Urteilskopf
125 IV 74
11. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 2. März 1999 i.S. Generalprokuratur des Kantons Bern gegen E.D. (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste
Art. 70 und 251 Ziff. 2 StGB
; Bestimmung der Verjährungsfrist beim leichten Fall.
Für die Berechnung der Verfolgungsverjährung ist von der Strafdrohung des Grundtatbestands auszugehen (E. 2; Bestätigung der Rechtsprechung).
A.-
B.D. erhob am 23. Juni 1997 Strafanzeige gegen seine geschiedene Gattin E.D. mit der Begründung, sie habe am 1. Juli 1991 einen Darlehensvertrag über Fr. 50'000.-- mit seinem Namen unterschrieben.
Nach dem Beweisergebnis ist davon auszugehen, dass E.D. am 9. Juli 1991 einen Kreditvertrag vom 1. Juli 1991 und als Folge davon zwei Zahlungsaufträge mit ihrem Namen und dem Namen ihres damaligen Gatten unterzeichnete, wobei dieser Kenntnis von der Darlehensaufnahme gehabt und ihr grundsätzlich zugestimmt hatte, als sie seine Unterschrift auf die Papiere setzte.
B.-
Der Gerichtspräsident 8 des Gerichtskreises II Biel-Nidau gab dem Verfahren wegen Urkundenfälschung am 29. Juni 1998 infolge Eintritts der Verfolgungsverjährung keine weitere Folge.
Das Obergericht des Kantons Bern gab im Appellationsverfahren am 30. Oktober 1998 dem Verfahren ebenfalls infolge Eintritts der Verfolgungsverjährung keine weitere Folge (
Art. 251 Ziff. 2 und
Art. 70 Abs. 3 StGB
).
C.-
Die Generalprokuratur des Kantons Bern erhebt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung (Schuldigerklärung von E.D. wegen besonders leichten Falls einer mehrfachen Urkundenfälschung und Sanktion) an die kantonale Behörde zurückzuweisen.
BGE 125 IV 74 S. 75
D.-
In seinen Gegenbemerkungen bemerkt das Obergericht unter Hinweis auf die Autoren Schultz, Trechsel und Rehberg sowie
BGE 102 IV 206
und
BGE 108 IV 41
im Sinne seiner Urteilserwägungen, dass es für die Frage der Verfolgungsverjährung entscheidend sei, ob ein schwerer oder leichter Fall vorliege.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
a) Die Vorinstanz nimmt an, die Beschwerdegegnerin habe durch ihre Vorgehensweise den Grundtatbestand der Urkundenfälschung gemäss
Art. 251 Ziff. 1 StGB
in objektiver und subjektiver Hinsicht erfüllt. Sie nimmt zudem einen «besonders leichten Fall» im Sinne von
Art. 251 Ziff. 2 StGB
an. Es liege bloss eine geringe Abweichung der Fälschung von der wahren Sachlage vor; der durch die Fälschung erzielte unrechtmässige Vorteil sei marginal, und hinsichtlich der Motivlage sei festzuhalten, dass die Beschwerdegegnerin offenbar so gehandelt habe, wie sie es gewohnt gewesen sei.
Die Vorinstanz geht (mit der Erstinstanz) in Anwendung von Art. 251 Ziff. 2 in Verbindung mit
Art. 70 Abs. 3 StGB
von einer fünfjährigen Verjährungsfrist aus. Bei Erhebung der Strafanzeige am 23. Juni 1997 seien seit dem Zeitpunkt der vorgeworfenen Tat (Juli 1991) rund 6 Jahre verstrichen gewesen. Deshalb sei das Delikt im Zeitpunkt der Strafanzeige verjährt gewesen.
In ihrer Begründung nimmt sie an, das Bundesgericht habe in
BGE 108 IV 41
seine frühere Praxis einer rein abstrakten Betrachtungsweise (
BGE 102 IV 206
) offensichtlich modifiziert, ohne allerdings ausdrücklich von einer Praxisänderung zu sprechen. Nach
BGE 108 IV 41
seien Schärfungs- und Milderungsgründe des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs bei der Feststellung des angedrohten gesetzlichen Höchstmasses der Strafe generell zu berücksichtigen. Auch wenn der Richter dabei - wie sich das Bundesgericht ausgedrückt habe - «in objektiver Weise unter Vernachlässigung aller den konkreten Fall berührender subjektiver Elemente» (
BGE 108 IV 41
E. 2f) vorgehen müsse, könne dies nicht eine Beschränkung auf ausschliesslich objektive Tatbestandselemente bedeuten. Denn dies stünde im klaren Widerspruch zur feststehenden Praxis, den unbestimmten Rechtsbegriff des (besonders) leichten Falls jeweils unter Berücksichtigung der gesamten Umstände - also nicht bloss der objektiven - zu beurteilen. Wohl nicht ohne Grund fehle denn auch im Leitsatz von
BGE 108 IV 41
jeder Vorbehalt bzw. jegliche Einschränkung. So wenig der Entscheid über das Vorliegen eines
BGE 125 IV 74 S. 76
besonders leichten Falls mit jenem hinsichtlich des konkreten Verschuldens des Täters im Sinne von
Art. 63 StGB
gleichgesetzt werden könne, so wenig lasse sich die Frage nach dem leichten Fall einzig und allein nach rein objektiven Kriterien bestimmen.
b) Die Beschwerdeführerin richtet sich nicht gegen die Annahme eines besonders leichten Falls, wendet aber ein,
BGE 108 IV 41
bringe unmissverständlich zum Ausdruck, dass die Änderung der Deliktskategorie gegenüber dem Grundtatbestand nur bei denjenigen Strafbestimmungen zum Zug komme, in denen sich der schwere oder leichte Fall ausschliesslich nach objektiven Kriterien bestimme. Das folge einerseits aus Ziff. 2 der Regesten, die jene vermeintlich fehlende Einschränkung enthielten, und andererseits aus der Begründung, welche klarstelle, dass die «mittlere» Lösung gelten solle, welche es zwar zulasse, die Schärfungs- und Milderungsgründe des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs bei Feststellung des angedrohten gesetzlichen Höchstmasses der Strafe zu berücksichtigen. Dies gelte aber nur unter der Voraussetzung, dass die Frage, ob ein schwerer (oder leichter) Fall im Sinne eines bestimmten Straftatbestands vorliege, aus dieser besonderen Norm und ihrem Kontext heraus objektiv zu beantworten sei, d.h. unter Ausschluss der persönlichen Verhältnisse, Eigenschaften und Umstände, welche die Strafbarkeit des konkreten Täters berühren. Das Bundesgericht habe mit guten Gründen keine derartige Praxisänderung vorgenommen. Elisabeth Trachsel (Die Verjährung gemäss den Art. 70-75bis des Schweizerischen Strafgesetzbuches, Diss. Zürich 1990, S. 63) weise zu Recht darauf hin, nur mit einer Auslegung im Sinne von
BGE 108 IV 41
lasse sich vermeiden, dass der abstrakten Betrachtungsweise für die Deliktseinteilung und die Bestimmung der Verjährungsfristen der Boden entzogen werde.
BGE 108 IV 41
betreffe indessen
Art. 273 StGB
, eine Bestimmung, die bei schweren Fällen ausschliesslich Zuchthaus androhe; dagegen könne in besonders leichten Fällen der Urkundenfälschung gemäss
Art. 251 Ziff. 2 StGB
bzw. Art. 251 Ziff. 3 aStGB auf Gefängnis oder Busse erkannt werden. Damit unterschieden sich diese Bestimmungen in einem wesentlichen Punkt. Wie es sich bei einer Kann-Bestimmung in Bezug auf die Deliktseinteilung und die Bestimmung der Verjährungsfrist verhalte, habe das Bundesgericht für den leichten Fall der Widerhandlung gegen das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlasung der Ausländer (ANAG; SR 142.20) auch in diesem Sinne entschieden (nämlich in einem nicht veröffentlichten Entscheid des Kassationshofs vom 24. Mai 1993 in Sachen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen gegen S., E. 2d.
BGE 125 IV 74 S. 77
2.
Urkundenfälschung wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis bestraft (
Art. 251 Ziff. 1 StGB
). In besonders leichten Fällen kann auf Gefängnis oder Busse erkannt werden (Ziff. 2).
Die Beschwerdeführerin weist zu Recht auf den der Konstellation von
BGE 108 IV 41
vergleichbaren Fall in der Entscheidung des Bundesgerichts vom 24. Mai 1993 betreffend
Art. 23 Abs. 1 ANAG
hin. Diese Taten werden «mit Gefängnis bis zu sechs Monaten bestraft. Mit dieser Strafe kann Busse bis zu 10'000 Franken verbunden werden; in leichten Fällen kann auch nur auf Busse erkannt werden». Das Bundesgericht führte in E. 2d dieses Entscheids aus:
«Die Frage, ob der leichte Fall der Widerhandlung gegen das ANAG im Sinne von dessen Art. 23 Abs. 1 gleich dem Grundtatbestand ein Vergehen oder aber bloss eine Übertretung sei, würde sich nur dann stellen, wenn Art. 23 Abs. 1 a.E. ANAG vorschriebe, dass in leichten Fällen auf Busse zu erkennen ist. Art. 23 Abs. 1 a.E. ANAG bestimmt aber: «In leichten Fällen kann auch nur auf Busse erkannt werden». Das Gesetz stellt es damit in das Ermessen des Richters, ob er in leichten Fällen eine Gefängnisstrafe bis zu 6 Monaten (allenfalls verbunden mit einer Busse) oder aber nur eine Busse ausspricht (ebenso VALENTIN ROSCHACHER, Die Strafbestimmungen des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer, Diss. Zürich 1991, S. 70). Dass dem Richter dieses Ermessen zusteht, ergibt sich zweifelsfrei aus dem Begriff «kann», aber auch aus der Wendung «auch nur» in der zitierten Bestimmung. Art. 23 Abs. 1 a.E. ANAG erweitert mithin lediglich den Strafrahmen, der für den Grundtatbestand vorgesehen ist, nach unten, indem in leichten Fällen statt auf Gefängnis bis zu 6 Monaten auch nur auf Busse erkannt werden kann. Der im angefochtenen Entscheid nicht näher begründeten Meinung der Vorinstanz, Art. 23 Abs. 1 a.E. ANAG drohe für die leichten Fälle ausschliesslich bloss Busse an, kann angesichts des klaren Wortlauts dieser Bestimmung nicht gefolgt werden. [...] Die Zubilligung eines solchen Auswahlermessens ist nicht zuletzt gerade auch deshalb sinnvoll, weil die Abgrenzung zwischen dem leichten und dem nicht mehr leichten Fall schwierig sein kann und der Grenzbereich recht weit ist. Gerade dann, wenn sich der leichte Fall ausschliesslich nach objektiven Kriterien bestimmen sollte, kann auch bei dessen Annahme die Ausfällung einer Gefängnisstrafe anstelle einer Busse die angemessene Sanktion sein, beispielsweise wenn der Täter einschlägig vorbestraft ist.
BGE 125 IV 74 S. 78
Es ergibt sich somit zusammenfassend, dass
Art. 23 Abs. 1 ANAG
für den leichten Fall der Widerhandlung entgegen der Meinung der Vorinstanz nicht bloss Busse, sondern auch Gefängnis bis zu 6 Monaten androht. Auch der leichte Fall der Widerhandlung ist daher, da die angedrohte Höchststrafe massgebend ist, ein Vergehen (ebenso VALENTIN ROSCHACHER, a.a.O., S. 70), und zwar unabhängig davon, ob sich der leichte Fall ausschliesslich nach objektiven oder auch nach in der Person des Täters liegenden subjektiven Kriterien bestimmt. Die Verfolgungsverjährung beträgt demnach gemäss Art. 70 und 72 Ziff. 2 Abs. 2 StGB, die mangels diesbezüglicher Spezialbestimmungen im ANAG anwendbar sind (
Art. 333 Abs. 1 StGB
), relativ 5 und absolut 7 1/2 Jahre.»
An der in diesen Erwägungen dargelegten Rechtsprechung ist festzuhalten. Eine Urkundenfälschung wird durch die Qualifikation der Tat als besonders leichter Fall nicht zu einem Vergehen herabgestuft.
Art. 251 Ziff. 2 StGB
konkretisiert denn auch in keiner Weise, wann in besonders leichten Fällen auf Gefängnis und wann auf Busse zu erkennen ist. Deshalb ist für die Berechnung der Verfolgungsverjährung von der Strafdrohung des Grundtatbestands auszugehen. Die relative Verjährung beträgt daher 10 Jahre (
Art. 70 Abs. 2 StGB
). Die angefochtene Entscheidung verletzt somit Bundesrecht.
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen.