BGE 126 IV 225 vom 27. September 2000

Datum: 27. September 2000

Artikelreferenzen:  Art. 196 StGB , Art. 196 Abs. 1 StGB, Art. 196 N 1

BGE referenzen:  96 IV 118, 116 IV 319, 126 IV 76, 128 IV 117, 129 IV 81 , 96 IV 118, 116 IV 319, 126 IV 76

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

126 IV 225


36. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 27. September 2000 i.S. M. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau (Nichtigkeitsbeschwerde)

Regeste

Art. 196 StGB ; Menschenhandel, Vermittlung von Prostituierten.
Eine Verurteilung wegen Menschenhandels setzt voraus, dass die betroffene Person in ihrem sexuellen Selbstbestimmungsrecht verletzt worden ist (E. 1c).
Ob die Vermittlung von Prostituierten von einem Etablissement zum andern deren Selbstbestimmungsrecht verletzt, muss an Hand der konkreten Umstände beurteilt werden (E. 1d).

Sachverhalt ab Seite 225

BGE 126 IV 225 S. 225
M. war zwischen November 1996 und Mai 1997 mehrfach bei der Vermittlung von Frauen an verschiedene Bordelle behilflich. Teilweise war er nur für den Transport der Frauen verantwortlich, teilweise vermittelte er die Frauen in eigener Regie an einzelne Etablissements und forderte dafür einen Teil des täglichen Dirnenlohns. In zwei Fällen erhielt er für seine Dienste nachweislich Entschädigungen von Fr. 100.- und Fr. 300.-. Die vermittelten Frauen besassen keine Aufenthaltsbewilligung.
Das Obergericht des Kantons Thurgau verurteilte M. am 8. Juli 1999 zweitinstanzlich wegen Tätlichkeit, versuchten Raubs, Sachbeschädigung, geringfügigen Vermögensdelikts, mehrfachen Menschenhandels, Anstiftung zu falschem Zeugnis sowie mehrfacher Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz und gegen das ANAG - zum Teil unter Annahme einer leicht- bis mittelgradig verminderten Zurechnungsfähigkeit - zu einer Gefängnisstrafe von zwölf Monaten und Fr. 1'000.- Busse.
BGE 126 IV 225 S. 226
M. führt Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt sinngemäss, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Wer mit Menschen Handel treibt, um der Unzucht eines anderen Vorschub zu leisten, wird mit Zuchthaus oder mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft ( Art. 196 Abs. 1 StGB ).
a) Die Vorinstanz begründet die Verurteilung wegen Menschenhandels wie folgt: Unter den Begriff "Handel treiben" falle etwa das Beschaffen der "Ware", die Übernahme von anderen, der "Transport", die Übergabe an andere mit Einschluss aller Verhandlungen, die dabei etwa zu führen seien. Handel "treibe", wer Geschäfte dieser Art wiederholt abschliesse oder abzuschliessen beabsichtige. In der Lehre sei umstritten, ob nur ein Handeln gegen den Willen einer wahrheitsgetreu informierten Person als Angriff auf ein Rechtsgut pönalisiert werden könne. Massgeblich sei nicht der Buchstabe des Gesetzes, sondern dessen Sinn, der sich namentlich aus den ihm zu Grunde liegenden Zwecken und Wertungen ergebe, im Wortlaut jedoch unvollkommen ausgedrückt sein könne. Sinngemässe Auslegung könne auch zu Lasten des Angeklagten vom Wortlaut abweichen. Die Änderung von Art. 202 aStGB in Art. 196 StGB habe angesichts der von der Schweiz ratifizierten Konventionen auf diesem Gebiet möglichst zurückhaltend erfolgen sollen. Art. 202 aStGB habe, den Konventionstexten entsprechend, ausser dem Handeltreiben Teilakte solchen Verhaltens wie Anwerben, Verschleppen oder Entführen genannt. Mit "Anwerben" habe der frühere Gesetzestext zum Ausdruck gebracht, dass als Opfer dieser Tat nicht nur Personen zu gelten hätten, die in Bezug auf das Schicksal, das sie erwartete, ahnungslos gewesen seien. Erfasst worden sei damit auch, wer Prostituierte angeworben habe, die voll einverstanden gewesen seien, beispielsweise das Etablissement zu wechseln (BBl 1985 II 1086). Da die erwähnten Konventionen heute noch anwendbar seien und aus dem Wortlaut der neuen Bestimmung die von einem Teil der Lehre vertretene Einschränkung des Schutzbereichs der geschützten Personen nicht hervorgehe, sei davon auszugehen, dass die betroffenen Personen nicht gegen ihren Willen vermittelt zu werden brauchten oder nur in Bezug auf die für sie vorgesehene Tätigkeit als Prostituierte ahnungslos seien.
BGE 126 IV 225 S. 227
Der Beschwerdeführer habe zwischen November 1996 und Mai 1997 mehrfach Frauen an verschiedene Bordelle vermittelt. So habe er, nachdem er eine Ungarin einer Bordellbetreiberin in R. abgeliefert habe, für seine Dienste Fr. 100.- erhalten. Ferner habe er eine Ungarin an einen Salon in K. vermittelt und von deren Dirnenlohn Fr. 300.- erhalten. Im Übrigen könne offen bleiben, ob der Beschwerdeführer für seine weiteren Vermittlungs- und Transportdienste - wie er behaupte - kein Geld erhalten habe, sei doch der Tatbestand des Menschenhandels nicht von der Grössenordnung der Gegenleistung abhängig. Auch sei erstellt, dass der Beschwerdeführer sich durch die Vermittlungstätigkeit eine weitere Verdienstquelle habe erschliessen wollen.
b) In der Botschaft des Bundesrats über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches vom 26. Juni 1985 wird zum Menschenhandel ( Art. 196 StGB ) unter anderem ausgeführt, Art. 202 Ziff. 1 aStGB nenne, den Konventionstexten entsprechend, ausser dem Handeltreiben Teilakte solchen Verhaltens (vgl. BGE 96 IV 118 ff.): Anwerben, Verschleppen, Entführen. Diese Aufzählung entfalle. Was das Anwerben betreffe, bringe der geltende Gesetzestext ohnehin nicht zum Ausdruck, dass als Opfer dieser Tat Personen zu gelten hätten, die in Bezug auf das Schicksal, das sie erwarte, ahnungslos seien. Erfasst werde damit auch, wer Prostituierte anwerbe, die voll einverstanden seien, z.B. das Etablissement zu wechseln. Als überflüssig erweise sich das Anwerben schon deshalb, weil nach Art. 195 Abs. 2 des Entwurfes unter Strafe gestellt werde, wer um eines Vermögensvorteils willen eine Person der Prostitution zuführe. Unter den Tatbestand fielen auch Handlungen, die einer milderen Strafe bedürften als sie das geltende Recht vorsehe: Statt Zuchthaus schlechthin würden neu Zuchthaus oder Gefängnis nicht unter sechs Monaten angedroht (BBl 1985 II 1086).
In der Literatur wird dem überwiegend entgegengehalten, im Blick auf die Grundgedanken der Revision überzeuge die Darstellung in der Botschaft nicht, wonach es weiterhin unerheblich sein soll, ob die betroffene Person, etwa bei der Vermittlung von einem Bordell zum anderen, überhaupt vor der Prostitution habe geschützt werden wollen. Wenn Prostituierte voll einverstanden seien, z.B. das Etablissement zu wechseln, werde deren Selbstbestimmung nicht tangiert. Von Menschenhandel sollte vielmehr, wie es schon der Begriff nahe lege, nur dort gesprochen werden, wo über Menschen wie über Objekte verfügt werde, weil sie ahnungslos oder doch mangelhaft informiert oder aus irgendwelchen Gründen ausser
BGE 126 IV 225 S. 228
Stande seien, sich zu wehren (STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 5. Auflage, S. 174 f. N. 18; ebenso JENNY, Kommentar zum Schweizerischen Strafrecht, Art. 196 N. 4; TRECHSEL, Schweizerisches Strafrecht, Kurzkommentar, 2. Auflage, Art. 196 N. 1). In Anlehnung an die Botschaft sieht REHBERG (Strafrecht III, 7. Auflage, S. 413) den Tatbestand auch dann als erfüllt an, wenn die Betroffenen nicht gegen ihren Willen vermittelt worden sind.
c) Beide Räte stimmten der vom Bundesrat vorgeschlagenen Fassung von Art. 196 StGB diskussionslos zu (AB 1987 S 401 und AB 1990 N 2329). Nach der Botschaft soll der Tatbestand des Menschenhandels auch erfüllt sein, wenn der Täter Prostituierte anwirbt, die voll einverstanden sind, z.B. das Etablissement zu wechseln (BBl 1985 II 1086). Man könnte deshalb mit REHBERG (a.a.O.) annehmen, dass die Überlegungen in der Botschaft auch dem Willen des Gesetzgebers entsprechen. Die grundsätzliche Stossrichtung der Revision des Sexualstrafrechts und die fehlende Diskussion über den Art. 196 StGB lassen einen derartigen Schluss jedoch nicht zu:
Leitidee der Revision des Sexualstrafrechts vom 21. Juni 1991 (AS 1992 S. 1670 1678) war die Freiheit und die freie Selbstbestimmung jedes Menschen in sexuellen Dingen. Durch alle Parteien hindurch stimmten die Wortmeldungen im Grundsatz darin überein, dass das neue Sexualstrafrecht nicht da sei, um Moralvorstellungen durchzusetzen, sondern um sexuelle Ausnützung zu verhindern und das sexuelle Selbstbestimmungsrecht einer jeden Person zu schützen (AB 1987 S 356 ff. und AB 1990 N 2252 ff.). Angesichts dieser klaren Übereinstimmung in den eidgenössischen Räten in Bezug auf die gesamte Revision des Sexualstrafrechts kommt der in der Botschaft eher beiläufig geäusserten abweichenden Auffassung keine besondere Bedeutung zu. Dies umso weniger, als auch Bundespräsident KOLLER "die unbeeinflusste Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung" als Schutzbereich in den Vordergrund stellte und für keinen Tatbestand, auch nicht denjenigen des Menschenhandels, eine Ausnahmeregelung auch nur andeutete (AB 1990 N 2261 ff.). Folglich ist in Übereinstimmung mit der herrschenden Lehre nur dann auf Menschenhandel zu erkennen, wenn das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Person beeinträchtigt wird. Diese Lösung drängt sich auch deshalb auf, weil Art. 196 StGB eine Mindeststrafdrohung von sechs Monaten Gefängnis vorsieht, weshalb dem Delikt eine gewisse Schwere zukommen muss (vgl. BGE 116 IV 319 E. 3b mit Hinweisen).
BGE 126 IV 225 S. 229
d) In Anlehnung an STRATENWERTH kann dort von Menschenhandel gesprochen werden, wo über Menschen wie über Objekte verfügt wird, weil sie ahnungslos oder doch mangelhaft informiert oder aus irgendwelchen Gründen ausser Stande sind, sich zu wehren (a.a.O., S. 174 f. N. 18).
Diese Umschreibung bedarf im Zusammenhang mit der Vermittlung von Prostituierten von einem Etablissement in ein anderes der Erörterung. In der herrschenden Lehre wird die Meinung vertreten, die Selbstbestimmung von Prostituierten werde nicht tangiert, wenn sie voll einverstanden seien, z.B. das Etablissement zu wechseln (TRECHSEL, a.a.O., Art. 196 N 1 ). Diese Überlegung trifft zu, wenn eine Person aus freien Stücken der Prostitution nachgeht und dabei für einen Stellenwechsel gleich wie in anderen Berufszweigen Vermittlungsdienste gegen Entgelt in Anspruch nimmt. Doch gilt es zu bedenken, dass die Verhältnisse in anderen Berufen nicht ohne weiteres auf den Berufszweig der Prostitution übertragen werden können. Prostituierte sind immer wieder der Diskriminierung und Doppelmoral ausgesetzt, und entsprechend hoch ist ihr Grad an Isolation. Soziale Kontakte pflegen die Betroffenen vorwiegend zu Leuten, die sich im Umfeld der Prostitution bewegen. Schon daraus ergeben sich gerade in persönlicher und finanzieller Hinsicht vielfältige Abhängigkeiten, insbesondere von Zuhältern, Bordell- und Salonbetreibern (LISCHETTI-GREBER/SÉQUIN/STAMPFLI, Prostitution, Verein XENIA, Bern 1986, S. 53 f.; BUNDESAMT FÜR POLIZEI, Szene Schweiz, Drogen - Falschgeld - Menschenhandel - Organisierte Kriminalität, Lagebericht 1999, S. 55; vgl. auch STUDER/PETER, Kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz, arge kipro, März 1999, S. 66 und 78). Ganz besonders gilt dies für Prostituierte, die sich illegal in der Schweiz aufhalten (HEINZ HELLER, Schwarzarbeit: Das Recht der Illegalen unter besonderer Berücksichtigung der Prostitution, Diss. Zürich 1999, S. 135). Da vorwiegend Leute aus dem Milieu die Vermittlung von Prostituierten bewerkstelligen, werden dabei diese Abhängigkeitsverhältnisse (vgl. dazu auch die Hinweise auf andere Entscheide des Bundesgerichts in BGE 126 IV 76 E. 3) erneut ausgenützt. Deshalb wird in der Regel die Selbstbestimmung der Betroffenen bei der Vermittlung von einem Etablissement zum andern nicht grösser sein als bei der Ausübung der Prostitution selbst. Jedenfalls dort, wo Vermittler und Bordellbetreiber über die Köpfe der Betroffenen hinweg deren Vermittlung vornehmen oder wo die angesprochenen Abhängigkeitsverhältnisse der Betroffenen ausgenützt
BGE 126 IV 225 S. 230
werden, ist keine Selbstbestimmung der Prostituierten gegeben.
Ob die Betroffenen im Einzelfall selbstbestimmt gehandelt haben, muss an Hand der konkreten Umstände beurteilt werden. Wie dargelegt, darf dabei nicht bloss auf ihr faktisches "Einverständnis" abgestellt werden, weil die Vermittlung rein formal nicht gegen ihren Willen erfolgte. Vielmehr ist zu prüfen, ob die Willensäusserung dem tatsächlichen Willen entsprach. Jedenfalls kann auch bei angeblicher Zustimmung unter Umständen Menschenhandel vorliegen.
e) Die Vorinstanz geht davon aus, dass der Tatbestand des Menschenhandels selbst dann erfüllt sei, wenn die betroffenen Personen nicht gegen ihren Willen vermittelt worden sind. Diese Auslegung hält nach dem Gesagten vor Bundesrecht nicht stand. Deshalb ist der angefochtene Entscheid aufzuheben und zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese wird im Rahmen der Anklage oder allenfalls nach einer Anklageergänzung tatsächliche Feststellungen darüber zu treffen haben, ob und inwiefern der Beschwerdeführer durch sein Vermitteln das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Frauen beeinträchtigt hat, um dann auf der dargestellten rechtlichen Grundlage zu entscheiden, ob sich der Beschwerdeführer des Menschenhandels schuldig gemacht hat oder ob er von diesem Vorwurf freizusprechen ist.

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