Urteilskopf
128 V 169
28.Urteil i.S. A. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau U 319/01 vom 2. Mai 2002
Regeste
Art. 6 Abs. 3,
Art. 10 Abs. 1 UVG
;
Art. 10 UVV
: Nicht rechtzeitig diagnostiziertes Krankheitsgeschehen.
Keine Haftung des Unfallversicherers für ein mit dem versicherten Unfall nicht in Zusammenhang stehendes Krebsleiden, das während der Heilbehandlung im Sinne von
Art. 10 UVG
nicht (rechtzeitig) entdeckt worden ist.
A.-
B., gelernter Schlosser, war bei der S. AG angestellt und dadurch bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch gegen Unfälle versichert. Am 20. Januar 1997 zog er sich als Mitfahrer bei einem Verkehrsunfall eine Keilimpressionsfraktur Th12/L1 zu. Der Heilungsverlauf mit konservativer Behandlung erfolgte zunächst ohne Komplikationen. Im Bericht des SUVA-Inspektors vom 26. Juni 1997 wird festgehalten, B. leide nach wie vor unter Rückenbeschwerden und Kopfweh. Die Arbeitstätigkeit habe er ab 2. Juni 1997 zu 25% und ab 9. Juni 1997 zu 40% aufgenommen, dabei aber beim Versuch, mit einem vollen Pensum zu arbeiten, unter Müdigkeit und Konzentrationsstörungen gelitten. Ab
BGE 128 V 169 S. 170
16. August 1997 steigerte er sein Arbeitspensum mit leichter Tätigkeit auf 60%. Im Bericht des Hausarztes Dr. med. W. vom 14. Oktober 1997 wird von teilweise grosser Müdigkeit sowie Rücken- und Kopfschmerzen bei stärkerer Belastung berichtet. Nach einer kreisärztlichen Untersuchung am 11. November 1997 hielt sich B. vom 5. Januar bis zum 4. März 1998 in der Rehabilitationsklinik Z. auf, wo eine orthopädische-traumatologische Frührehabilitation, eine berufliche Abklärung und ein psychosomatisches Konsilium durchgeführt wurden (Austrittsbericht vom 25. März 1998). Neben Kopfschmerzen, Höhenschwindel und Miktionsproblemen gab er Sensibilitätsstörungen in der rechten Wangenregion und in der rechten Zungenhälfte sowie im Geschmacksempfinden an. Das psychosomatische Konsilium führte zu keiner definitiven psychiatrischen Diagnose, doch wurde eine sehr eigentümliche Präsentation erwähnt. Aufgrund der beruflichen Abklärung war wegen den Rückenbeschwerden eine Umschulung auf eine leichtere Tätigkeit wie in einem kaufmännischen Beruf angezeigt. Nach Zuweisung durch den Hausarzt veranlasste Dr. med. M., Neurologie FMH, Anfang Mai 1998 ein MRI der LWS, HWS und des Kopfes. Dabei wurde ein diffus wachsendes Hirnstammgliom mit Ausdehnung ins rechte Kleinhirn festgestellt. Am 8. Juni 1998 wurde B. in der Neurochirurgischen Klinik des Universitätsspitals X. notfallmässig operiert.
Mit Verfügung vom 6. Januar 2000 sprach die SUVA B. ab 1. Juli 1998 für die Unfallfolgen eine Invalidenrente für eine Erwerbsunfähigkeit von 10% sowie eine Integritätsentschädigung für eine Integritätseinbusse von 15% zu. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 18. Mai 2000 fest.
B.-
Hiegegen liess B. Beschwerde erheben mit dem Antrag, die SUVA sei für die Folgen der Tumorerkrankung als leistungspflichtig zu erklären. Am 27. Januar 2001 verstarb er an den Folgen der Tumorerkrankung. Nachdem seine Mutter A. als seine einzige Erbin in den Prozess eingetreten war, wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau die Beschwerde mit Entscheid vom 21. Februar 2001, eröffnet am 23. August 2001, ab.
C.-
A. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen unter Erneuerung des vorinstanzlich gestellten Rechtsbegehrens. Eventuell sei die Sache zur weiteren Abklärung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Kantonales Gericht und SUVA schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
a) Gemäss
Art. 6 UVG
werden - soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt - die Versicherungsleistungen bei Berufsunfällen, Nichtberufsunfällen und Berufskrankheiten gewährt (Abs. 1). Ausserdem erbringt die Versicherung ihre Leistungen für Schädigungen, die dem Verunfallten bei der Heilbehandlung im Sinne von
Art. 10 UVG
zugefügt werden (Abs. 3). Ferner bestimmt
Art. 10 UVV
, dass der Versicherer seine Leistungen auch für Körperschädigungen erbringt, die der Versicherte durch von ihm angeordnete oder sonstwie notwendig gewordene medizinische Abklärungsuntersuchungen erleidet.
b) Nach
Art. 10 Abs. 1 UVG
hat der Versicherte Anspruch auf Heilbehandlung. Dabei hat der Versicherer die Pflegeleistungen nur so lange zu erbringen, als davon eine namhafte Besserung des Gesundheitszustandes erwartet werden kann (
Art. 19 Abs. 1 UVG
; THOMAS LOCHER, Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 2. Aufl., Bern 1997, S. 170 N 11; MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 274). Kommt die Versicherung zum Schluss, dass von einer Fortsetzung der Behandlung keine namhafte Besserung des Gesundheitszustandes erwartet werden kann, oder hält sie eine vom Versicherten oder dessen Arzt vorgeschlagene Behandlung für unzweckmässig, kann sie gestützt auf
Art. 48 Abs. 1 UVG
die Fortsetzung der Behandlung ablehnen. Indem das Gesetz den Versicherer ermächtigt, im Einzelfall die diagnostischen und therapeutischen Massnahmen festzulegen, überbindet es diesem die Verantwortung für die Heilbehandlung; es ist dies ein Ausfluss des für die Pflegeleistungen nach UVG gültigen Naturalleistungsprinzips (FRANÇOIS-X. DESCHENAUX, Le précepte de l'économie du traitement dans l'assurance-maladie sociale, en particulier en ce qui concerne le médecin, in: Sozialversicherungsrecht im Wandel, Festschrift 75 Jahre EVG, Bern 1992, S. 529 f.; MAURER, a.a.O., S. 299 und 274 f.). Konsequenz des Rechts des Unfallversicherers zur Anordnung von Behandlungsmassnahmen ist, dass er einerseits Leistungen zu erbringen hat für Schädigungen, welche dem Verunfallten bei der Heilbehandlung zugefügt werden (
Art. 6 Abs. 3 UVG
;
BGE 118 V 286
), andrerseits berechtigt ist, die Leistungspflicht für eine nicht bewilligte Heilmassnahme und der sich aus ihr ergebenden Folgen abzulehnen (RKUV 1995 Nr. U 227 S. 190; RDAT 1997 II Nr. 62 S. 226).
c) Mit
Art. 6 Abs. 3 UVG
und
Art. 10 UVV
hat der Gesetzgeber die unter dem KUVG entwickelte Rechtsprechung (EVGE 1967
BGE 128 V 169 S. 172
S. 19 Erw. 2, 1964 S. 207, 1961 S. 9 mit Hinweis) kodifiziert (ALFRED BÜHLER, Der Unfallbegriff, in: KOLLER [Hrsg.], Haftpflicht- und Versicherungsrechtstagung 1995, St. Gallen 1995, S. 256; GHÉLEW/RAMELET/RITTER, Commentaire de la loi sur l'assurance-accidents [LAA], S. 58 f.). Sinn und Zweck dieser Bestimmungen sind die Tragung des Risikos durch den Unfallversicherer für die von ihm übernommenen medizinischen Massnahmen; damit wird das Korrelat der Behandlungspflicht und der Weisungsgebundenheit des Versicherten hergestellt. Die Haftung erstreckt sich auf Gesundheitsschädigungen, die auf Behandlungsmassnahmen im Anschluss an einen Unfall zurückzuführen sind. Es muss weder ein Behandlungsfehler vorliegen noch der Unfallbegriff erfüllt noch ein Kunstfehler oder auch nur objektiv eine Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht gegeben sein (
BGE 118 V 292
Erw. 3b; BÜHLER, a.a.O., S. 256). Damit ist die medizinische Komplikation im Sinne einer mittelbaren Unfallfolge mitversichert, und zwar selbst im Falle seltenster, schwerwiegendster Komplikationen (WERNER E. OTT, Haftung des Arztes oder des Spitals infolge fehlerhafter Unfallbehandlung, in: Collezione Assista, 30 anni/ans/Jahre Assista TCS SA, Genf 1998 S. 451;
BGE 118 V 291
Erw. 3a mit Hinweis). Der Versicherer leistet denn auch nicht Schadenersatz im Sinne des Haftpflichtrechts, sondern er erbringt Versicherungsleistungen nach UVG (MAURER, a.a.O., S. 259; THOMAS A. BÜHLMANN, Die rechtliche Stellung der Medizinalpersonen im Bundesgesetz über die Unfallversicherung vom 20. März 1981, Diss. Bern 1984 S. 198). Angesichts dieser gesetzlichen Konzeption hat der Unfallversicherer nur für Schädigungen aufzukommen, die in einem natürlichen und adäquat kausalen Zusammenhang mit den durch den versicherten Unfall erfolgten Heilbehandlungen und medizinischen Abklärungsuntersuchungen stehen (
BGE 122 V 32
unten Erw. 2b/bb zu
Art. 18 Abs. 6 MVG
; JÜRG MAESCHI, Kommentar zum Bundesgesetz über die Militärversicherung [MVG] vom 19. Juni 1992, Bern 2000, S. 177 f. N 41 zu Art. 18; a.A. BÜHLER, a.a.O., S. 256, wonach ein natürlich kausaler Zusammenhang genügt). Nicht unter den Anwendungsbereich der beiden Bestimmungen fallen hingegen ärztliche Handlungen oder Unterlassungen im Zusammenhang mit Krankheiten, die ausserhalb der Heilbehandlung im Sinne von
Art. 10 UVG
liegen. So haftet der Unfallversicherer nicht gestützt auf diese beiden Bestimmungen für die Folgen einer vom versicherten Unfall völlig unabhängigen Gesundheitsschädigung, auch wenn diese Folgen (z.B. Herzinfarkt) bei rechtzeitiger Diagnosestellung durch den
BGE 128 V 169 S. 173
vom Versicherer eingesetzten untersuchenden Arzt vermieden worden wären (EVGE 1961 S. 9; ALEXANDRA RUMO-JUNGO, Bundesgesetz über die Unfallversicherung, in: MURER/STAUFFER [Hrsg.], Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, 2. Aufl., Zürich 1995, S. 61).
2.
Der Versicherte befand sich im Anschluss an den Unfall vom 20. Januar 1997 in (kreis-)ärztlicher Behandlung sowie vom 5. Januar bis 4. März 1998 in der Rehabilitationsklinik Z. zur orthopädisch-traumatologischen Frührehabilitation, zur Beurteilung der somatischen und psychosozialen Problematik sowie zur Abklärung der beruflichen Situation. Das Tumorleiden, an welchem er am 27. Januar 2001 verstorben ist, wurde am 2. Juni 1998 anlässlich einer Untersuchung mit dem MRI entdeckt. Dieser Tumor steht aufgrund der Akten weder mit dem Unfall noch mit der wegen den Unfallfolgen notwendigen Heilbehandlung und mit den medizinischen Abklärungsuntersuchungen in Zusammenhang. Vielmehr handelt es sich um ein davon völlig unabhängiges Krankheitsgeschehen. Unter diesen Umständen hat die Beschwerdegegnerin keine Leistungen nach
Art. 6 Abs. 3 UVG
und
Art. 10 UVV
zu erbringen. Sie haftet gestützt auf diese beiden Bestimmungen mithin nicht für eine allfällig verspätete Diagnosestellung der die Unfallfolgen behandelnden Ärzte. Es ist daher auch nicht Sache des Sozialversicherungsgerichts, sich zu dieser Frage zu äussern oder dazu ein Gutachten einzuholen. Aus diesem Grund sind die Ausführungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu diesen beiden Punkten unbehelflich.