Urteilskopf
126 IV 124
20. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofs vom 5. Juni 2000 i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste
Art. 190 StGB
; Vergewaltigung in der Ehe; psychisches Unterdrucksetzen.
Als Nötigungsmittel kommen fortlaufendes Drangsalieren und anhaltender Psychoterror in Betracht (E. 3b).
Der Tatbestand kann erfüllt sein, wenn sich das Opfer in einer ausweglosen Situation befindet, in der es ausser Stande ist, sich zu widersetzen (E. 3c).
Der Tatbestand der Vergewaltigung, begangen gegenüber der Ehefrau, beurteilt sich nach den gleichen Kriterien wie eine Vergewaltigung gegenüber einer anderen Frau (E. 3d).
A.-
A. hatte 1993 in St. Gallen B. kennen gelernt. Er musste Ende 1995 die Schweiz verlassen. Sie heirateten im April 1996 in Ghana. Im August 1996 konnte er wieder in die Schweiz einreisen. Nach der Rückkehr wurde die anfänglich schöne Beziehung allmählich bedrückend und bedrohlich und steigerte sich in einem steten Wechsel von Verweigerung und Druckausübung in ein Erdulden des Beischlafs. Sie gab nach, wenn sie die Situation nicht mehr aushielt.
Sie trennte sich am 28. März 1998 von ihm und erhob am 20. Juli 1998 Strafklage wegen Drohung, Tätlichkeit und sexueller Nötigung.
B.-
Das Kantonsgericht St. Gallen sprach am 2. Dezember 1999 (im Berufungsverfahren gegen ein Urteil des Bezirksgerichts St. Gallen vom 8. Dezember 1998) A. frei von den Anklagen der mehrfachen Nötigung und der mehrfachen Drohung (vor dem 20. Juli 1998). Es erklärte ihn schuldig der mehrfachen Vergewaltigung, der Drohung und der Tätlichkeit. Es verurteilte ihn zu 18 Monaten Zuchthaus und 5 Jahren Landesverweisung, jeweils mit Aufschub des Vollzugs bei einer Probezeit von zwei Jahren. Es verpflichtete ihn, B. Fr. 3'000.- Schadenersatz und Fr. 10'000.- Genugtuung zu zahlen.
C.-
A. erhebt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Kantonsgerichts (mit Ausnahme der Freisprüche) aufzuheben und die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht weist die Nichtigkeitsbeschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
Aus den Erwägungen:
1.
a) Die Vorinstanz führt aus, nach der Rückkehr des Beschwerdeführers (Jahrgang 1967) in die Schweiz im August 1996 sei die anfänglich schöne Beziehung zu seiner Gattin (Jahrgang 1978) allmählich beengend, bedrückend und bedrohlich geworden und in einem steten Wechsel von Verweigerung des ehelichen Beischlafs, gesteigerter Druckausübung und schliesslichem Erdulden des Beischlafs eskaliert. "Es" habe sich zunächst "mehr in Traurigkeit abgespielt", "dann war es nur noch Streit und Wut". Sie habe nachvollziehbar dargelegt, wie sie keine Lust mehr gehabt habe, wie er zunächst gebeten und gebettelt und dann auf seine Rechte gepocht habe; wie er tagelang nicht mit ihr gesprochen, sie beleidigt und herabgemindert habe; wie er Türen zugeknallt, Gläser und Kerzenständer zerschlagen, ihr lieb gewordene Gegenstände zertrampelt, Filme aus dem Fotoapparat gerissen, ihre Kleider zerschnitten oder zerrissen sowie Fernseher und Video auf den Boden geworfen habe, bis sie psychisch erschöpft und völlig eingeschüchtert nachgegeben habe. Es habe aber auch Tage gegeben, wo sie nicht nachgegeben habe. Sie sei aber stets bei der Aussage geblieben, dass sie nicht mit körperlicher Gewalt gezwungen worden sei, sondern sie habe sich wegen des Drucks, den sein gesamtes Verhalten bei ihr erzeugt habe, "einfach hingelegt", so dass er sich habe "holen" können, was er dringend gewollt habe. Es sei wöchentlich zu derartigem Geschlechtsverkehr gekommen.
Aus ihren Aussagen gehe aber nicht nur hervor, unter welchem gewaltigen Druck sie gestanden habe, sondern auch, wie wohlwollend sie ihm gegenüber immer noch eingestellt sei. Es sei nachvollziehbar, warum sie ihn nicht früher verlassen habe. Die kaum Achtzehnjährige sei ihm anfänglich sehr hörig gewesen und habe sich in einer zweiten Phase zu einer Trennung oder Scheidung ausser Stande gefühlt, weil sie vermutet habe, er würde dann ausgewiesen. Sie habe zudem ihre Ehe retten wollen. Es hätten sich ihr auch kaum Alternativen geboten. Angesichts vielschichtiger psychischer und sozialer Abhängigkeiten erscheine es nachvollziehbar, dass sie in dieser bedrückenden, zermürbenden, angstbesetzten und gewaltträchtigen Beziehung solange ausgeharrt und nicht früher Anzeige erstattet habe.
Das stets wiederholte Drängen und Fordern, die zermürbenden Streitereien und das tagelange Schweigen, das Wüten und Demolieren, die subtilen psychischen Verletzungen, das gezielte Zerstören
BGE 126 IV 124 S. 127
von Gegenständen mit Erinnerungs- oder anderweitigem Affektionswert, die Drohungen sowie das provozierende Sich-Betrinken stellten Handlungen dar, die vielleicht einzeln für sich jeweils auszuhalten seien, jedoch, wenn sie in dieser Häufung eingesetzt und überdies stetig gesteigert würden, längerfristig das Opfer in eine unerträgliche Lage versetzten. Zeitlich und qualitativ überschritten diese Verhaltensweisen das Mass bei weitem. Die für die Erfüllung des Tatbestands erforderliche Intensität des Zwangs sei damit erfüllt.
Die Vielfalt der Druckmittel und das wiederkehrende, an Psychoterror grenzende Drangsalieren seien zudem ganz besonders geeignet, einen jungen, unsicheren und gerade in Liebesbeziehungen verletzlichen Menschen ohne tragendes soziales Auffangnetz zu ängstigen und zu zermürben und damit unerträglichem Druck auszusetzen. Angesichts einer gewissen, sich zur Tortur steigernden psychophysischen Dauerbelastung einerseits sowie der vielschichtigen Beziehung zu ihm und in ihrer latenten Sehnsucht nach einer harmonischen und langandauernden Partnerschaft anderseits sei verständlich und nachvollziehbar, dass sie in eine Zwangssituation geraten sei, aus der sie keinen andern Ausweg mehr gefunden habe, als den ehelichen Beischlaf zu erdulden, zumal nach der jeweiligen Hingabe der Druck kurzfristig etwas nachgelassen habe. Angesichts ihrer Persönlichkeit sowie der aus ihrer sozialen Lage resultierenden Idealvorstellungen sei der Druck auch nach individuellem Massstab von hinreichender Intensität gewesen. Damit sei das Tatbestandsmerkmal des psychischen Drucks objektiv erfüllt.
b) Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von
Art. 190 StGB
. Nicht jedes Verhalten, das im Durchschnittssprachgebrauch vielleicht als "Psychoterror" bezeichnet werden könnte, sei psychisches Unterdrucksetzen. Vorausgesetzt werden müsse ein qualifizierter, systematischer, zielgerichteter, eigentlich planmässiger Aufbau dieses psychischen Drucks, unter Ausnützung einer bestimmten Autoritäts- oder Vormachtstellung, der das Opfer schlicht nicht mehr auszuweichen vermöge.
Aus den Schilderungen der Ehegattin werde jedoch spürbar, dass sie gerade nicht zum Widerstand unfähig gewesen sei. Sie habe sich durchaus zu wehren gewusst, habe auch geschlagen, laut werden können und Gegenstände herumgeworfen (was von der Vorinstanz allerdings nicht erwähnt werde). Es sei auch vorgekommen, dass sie ihn "fertig gemacht" habe. Nur krasse, sofort einsichtig werdende Fälle rechtfertigten eine Verurteilung. Im Rahmen einer noch gelebten ehelichen Beziehung müsse eine deutlich höhere Schwelle zu
BGE 126 IV 124 S. 128
überwinden sein, bis ein Gewaltdelikt im Sinne von
Art. 190 StGB
angenommen werden könne. Sie habe sich ihm auch nicht hilflos ausgeliefert gefühlt. Sie habe sich sehr wohl verbal, mit physischer Gegenwehr oder auch durch Verlassen der Wohnung über Jahre hinweg zu helfen gewusst. Gegen eine geradezu ausweglose Zwangslage spreche auch die Tatsache, dass sie bei Freundinnen und bei ihrer Tante Unterstützung und Kontakt gesucht und über die eheliche Situation gesprochen habe. Vielleicht seien die Verhältnisse zuletzt als unerträglich zu bezeichnen. Entscheidend sei aber nicht, ob das Opfer in einer "unerträglichen Lage" gewesen sei, sondern ob es dem Opfer aus der Situation heraus nicht zuzumuten gewesen wäre, sich dem Drängen doch etwas energischer zu widersetzen. Die Vorinstanz habe diese Frage des zumutbaren Widerstands überhaupt nicht geprüft.
3.
Wer eine Person weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs nötigt, namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft (
Art. 190 Abs. 1 StGB
).
a) Die Tatbestandsvariante des psychischen Unterdrucksetzens verlangt nicht eine Widerstandsunfähigkeit. Immer ist aber eine erhebliche Einwirkung erforderlich, wobei sich die Bestimmung der erforderlichen Intensität als heikel erweisen kann (
BGE 122 IV 97
E. 2b S. 101). Das Bundesgericht berücksichtigte im Falle eines kindlichen, leicht debilen Opfers, das vom 10. bis zum 15. Altersjahr von einem in Lebensgemeinschaft mit der Mutter des Opfers lebenden Täters sexuell missbraucht worden war, im Wesentlichen auf der einen Seite die Persönlichkeit des Opfers, sein Alter, seine ablehnende Haltung und seine prekäre familiäre Stellung sowie auf der anderen Seite die Autoritätsposition, den Charakter und das Schweigegebot des Täters (
BGE 124 IV 154
E. 3b betr.
BGE 122 IV 97
). Im vergleichbaren Falle eines zehnjährigen Mädchens war entscheidend, dass der Täter seine generelle Überlegenheit als Erwachsener, seine vaterähnliche Autorität, die freundschaftlichen Gefühle sowie die Zuneigung des Kindes ausgenützt und es damit in einen lähmenden Gewissenskonflikt getrieben hatte, der es ausser Stand gesetzt hatte, sich zu widersetzen (
BGE 124 IV 154
E. 3c). Das Bundesgericht hatte ein psychisches Unterdrucksetzen von Erwachsenen bisher nicht zu beurteilen, jedoch darauf hingewiesen, dass Erwachsenen mit entsprechenden individuellen Fähigkeiten eine stärkere Gegenwehr zuzumuten ist als Kindern (
BGE 122 IV 97
E. 2b S. 101).
b) Die sexuellen Nötigungstatbestände verbieten den Angriff auf die sexuelle Freiheit und Ehre. Sie gelten als Gewaltdelikte und sind damit prinzipiell als Akte physischer Aggression zu verstehen. Dabei stellt aber die Tatbestandsvariante des psychischen Unterdrucksetzens klar, dass sich die tatbestandsmässige Auswegslosigkeit der Situation auch ergeben kann, ohne dass der Täter eigentliche Gewalt anwendet, dass dem Opfer vielmehr eine Widersetzung unter solchen Umständen nicht zuzumuten ist. Auch eine kognitive Unterlegenheit oder emotionale wie soziale Abhängigkeit können einen ausserordentlichen psychischen Druck erzeugen. Ob die tatsächlichen Verhältnisse die tatbeständlichen Anforderungen eines Nötigungsmittels erfüllen, lässt sich erst auf Grund einer umfassenden Würdigung der relevanten konkreten Umstände entscheiden. Es ist mithin eine individualisierende Beurteilung notwendig, die sich auf hinlänglich typisierbare Merkmale stützen muss (
BGE 124 IV 154
E. 3b). Dabei können als Nötigungsmittel eine fortlaufende Drangsalierung und ein anhaltender Psychoterror in einer ehelichen Beziehung in Betracht kommen (vgl. JENNY, Kommentar zum schweizerischen Strafrecht, 4. Band, Bern 1997, Art. 189 N. 25; STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 5. Auflage, Bern 1995, § 8 N. 9; TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, 2. Auflage, Zürich 1997, Art. 189 N. 6). Das Ausmass der Beeinflussung, das für den psychischen Druck erforderlich ist, bleibt unbestimmbar (REHBERG/SCHMID, Strafrecht III, 7. Auflage, Zürich 1997, S. 393), weshalb diese Bestimmung vorsichtig auszulegen ist (vgl. TRECHSEL, a.a.O.; kritisch auch PETER HANGARTNER, Selbstbestimmung im Sexualbereich -
Art. 188-193 StGB
, Diss. St. Gallen 1997, S. 144 f.; ferner PHILIPP MAIER, Das Tatbestandsmerkmal des Unterpsychischen-Druck-Setzens im Schweizerischen Strafgesetzbuch, ZStrR 117/1999 S. 402, 417 f.).
c) Die Vorinstanz schildert anschaulich die durch den Beschwerdeführer geschaffene Situation als ein stetes Wechselspiel von noch verweigertem und dann erduldetem Beischlaf. Der Gattin sei eine (weitergehende) Widersetzung nicht zumutbar gewesen. Die vielfältigen Druckmittel und das wiederkehrende, an Psychoterror grenzende Drangsalieren sei besonders geeignet gewesen, die achtzehnjährige, unsichere, anfangs hörige und in Liebesbeziehungen verletzliche Frau ohne tragendes soziales Netz zu ängstigen und zu zermürben. Die Vorinstanz qualifiziert die geschilderte Situation zu Recht als psychisches Unterdrucksetzen.
Die Vorinstanz hat sich dabei entgegen den Ausführungen in der Beschwerdeschrift mit der Frage des "zumutbaren Widerstands" auseinander gesetzt (vgl. oben E. 1a). Sie weist ausführlich auf die Vielfalt der Druckmittel hin. Sie schildert die psychophysische Dauerbelastung einerseits und die anfängliche Hörigkeit sowie die Sehnsucht nach einer Partnerschaft anderseits, wodurch die Gattin in die Zwangssituation geriet, aus der sie keinen andern Ausweg mehr gefunden habe, als den Beischlaf zu erdulden. Diese befürchtete zudem bei einer Trennung oder Scheidung die Ausweisung des Beschwerdeführers. Schliesslich boten sich ihr "auch zu ihrer Ehe kaum Alternativen". Die Vorinstanz stellt ausserdem fest, der Beschwerdeführer habe gewusst, dass die Beischlafshandlungen gegen ihren Willen erfolgten, seien doch ihr entgegenstehender Wille und ihre sexuelle Verweigerung, was er nicht immer akzeptiert habe, Anlass zu den ständigen Streitereien gewesen und hätten sich die zermürbenden Diskussionen stets um dieses eine Thema gedreht. Es steht damit fest, dass eine unerträgliche Lage bestand, was der Beschwerdeführer letztlich einräumt, und dass sich seine Gattin dem Drängen (hinreichend) energisch widersetzte, was der Beschwerdeführer zu Unrecht verneint. Die sexuelle Verweigerung ist klar als Widersetzung zu qualifizieren.
Vom Opfer wird nämlich nicht ein "Widerstand" verlangt, der über eine mögliche und zumutbare Abwehr hinausgehen würde. Erforderlich ist eine ausweglose Situation, so dass dem Opfer eine Widersetzung unter solchen Umständen nicht zuzumuten ist, dass es ausser Stande gesetzt wird, sich zu widersetzen (
BGE 124 IV 154
E. 3b bzw. E. 3c). Sein Nachgeben muss unter den konkreten Umständen verständlich erscheinen (
BGE 122 IV 97
E. 2b S. 101; REHBERG/SCHMID, a.a.O., S. 392 f.). Bereits im früheren Recht war Vergewaltigung anzunehmen, wenn die Frau unter dem Druck des ausgeübten Zwangs zum Voraus auf Widerstand verzichtet oder ihn nach anfänglicher Abwehr aufgegeben hat (
BGE 118 IV 52
E. 2b). Das neue Recht stellt keine strengeren Anforderungen.
d) Entgegen der in der Beschwerdeschrift vertretenen Ansicht erfasst
Art. 190 StGB
- wie andere Tatbestände - jegliches tatbestandsmässige Verhalten. Eine einschränkende Auslegung auf "Extremfälle" kommt nicht in Betracht.
Art. 190 StGB
schützt die sexuelle Freiheit von Personen weiblichen Geschlechts allgemein und in gleicher Weise; für die Annahme einer Vergewaltigung in der Ehe kann nicht die Überwindung einer "höheren Schwelle" verlangt werden.