BGE 124 V 324 vom 4. Dezember 1998

Datum: 4. Dezember 1998

Artikelreferenzen:  Art. 77 AHVV, Art. 85 IVV , Art. 85 Abs. 1 IVV

BGE referenzen:  129 V 211, 138 V 298 , 119 V 180

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

124 V 324


54. Auszug aus dem Urteil vom 4. Dezember 1998 i.S. IV-Stelle des Kantons St. Gallen gegen S. und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen

Regeste

Art. 85 Abs. 1 IVV in Verbindung mit Art. 77 AHVV .
Art. 77 AHVV räumt dem Versicherten einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf Korrektur einer formell rechtskräftigen Verfügung ein, welcher indessen nicht auf eine generelle Wiedererwägung der Verwaltungsverfügung abzielt, sondern dem Versicherten lediglich die - rechnerische - Berichtigung einer formell rechtskräftigen Rentenverfügung ermöglicht, ohne dass die Verwaltung an die spezifischen Voraussetzungen von Revision oder Wiedererwägung gebunden ist.

Erwägungen ab Seite 325

BGE 124 V 324 S. 325
Aus den Erwägungen:

2. a) Gemäss Art. 85 Abs. 1 IVV ist Art. 77 AHVV unter anderem für die Nachzahlung von Renten - unter Berücksichtigung der Verjährungsbestimmungen - sinngemäss anwendbar. Danach kann, wer eine ihm zustehende Rente nicht bezogen oder eine niedrigere Rente erhalten hat, als er zu beziehen berechtigt war, den ihm zustehenden Betrag von der Ausgleichskasse nachfordern (Art. 77 erster Satz AHVV). Das Eidg. Versicherungsgericht hat in BGE 119 V 180 ohne nähere Begründung die Frage offengelassen, ob diese Bestimmung dem Versicherten ganz allgemein Anspruch auf "Wiedererwägung" einer Verwaltungsverfügung einräumt.
b) Das kantonale Gericht hat eine rechnerische Berichtigung der rechtskräftigen Rentenverfügung unter Hinweis auf ein in SVR 1996 IV Nr. 69 S. 201 publiziertes Urteil bejaht. In jenem Entscheid hatte die Rekurskommission für Sozialversicherung des Kantons Obwalden ausgeführt, bei Art. 77 AHVV handle es sich nicht um eine Kann-Vorschrift. Vielmehr verpflichte diese Bestimmung die Ausgleichskasse, zu niedrig ausbezahlte Renten im Rahmen der Bestimmungen über die Anspruchsverwaltung nachzuzahlen. In diesem Sinne räume sie dem Versicherten einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf Berichtigung einer rechtskräftigen Verfügung ein. Die Rechtsprechung bezüglich Wiedererwägung formell rechtskräftiger Verfügungen könne demgegenüber nur in Ermangelung eines gesetzlich geregelten Anspruchs zum Zuge kommen. Ein solcher Anspruch auf Wiedererwägung ergebe sich nun aber gerade aus Art. 77 AHVV . Diese Bestimmung setze keine zweifellose Unrichtigkeit des Rechtszustandes im Zeitpunkt des Verfügungserlasses voraus, sondern mache eine Nachzahlung lediglich davon abhängig, dass niedrigere Leistungen erbracht wurden, als der Versicherte eigentlich zu beziehen berechtigt gewesen wäre. Die Vorinstanz schloss daraus, Art. 77 AHVV setze nicht den klassischen Tatbestand der Wiedererwägung voraus, sondern räume dem Versicherten nur einen Anspruch auf eine rein rechnerische Berichtigung einer formell rechtskräftigen Verfügung ein, was eine Überprüfung des Invaliditätsgrades zum vornherein ausschliesse.
c) Dieser Betrachtungsweise ist beizupflichten. Gemäss dem Wortlaut von Art. 77 AHVV bezieht sich dessen Anwendungsbereich nicht nur auf Fälle, in denen die Verwaltung mangels Antrag noch gar nicht verfügt hat ("eine ihm zustehende Rente nicht bezogen"), sondern sie verpflichtet die
BGE 124 V 324 S. 326
Ausgleichskasse zudem, gestützt auf eine bereits ergangene Verfügung zu niedrig ausbezahlte Renten im Rahmen der Bestimmungen über die Anspruchsverwirkung nachzuzahlen. Dem Versicherten wird somit unter den Voraussetzungen von Art. 77 AHVV ein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch auf Korrektur einer formell rechtskräftigen Verfügung eingeräumt (vgl. auch RUMO-JUNGO, Die Instrumente zur Korrektur der Sozialversicherungsverfügung, in: Verfahrensfragen in der Sozialversicherung, St. Gallen 1996, S. 287 Fn. 85). Dieser zielt indessen nicht auf eine generelle Wiedererwägung der Verwaltungsverfügung ab, sondern ermöglicht dem Versicherten lediglich die - rechnerische - Berichtigung einer formell rechtskräftigen Rentenverfügung, ohne dass die Verwaltung an die spezifischen Voraussetzungen von Revision oder Wiedererwägung gebunden ist. Die Verwaltung kann sich in diesen Fällen nicht darauf beschränken, auf ein entsprechendes Gesuch mit der Begründung nicht einzutreten, es bestehe kein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch auf Korrektur einer unrichtig berechneten Invalidenrente. Verfügungen, mit welchen auf ein Nachforderungsgesuch im Sinne von Art. 77 AHVV nicht eingetreten wird oder welche ein solches Gesuch ablehnen, sind beschwerdeweise anfechtbar.

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