BGE 125 I 65 vom 11. Dezember 1998

Datum: 11. Dezember 1998

Artikelreferenzen:  Art. 4 BV , Art. 9 StHG, § 23 Abs. 3 StG, § 23 Abs. 2 StG, § 23 Abs. 2 und 3, § 43 Abs. 2, Art. 34quater Abs. 6 sowie Art. 34sexies BV

BGE referenzen:  122 I 18, 123 I 112, 124 I 145, 124 I 193, 125 I 227, 125 II 440, 125 I 369, 128 I 240, 130 I 26, 131 I 291, 132 I 157, 133 I 206, 143 I 137, 146 I 70 , 124 I 145, 124 I 193, 123 I 112, 122 I 18

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

125 I 65


8. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 11. Dezember 1998 i.S. Ruth Leutenegger und Mitbeteiligte gegen Kanton Thurgau (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

Rechtsgleichheit bei der Festsetzung des Eigenmietwertes, Art. 4 BV ; Art. 9 StHG ; § 23 des thurgauischen Steuergesetzes vom 14. September 1992, in der Fassung vom 12. Mai 1997.
Es ist kein nach Art. 9 StHG unzulässiger Abzug, wenn ein kantonales Steuergesetz den Eigenmietwert tiefer als den Marktwert festsetzt (E. 2).
Der steuerbare Eigenmietwert muss mindestens 60% des effektiven Marktwertes betragen (E. 3).
Ein Gesetz, das für die Festsetzung des Eigenmietwertes vom Marktwert einen Abzug von genau 40% vornimmt, lässt sich verfassungskonform anwenden (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 66

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Am 12. Mai 1997 erliess der Grosse Rat des Kantons Thurgau ein Gesetz, wodurch das kantonale Steuergesetz vom 14. September 1992 (StG/TG) wie folgt geändert wurde:
« § 23 Abs. 2 und 3
2 Der Mietwert von am Wohnsitz selbstgenutztem Wohneigentum ist aufgrund der ortsüblichen Verhältnisse und tatsächlichen Nutzung festzulegen.
3 Zur Bildung und Förderung von am Wohnsitz selbstgenutztem Wohneigentum und zur Begünstigung der Selbstvorsorge wird von dem gemäss Absatz 2 festgelegten Mietwert ein Abzug von 40 Prozent vorgenommen.
§ 43 Abs. 2
2 Zur Bildung und Förderung von am Wohnsitz selbstgenutztem Wohneigentum und zur Begünstigung der Selbstvorsorge wird zur Festlegung des Vermögenssteuerwertes vom Verkehrswert ein Abzug von 20 Prozent vorgenommen».
Auf Antrag von 35 Mitgliedern des Grossen Rates wurde das Gesetz dem Behördenreferendum unterstellt.
Am 5. Juni 1997 erhoben Ruth Leutenegger, Verena Enz, Peter Hausammann, Heinz Herzog, Peter Keller, Ernst Kunz, Markus Schär, Ernst Schlaginhaufen sowie der Mieterverband des Kantons Thurgau staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, der Beschluss des Grossen Rates vom 12. Mai 1997 sei für ungültig zu erklären und damit insbesondere die mit dieser Abstimmung beschlossene Ergänzung und Änderung von § 23 Abs. 2 und 3 des Steuergesetzes.
Das Bundesgericht sistierte das Verfahren bis zur Publikation des Erwahrungsbeschlusses über die Volksabstimmung.
Die Gesetzesänderung wurde in der Volksabstimmung vom 15. März 1998 angenommen. Der Regierungsratsbeschluss betreffend die Ergebnisse der kantonalen Volksabstimmung vom 15. März 1998 wurde am 20. März 1998 im Amtsblatt des Kantons Thurgau veröffentlicht. Mit Verfügung des Präsidenten der II. öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 20. Mai 1998 wurde das Verfahren wieder aufgenommen.
Der Grosse Rat des Kantons Thurgau beantragte mit Vernehmlassung vom 19. Juni 1998, die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
In dem vom Bundesgericht angeordneten zweiten Schriftenwechsel hielten die Parteien an ihren Rechtsbegehren fest.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde im Sinne der Erwägungen ab, soweit es darauf eintritt.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. a) Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung von Art. 2 ÜbBest. BV in Verbindung mit Art. 9 des Bundesgesetzes über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden (StHG; SR 642.14), indem der in § 23 Abs. 3 StG /TG vorgesehene Abzug vom Mietwert gegen die in Art. 9 StHG enthaltene, abschliessende Aufzählung der zulässigen Abzüge verstosse.
b) Das Bundesgericht hat bereits entschieden, dass das Steuerharmonisierungsgesetz dem kantonalen Gesetzgeber die Freiheit belässt, innert den Schranken von Art. 4 BV den steuerbaren Eigenmietwert tiefer als den Marktmietwert festzusetzen ( BGE 124 I 145 E. 3c S. 153 f.). Wenn der Gesetzgeber vorschreibt, dass der Eigenmietwert in einem bestimmten Masse unterhalb des Marktmietwertes festzusetzen ist, so liegt darin nicht die Einführung eines in Art. 9 StHG nicht vorgesehenen und damit unerlaubten anorganischen Abzugs ( BGE 124 I 145 E. 4b S. 155). Dass im angefochtenen thurgauischen Gesetz diese Tieferbewertung redaktionell als «Abzug» bezeichnet ist, vermag daran nichts zu ändern. Die Zulässigkeit einer Tieferbewertung kann nicht von der blossen Redaktion des Gesetzes abhängen. Die Rüge der Verletzung von Art. 2 ÜbBest. BV erweist sich damit als unbegründet.

3. a) Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung von Art. 4 BV , indem der vorgesehene Abzug vom Marktmietwert den Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verletze.
b) Im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle hebt das Bundesgericht ein Gesetz nur auf, wenn es sich jeder verfassungskonformen Anwendung und Auslegung entzieht, nicht jedoch, wenn es einer solchen in vertretbarer Weise zugänglich ist ( BGE 123 I 112 E. 2a S. 116; BGE 122 I 18 E. 2a S. 20; je mit Hinweisen). Das gilt auch für Normen, welche die Höhe des steuerbaren Eigenmietwertes festlegen ( BGE 124 I 145 E. 1g S. 150 f., 193 E. 3c S. 195 f.). Dabei ist mit zu berücksichtigen, unter welchen Umständen die betreffende Bestimmung zur Anwendung gelangen wird. Der Verfassungsrichter hat die Möglichkeit einer verfassungskonformen Anwendung nicht nur abstrakt zu untersuchen, sondern auch die Wahrscheinlichkeit verfassungstreuer Anwendung miteinzubeziehen, um das Risiko
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einer Verfassungsverletzung möglichst gering zu halten ( BGE 124 I 193 E. 3c S. 196; BGE 123 I 112 E. 2c S. 117). Doch lässt die Möglichkeit, dass in besonders gelagerten Einzelfällen die Anwendung der Norm zu einem verfassungswidrigen Ergebnis führt, den Erlass als solchen nicht verfassungswidrig werden ( BGE 124 I 193 E. 3c S. 196, mit Hinweisen).
c) Nach konstanter Rechtsprechung des Bundesgerichts ergibt sich aus Art. 4 BV , dass Steuerpflichtige in gleichen wirtschaftlichen Verhältnissen gleich zu besteuern sind. Indessen hat das Bundesgericht zugelassen, dass der steuerbare Eigenmietwert tiefer festgesetzt werden kann als der Marktmietwert. Das wird unter anderem mit der geringeren Disponibilität in der Nutzung des Eigentums begründet sowie damit, dass die Selbstnutzung anderer Vermögenswerte auch nicht besteuert wird. Zulässig ist auch das Anliegen, die Selbstvorsorge durch Eigentumsbildung fiskalisch zu fördern ( Art. 34quater Abs. 6 sowie Art. 34sexies BV ; BGE 124 I 193 E. 3a S. 194 f., mit Hinweisen). Solche Abzüge haben sich allerdings an die durch Art. 4 BV gesetzten Schranken zu halten. Mit Urteil vom 20. März 1998 hat das Bundesgericht entschieden, dass für die Bemessung des Eigenmietwertes in jedem Fall 60% des effektiven Marktwertes die untere Grenze dessen bilden, was mit Art. 4 BV noch vereinbar ist ( BGE 124 I 145 E. 4d S. 156 f., 193 E. 3b S. 195). Dabei ist jedoch zu beachten, dass eine mathematisch exakte Gleichbehandlung jedes einzelnen Steuerpflichtigen aus praktischen Gründen nie völlig erreichbar ist. Eine gewisse Schematisierung und Pauschalierung des Abgaberechts ist unausweichlich und deshalb auch zulässig. Eine generelle Regelung kann nicht allein schon deswegen verfassungswidrig sein, weil sie dazu führt, dass in bestimmten Einzelfällen jemand anders belastet wird als andere Steuerpflichtige in vergleichbaren Fällen, wäre doch sonst praktisch überhaupt kein verfassungskonformes Steuergesetz denkbar. Eine Verfassungswidrigkeit kann nur darin liegen, dass die Anwendung eines Erlasses zwangsläufig in einer erheblichen Zahl von Fällen zu einer verfassungswidrigen Ungleichbehandlung bestimmter Steuerpflichtiger führt oder systematisch bestimmte Gruppen in verfassungswidriger Weise benachteiligt ( BGE 124 I 193 E. 3e S. 197).
d) Gestützt auf diese Grundsätze hat das Bundesgericht eine zürcherische Regelung aufgehoben, welche vorsah, dass der Eigenmietwert «in der Regel» auf 60% des Marktwertes festzulegen sei. Denn damit wollte der Gesetzgeber bewusst einen Spielraum eröffnen, der mehr oder weniger weit unter die verfassungsrechtliche Untergrenze
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von 60% reichte ( BGE 124 I 145 E. 5b S. 157). Das Bundesgericht hat dabei ausgeführt, die angefochtene Bestimmung wäre als zulässig zu betrachten, wenn sie die 60% nicht als Regelwert, sondern als Mindestwert festlegte ( BGE 124 I 145 E. 5c S. 157). Es hat ferner eine Zürcher Schätzungsmethode als verfassungswidrig erklärt (von einer Aufhebung aus Gründen der Rechtssicherheit indessen abgesehen), welche zwar nicht direkt eine Prozentzahl als Schranke oder Zielgrösse festsetzte, aber in ihrer praktischen Anwendung dazu führte, dass ein beträchtlicher Teil der Einzelwerte unterhalb der verfassungsrechtlichen Untergrenze von 60% lag ( BGE 124 I 193 E. 3f S. 197 f. und E. 5 S. 201 f.). Hingegen hat das Bundesgericht eine schaffhausische Volksinitiative als zulässig erklärt, welche den Eigenmietwert auf «im Maximum 70% der Marktmiete» festsetzen wollte. Denn der damit festgesetzte Spielraum zwischen der verfassungsrechtlichen Untergrenze von 60% und der gesetzlichen Obergrenze von 70% liess eine verfassungskonforme Anwendung zu (nicht publiziertes Urteil des Bundesgerichts vom 25. März 1998 i.S. A., E. 6c und E. 7a).
e) Die angefochtene Bestimmung des thurgauischen Steuergesetzes ist im Lichte der dargestellten Grundsätze zu überprüfen.

4. a) Nach § 23 Abs. 2 StG /TG ist der Mietwert zunächst aufgrund der ortsüblichen Verhältnisse festzulegen. Von dem so festgelegten «Mietwert» wird alsdann gemäss § 23 Abs. 3 StG /TG für das am Wohnort selbstgenutzte Wohneigentum ein Abzug von 40% vorgenommen. Daraus ergibt sich ein steuerbarer Eigenmietwert von 60%. Der Wortlaut des Gesetzes entspricht somit den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Zu prüfen ist jedoch, ob seine Anwendung zwangsläufig zu verfassungswidrigen Ergebnissen führen wird.
b) Die Beschwerdeführer machen geltend, schon der nach § 23 Abs. 2 StG /TG festgesetzte «Mietwert» liege in der Praxis 10-20% unter dem Marktwert. Das wird vom Grossen Rat bestritten. Empirische Zahlen über das Verhältnis des effektiven Mietzinses bzw. des Marktzinses zum festgelegten steuerrechtlichen Mietwert liegen nicht vor. Aus dem Wortlaut des Gesetzes ergibt sich jedenfalls nicht, dass der «Mietwert» 10-20% tiefer zu schätzen sei als der Marktwert. Auf der Grundlage des bisherigen Rechts hat der Regierungsrat am 24. November 1992 eine Verordnung über die Steuerschätzung der Grundstücke erlassen, welche durch Weisungen des Departementes für Finanzen und Soziales konkretisiert wurde. Danach entspricht der Ertragswert dem kapitalisierten marktkonformen Mietwert des
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Grundstücks (§ 13 der Verordnung und Ziff. 3 der Weisungen zu § 13). Aber selbst wenn die Anwendung dieser Weisungen zur Folge hätte, dass der «Mietwert» bisher tiefer geschätzt wurde als der Marktwert, wäre dies nicht ausschlaggebend. Denn die Verfassungsmässigkeit eines Gesetzes beurteilt sich nicht danach, wie dieses durch untergesetzliche Ausführungsbestimmungen konkretisiert wird; vielmehr ergeben sich umgekehrt aus der Verfassung Anforderungen an die Ausgestaltung der das Gesetz ausführenden Bestimmungen. Das Gesetz kann ohne weiteres verfassungskonform so ausgelegt werden, dass mit dem «Mietwert» der Marktwert gemeint ist. Sollten die regierungsrätlichen Ausführungsvorschriften oder die Weisungen der Verwaltung etwas anderes festlegen, so wären sie entsprechend zu ändern.
c) Im Unterschied zum zitierten Zürcher Entscheid hat vorliegend der thurgauische Gesetzgeber nicht bewusst in Kauf genommen, dass die Eigenmietwerte auch tiefer als 60% liegen können. Der Grosse Rat führt in seiner Vernehmlassung an das Bundesgericht aus: «Gemäss dem klaren Wortlaut und dem Sinn der angefochtenen Gesetzesänderung beträgt der für selbstgenutztes Wohneigentum am Wohnsitz vorzunehmende Abzug 40% der Marktmiete, keinesfalls mehr». In der Duplik bringt er vor: «Da der Eigenmietwert zwingend und ohne Ausnahme auf 60% des Marktmietwertes festzulegen ist, kann er definitionsgemäss in keinem Fall tiefer oder höher als 60% des Marktmietwertes zu stehen kommen». Das Gesetz will somit den Eigenmietwert auf 60% der Marktmiete festlegen, keineswegs tiefer. Der Kanton ist bei dieser klaren Aussage des Grossen Rates zu behaften.
d) Mit der angefochtenen Regelung ist freilich die gesetzliche Obergrenze gleich hoch wie die verfassungsmässige Untergrenze. Dadurch wird jeglicher Spielraum verunmöglicht. Das schliesst indessen die Möglichkeit einer verfassungskonformen Anwendung nicht aus. Je geringer dieser Spielraum ist, desto strengere Anforderungen sind an die Genauigkeit der Schätzung zu stellen, damit die verfassungsmässige Untergrenze von 60% nicht unterschritten wird. Der Kanton hat sicherzustellen, dass diese Anforderungen erfüllt werden. Wie er das erreicht, haben die thurgauischen Behörden festzulegen. Es ist nicht Sache des Bundesgerichts, den kantonalen Behörden eine bestimmte Schätzungsmethode vorzuschreiben.
e) Im Unterschied zu der in BGE 124 I 193 beanstandeten Zürcher Regelung beruht die thurgauische Mietwertfestlegung nicht auf einer pauschalen Methode, sondern auf einer Bewertung von Einzelobjekten.
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Das bietet vermehrt Gewähr für eine verfassungskonforme Praxis. Dass auch diese Methode gewisse schematisierende Elemente enthält, liegt in der Natur der Sache und führt noch nicht zur Verfassungswidrigkeit der darauf gestützten Werte (vorne E. 3c).
f) Zweifel an der Verfassungsmässigkeit könnten sich daraus ergeben, dass der Marktwert im Laufe der Zeit beträchtlich schwanken kann. Das Fehlen eines Spielraumes hat zur Folge, dass die einmal festgesetzten Mietwerte schon bei relativ geringfügigen Schwankungen der Marktwerte unter die verfassungsrechtliche Untergrenze von 60% fallen können. Indessen legt das Gesetz selber nicht fest, in welchen Zeitabständen die Mietwerte festzusetzen sind. Es wird Sache der rechtsanwendenden Behörden sein, eine Regelung zu treffen, die bei Schwankungen der Marktwerte eine Anpassung der Mietwerte erlaubt und sicherstellt, dass der Abzug auch bei geänderten Verhältnissen maximal 40% des Marktwertes beträgt.
g) Gesamthaft ergibt sich, dass das angefochtene Gesetz unter Beachtung der vorstehenden Erwägungen verfassungskonform angewendet werden kann und jedenfalls nicht zwangsläufig und systemimmanent zu verfassungswidrigen Ergebnissen führt.

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