuche einzuräumen (E. 1a hiervor), wird dadurch keineswegs hinfällig. Wohl kann der Arbeitnehmer nach einer Betriebsschliessung nicht mehr an seinen Arbeitsplatz zurückkehren. Entscheidend ist aber die Sicherung des Einkommens für den Zeitraum, während dem er sich für eine neue Stelle umsehen muss (REHBINDER, a.a.O., N. 1 zu Art. 336c OR ).
Die Beklagte macht im Anschluss an NEF (a.a.O., S. 105) geltend, die Anwendung des zeitlichen Kündigungsschutzes bei Betriebsschliessungen stünde mit der Handels- und Gewerbefreiheit in
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grundlegendem Widerspruch, und rügt damit sinngemäss eine verfassungswidrige Anwendung von Art. 336c OR durch die Vorinstanz. Dabei verkennt sie jedoch, dass der Arbeitgeber - auch wenn er noch Sperrfristen gemäss Art. 336c OR zu beachten hat - an einer Betriebsschliessung nicht gehindert ist und auch deren Zeitpunkt frei bestimmen kann. Einzuhalten hat er aber die ihm obliegenden finanziellen Verpflichtungen gegenüber seinen Angestellten aus Gesetz und Vertrag. Erst recht muss dies gegenüber jenen Arbeitnehmern gelten, die sich in einer nach Art. 336c Abs. 1 OR besonders schutzwürdigen Situation befinden. Dem Arbeitnehmer den zeitlichen Kündigungsschutz entgegen dem Wortlaut von Art. 336c Abs. 1 OR bei Betriebsschliessungen zu versagen, besteht demnach kein Anlass.

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