Urteilskopf
125 II 402
39. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 23. Juni 1999 i.S. A. gegen Verwaltungsgericht des Kantons Zürich (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
Regeste
Art. 4 BV
, Art. 4 Ziff. 1 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK, Art. 14 Abs. 7 UNO-Pakt,
Art. 16 Abs. 3 lit. a,
Art. 17 Abs. 1 lit. c,
Art. 90 SVG
; Führerausweisentzug, Verletzung des Grundsatzes «ne bis in idem»?
Wird einem vom Strafrichter Verurteilten aufgrund des gleichen Sachverhalts im Verwaltungsverfahren eine Administrativmassname auferlegt, verstösst dies nicht gegen den Grundsatz «ne bis in idem» (E. 1).
A. fuhr am 18. April 1996 auf der Autobahn von Lausanne in Richtung St. Maurice und überschritt dabei die signalisierten Höchstgeschwindigkeiten von 100 und 120 km/h um 39 beziehungsweise
BGE 125 II 402 S. 403
31 km/h. Wegen dieser Geschwindigkeitsüberschreitungen und anderer Regelwidrigkeiten büsste der Préfet du district de Vevey A. am 12. Juni 1996 in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 des Bundesgesetzes über den Strassenverkehr (SVG; SR 741.01) mit Fr. 800.--. Der Strafbefehl erwuchs in Rechtskraft.
Die Direktion für Soziales und Sicherheit des Kantons Zürich entzog A. am 13. August 1997 den Führerausweis wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in Anwendung von
Art. 16 Abs. 3 lit. a und
Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG
für die Dauer von sechs Monaten. Einen Rekurs des Betroffenen wies der Regierungsrat des Kantons Zürich am 4. März 1998 ab. Eine Beschwerde gegen diesen Entscheid wies das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich am 29. Januar 1999 ab.
A. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und von einer Administrativmassnahme sei abzusehen; eventuell sei ein zweimonatiger Entzug anzuordnen.
Das Bundesgericht weist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ab
aus folgenden Erwägungen:
1.
a) Der Beschwerdeführer verweist auf
BGE 121 II 22
, wonach der Entzug des Führerausweises zu Warnzwecken ein Entscheid über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage im Sinne von
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
ist. Somit sei es nach dem rechtskräftigen Abschluss eines Strafverfahrens einerseits unzulässig, den Täter für dieselbe Tat eines anderen (schwereren) Delikts zu bezichtigen. Dies ergebe sich auch aus der Unschuldsvermutung (
Art. 6 EMRK
). Anderseits ergebe sich nach dem Grundsatz «ne bis in idem» gemäss Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK, dass nach einem rechtskräftigen Abschluss eines Strafverfahrens jegliche weitere Bestrafung bzw. die erneute Durchführung eines Verfahrens mit Strafcharakter verboten sei. Solange die Schweiz die Kompetenz zur Anordnung von Führerausweisentzügen nicht derselben (richterlichen) Behörde übertragen habe, die zur Ausfällung einer Busse oder Freiheitsstrafe zuständig sei, erweise sich die parallele bzw. nachträgliche Anordnung eines Führerausweisentzugs als staatsvertragswidrig.
Diese Beurteilung ergebe sich «aus den Entscheiden des EGMR in Sachen Schmautzer, Umlauft und Gradinger/A (A/328-A, A/328-B, A/328-C = NL 95/5/10) und Pramstaller, Palaoro und Pfarrmeier/A
BGE 125 II 402 S. 404
(A/329-A, A/329-B, A/329-C = NL 95/5/10) gegen Österreich sowie aus dem einstimmigen Beschluss der Europäischen Kommission für Menschenrechte vom 9. April 1997, Nr. 822541/93 Marte und Achberger gegen Österreich, welch letzterer in der Zwischenzeit zur Vermeidung eines negativen Präjudizes durch den EGMR von Österreich durch Vergleich erledigt worden» sei. Diesen Entscheiden lasse sich entnehmen, dass nach der Auffassung der Strassburger Organe die Beurteilung ein und desselben äusseren Sachverhalts durch Straf- und Verwaltungsbehörden gegen den Grundsatz «ne bis in idem» verstiesse.
b) Der Grundsatz «ne bis in idem» gilt zunächst als materielles eidgenössisches Strafrecht und besagt, dass niemand wegen der gleichen Tat zweimal verfolgt werden darf (
BGE 120 IV 10
E. 2b;
BGE 116 IV 262
E. 3a). Er leitet sich sodann aus
Art. 4 BV
her und besagt entsprechend, dass eine nach kantonalem Recht vorgenommene rechtskräftige Beurteilung in einem Kanton einer erneuten Beurteilung in einem andern Kanton entgegensteht (
BGE 116 IV 262
E. 3a). Schliesslich folgt er auch aus Art. 4 Ziff. 1 des Protokolls Nr. 7 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (SR 0.101.07) sowie Art. 14 Abs. 7 des UNO-Paktes (SR 0.103.2) und verbietet, den rechtskräftig Verurteilten oder Freigesprochenen in einem Strafverfahren desselben Staats erneut vor Gericht zu stellen oder zu bestrafen (
BGE 123 II 464
E. 2b).
Die Anwendung des Grundsatzes «ne bis in idem» setzt unter anderem voraus, dass dem Richter im ersten Verfahren die Möglichkeit zugestanden haben muss, den Sachverhalt unter allen tatbestandsmässigen Punkten zu würdigen (
BGE 119 Ib 311
E. 3c mit Hinweisen). Diese Voraussetzung trifft hier aufgrund der beschränkten Beurteilungskompetenz der verschiedenen Behörden nicht zu. Der Strafrichter, der die Busse ausgesprochen hat, ist sachlich nicht zuständig, einen Führerausweisentzug anzuordnen, und die Administrativbehörden sind nicht befugt, die Strafbestimmungen des SVG (Art. 90 ff.) anzuwenden. Insoweit ist die Beurteilungskompetenz der zuerst entscheidenden Behörde immer beschränkt. Nur beide Behörden zusammen können den Sachverhalt in seiner Gesamtheit unter allen rechtlichen Gesichtspunkten beurteilen.
Zu den in der Beschwerdeschrift angeführten Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Sachen Gradinger vom 23. Oktober 1995 (Série A, 328-C [siehe dazu Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Das «Gradinger-Urteil» des EGMR, ecolex 1996, S. 50 ff.]), Oliveira vom 30. Juli 1998 (84/1997/868/1080
BGE 125 II 402 S. 405
[siehe dazu MARTIN SCHUBARTH, Schweizerisches Bundesgericht oder Oberlandesgericht Schweiz? in: Festschrift für ROGER ZÄCH, Zürich 1999, S. 821 ff., insbesondere 827 ff.]) und der Europäischen Kommission für Menschenrechte in Sachen Marte und Achberger vom 9. April 1997 (Recueil, Nr. 66, 1998, S. 493 ff., insbesondere S. 499 ff.) braucht vorliegend nicht Stellung genommen zu werden. Diese Urteile befassen sich mit der Frage, ob mit dem Begriff der strafbaren Handlung in Art. 4 Ziff. 1 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK der zu beurteilende Lebenssachverhalt als Ganzes oder bloss ein bestimmter Tatbestand gemeint ist. Nach einer Verurteilung durch den Strafrichter aufgrund des SVG (und eventuell zusätzlich des StGB) geht es bei der (in der Regel nachträglichen) Anordnung einer strassenverkehrsrechtlichen Administrativmassnahme durch die Verwaltungsbehörde «nur» noch um die Bestimmung der Rechtsfolge(n), wobei die Verwaltungsbehörde je nach Umständen in tatsächlicher und/oder rechtlicher Hinsicht an das Strafurteil gebunden ist (
BGE 119 Ib 158
E. 3). Insoweit sind die zitierten Fälle, wo in den beiden Verfahren die gleichen Sanktionen ausgesprochen wurden (Geldbussen [Oliveira] und subsidiär Freiheitsstrafen [Gradinger sowie Marte und Achberger]), nicht mit den hier zu beurteilenden Fällen vergleichbar. Folglich kann der Beschwerdeführer auch aus den neueren Entscheiden der Strassburger Organe nichts zu seinen Gunsten ableiten. Sein Hinweis auf die Entscheide des EGMR in Sachen Schmautzer und Umlauft vom 23. Oktober 1995 (Série A, 328 A und B) sowie in Sachen Pramstaller, Palaoro und Pfarrmeier vom 23. Oktober 1995 (Série A, 329 A, B und C) ist im Zusammenhang mit dem Grundsatz «ne bis in idem» bedeutungslos, weil diese Fälle lediglich den
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
betreffen.
2.
Der Beschwerdeführer rügt, nachdem der Strafrichter die Geschwindigkeitsüberschreitung rechtskräftig und damit endgültig als einfache Verkehrsregelverletzung (
Art. 90 Ziff. 1 SVG
) beurteilt habe, stelle es einen Verstoss gegen den Grundsatz «ne bis in idem» dar, wenn die Verwaltungsbehörde denselben Sachverhalt als schwere Verkehrsgefährdung (
Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG
) einstufe.
Nach der Rechtsprechung ist die Verwaltungsbehörde in Bezug auf die Rechtsanwendung an die rechtliche Qualifikation des Sachverhalts durch das Strafurteil gebunden, wenn die rechtliche Würdigung sehr stark von der Würdigung von Tatsachen abhängt, die der Strafrichter besser kennt als die Verwaltungsbehörde (
BGE 119 Ib 158
E. 3c/bb). Das trifft im Fall des Beschwerdeführers offensichtlich nicht zu. Das Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit
BGE 125 II 402 S. 406
von 100 um 39 km/h durch den Beschwerdeführer hat die Vorinstanz zu Recht als schwere Verkehrsgefährdung gemäss
Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG
angesehen (
BGE 123 II 106
E. 2c, insbesondere S. 112/113). Da beim Beschwerdeführer auch die Voraussetzungen des
Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG
erfüllt sind, ist die Anordnung eines sechsmonatigen Führerausweisentzugs von Bundesrechts wegen nicht zu beanstanden.