BGE 126 V 241 vom 28. Juni 2000

Datum: 28. Juni 2000

Artikelreferenzen:  Art. 4 IVG , Art. 4 Abs. 2 IVG, Art. 29 Abs. 2 und Art. 22 IVG, Art. 22 IVG, Art. 25 IVG, Art. 36 Abs. 1 IVG, Art. 29 IVG, Art. 28 Abs. 1 und 2 IVV, Art. 19 IVG, Art. 21 IVG

BGE referenzen:  121 V 190, 140 V 246 , 114 V 140, 121 V 190

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

126 V 241


41. Auszug aus dem Urteil vom 28. Juni 2000 i. S. K. gegen IV-Stelle für Versicherte im Ausland und Eidg. Rekurskommission der AHV/IV für die im Ausland wohnenden Personen

Regeste

Art. 4 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 29 Abs. 2 und Art. 22 IVG : Eingliederung vor Rente.
Der Rentenanspruch kann nicht entstehen, solange Eingliederungsmassnahmen durchgeführt und dafür Taggelder ausgerichtet werden.

Sachverhalt ab Seite 241

BGE 126 V 241 S. 241

A.- Gestützt auf ein Schreiben des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV) vom 10. März 1998 hob die IV-Stelle für Versicherte im Ausland die der spanischen Staatsangehörigen K. (geboren in der Schweiz am 7. März 1971 und seit 1. August 1991 wohnhaft in Spanien) seit 1. April 1990 ausgerichtete ganze Invalidenrente mit Wirkung ab 1. Dezember 1998 auf (Verfügung vom 2. Oktober 1998). Zur Begründung wurde ausgeführt, der Eintritt der Invalidität sei seinerzeit bei der ursprünglichen Rentenfestsetzung fälschlicherweise auf 1. April 1990 statt 1. April 1989, den ersten Monatsbeginn nach Vollendung des 18. Altersjahres der nicht weiter eingliederungsfähigen Versicherten, festgelegt worden. Könne sich K. somit über kein Mindestbeitragsjahr vor Eintritt der Invalidität am 1. April 1989 ausweisen, was bisher übersehen worden sei, stehe ihr mangels Erfüllung der versicherungsmässigen Voraussetzungen
BGE 126 V 241 S. 242
keine ordentliche und, da in Spanien wohnhaft, auch keine ausserordentliche Invalidenrente zu.

B.- Die seitens der Versicherten dagegen erhobene Beschwerde wies die Eidg. Rekurskommission der AHV/IV für die im Ausland wohnenden Personen ab (Entscheid vom 7. Juni 1999).

C.- K. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, es sei ihr, unter Aufhebung von vorinstanzlichem Entscheid und Verwaltungsverfügung, über den 1. Dezember 1998 hinaus weiterhin eine ganze Invalidenrente zu gewähren.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das BSV lässt sich nicht vernehmen.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3. In dem von der IV-Stelle eingeholten Schreiben vom 10. März 1998 hat das BSV die Auffassung vertreten, die Beschwerdeführerin sei als Geburtsinvalide zu betrachten. Dies habe zur Folge, dass der Rentenfall am 1. April 1989 eingetreten sei, nachdem die Versicherte am 7. März 1989 das 18. Altersjahr vollendet habe. Die Tatsache, dass sie bei und nach Vollendung des 18. Altersjahres im Rahmen einer erweiterten Sonderschulung in Eingliederung stand und deswegen bis zum 31. März 1990 ein der AHV-Beitragspflicht unterliegendes kleines Taggeld bezog (Art. 22 in Verbindung mit Art. 25 IVG ), betrachtete die Aufsichtsbehörde mit Blick auf den Eintritt des Versicherungsfalles ( Art. 4 Abs. 2 IVG ) und die Erfüllung des Mindestbeitragsjahres ( Art. 36 Abs. 1 IVG ) als unerheblich.

4. Unter der Geltung von Art. 4 Abs. 2 IVG in der ursprünglichen Fassung (in Kraft seit 1. Januar 1960) blieb unklar, ob derselbe Gesundheitsschaden mehrere (sukzessive) Versicherungsfälle bewirken kann (EVGE 1966 S. 175, insbes. S. 178 f. Erw. 4). Diese Unsicherheit bewog den Gesetzgeber im Rahmen der am 1. Januar 1968 in Kraft getretenen 1. IV-Revision (Bundesgesetz vom 5. Oktober 1967), den Invaliditätseintritt leistungsbezogen zu normieren. Diesem Zweck dient Art. 4 Abs. 2 IVG , wonach die Invalidität als eingetreten gilt, sobald sie die für die Begründung des Anspruchs auf die jeweilige Leistung erforderliche Art und Schwere erreicht hat. Es entspricht ständiger Rechtsprechung zu dieser Bestimmung, dass das IVG nicht einen einheitlichen Versicherungsfall kennt, sondern dem System des leistungsspezifischen Versicherungsfalles folgt (MEYER-BLASER, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung
BGE 126 V 241 S. 243
[IVG], in: MURER/STAUFFER [Hrsg.], Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Zürich 1997, S. 22 f. mit zahlreichen Hinweisen auf die Rechtsprechung).

5. Der Eintritt des Rentenfalles wird durch Art. 29 IVG positivrechtlich geregelt. Abs. 1 lit. a und b dieser Bestimmung umschreiben die beiden Entstehungsgründe des Rentenanspruches. Ausgerichtet wird die Rente gemäss Art. 29 Abs. 2 IVG von Beginn des Monats an, in dem der Anspruch entsteht, jedoch frühestens von jenem Monat an, der auf die Vollendung des 18. Altersjahres folgt. Im Rahmen der seit 1. Januar 1988 in Kraft stehenden 2. IV-Revision (Bundesgesetz vom 9. Oktober 1986) erfuhr die letztgenannte Norm eine Ergänzung, nach welcher der Anspruch nicht entsteht, solange der Versicherte ein Taggeld nach Art. 22 IVG beanspruchen kann. Damit wurde nunmehr auf der Ebene des Gesetzes - und nicht wie früher nur auf Verordnungsstufe (vgl. Art. 28 Abs. 1 und 2 IVV in der bis 31. Dezember 1984 gültig gewesenen Fassung) - die Priorität der Eingliederungsmassnahmen, welche durch den akzessorischen Taggeldanspruch ( BGE 114 V 140 Erw. 1a) begleitet sind, vor der Invalidenrente festgeschrieben (Botschaft über die zweite Revision der Invalidenversicherung vom 21. November 1984; BBl 1985 I 41f.). Der Rentenanspruch kann daher nicht entstehen, solange Eingliederungsmassnahmen durchgeführt werden ( BGE 121 V 190 ). Die Auffassung von Aufsichtsbehörde und Rekurskommission, wonach der Rentenfall - unabhängig davon, ob ein Taggeld gemäss Art. 22 IVG ausgerichtet werde - eintrete, falls die versicherte Person nach Abschluss von Sonderschulung oder erstmaliger beruflicher Ausbildung invalid sei, ist somit unbegründet.

6. Als die Beschwerdeführerin am 7. März 1989 ihr 18. Altersjahr vollendete, war sie freilich - wegen der Folgen des im Alter von fünf Jahren erlittenen schweren Verkehrsunfalles - invalid in dem Sinne, dass bis zu diesem Zeitpunkt die Versicherungsfälle z.B. für Sonderschulung ( Art. 19 IVG ) und Hilfsmittel ( Art. 21 IVG ) usw. eingetreten waren. Der Rentenanspruch hingegen konnte nach dem Gesagten gerade nicht entstehen, weil sie sich als damals 18-Jährige in der erweiterten Sonderschulung befand und ein kleines Taggeld bezog, auf dem Beiträge erhoben wurden. Daraus ergibt sich ohne weiteres, dass die Beschwerdeführerin das Mindestbeitragsjahr vor Eintritt des Invaliditätsfalles, der nach Abbruch der Eingliederungsbemühungen auf den 1. April 1990 festgelegt wurde, erfüllt. Es steht ihr somit eine ordentliche Invalidenrente zu.

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