BGE 129 III 574 vom 23. Juni 2003

Datum: 23. Juni 2003

Artikelreferenzen:  Art. 30 LugÜ, Art. 38 LugÜ , Art. 38 Abs. 1 LugÜ, Art. 30 Abs. 1 LugÜ, § 599 Abs. 3 ZPO, § 600 ZPO

BGE referenzen:  118 II 50, 123 III 274, 126 III 305, 137 III 261 , 118 II 50, 123 III 274, 126 III 305

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

129 III 574


90. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. K. gegen Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS) sowie Obergericht des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde)
5P.141/2003 vom 23. Juni 2003

Regeste

Aussetzen des Verfahrens gemäss Art. 38 Abs. 1 des Lugano-Übereinkommens.
Bei einem Vorbehaltsurteil nach deutschem Zivilprozess darf das schweizerische Vollstreckungsverfahren nicht sistiert werden, weil das Nachverfahren, unter dessen auflösender Bedingung das Vorbehaltsurteil steht, kein ordentlicher Rechtsbehelf i.S. von Art. 38 Abs. 1 LugÜ ist (E. 3).

Sachverhalt ab Seite 574

BGE 129 III 574 S. 574

A.- In einem Urkundenprozess gemäss § 592 ff. der deutschen ZPO verurteilte das Landgericht Düsseldorf K. mit rechtskräftigem Vorbehalts-/Anerkenntnisurteil vom 8. Juli 1997, der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben DM 1'890'949.12 nebst Zins zu 5% seit 6. Juli 1995 zu zahlen.

B.- In Gutheissung des Gesuches der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben vom 5. September 2002 um Vollstreckbarerklärung und definitive Rechtsöffnung erteilte der Einzelrichter im summarischen Verfahren des Bezirkes Uster in der Betreibung Nr. ... des Betreibungsamtes R. für Fr. 1'418'426.-
BGE 129 III 574 S. 575
nebst Zins definitive Rechtsöffnung. Die dagegen erhobenen Rechtsmittel des Rekurses und der Nichtigkeitsbeschwerde wies das Obergericht des Kantons Zürich, II. Zivilkammer, mit Beschluss vom 4. März 2003 ab.

C.- Dagegen hat K. am 2. April 2003 staatsrechtliche Beschwerde eingereicht mit dem Begehren um Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Erteilung der aufschiebenden Wirkung. Mit Präsidialverfügung vom 6. Mai 2003 ist diese erteilt worden.
Das Bundesgericht weist die staatsrechtliche Beschwerde ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Das Obergericht hat erwogen, eine Sistierung des Vollstreckungsverfahrens gemäss Art. 38 Abs. 1 LugÜ (SR 0.275.11) komme nicht in Frage. Das Vorbehaltsurteil sei nach deutscher ZPO vorläufig vollstreckbar und der Beschwerdeführer habe das Nachverfahren mehr als fünf Jahre nicht eingeleitet. Offenbar gehe er davon aus, dass dieses ohne Rücksicht auf eine Frist zulässig sei. Der ordentliche Rechtsbehelf im Sinne von Art. 38 Abs. 1 LugÜ müsse indes fristgebunden sein, ansonsten der Antragsteller den Zeitpunkt des Rechtsbehelfs beliebig bestimmen und diesen erst und gerade dann einlegen könnte, wenn das Begehren um Vollstreckbarerklärung im Zweitstaat anhängig gemacht werde. Im Übrigen spreche der Zeitablauf von über fünf Jahren mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit dafür, dass das Nachklagerecht verwirkt sei.
Der Beschwerdeführer wirft dem Obergericht vor, das Lugano-Übereinkommen nicht vertragsautonom, sondern nach Landesrecht ausgelegt zu haben. Der Begriff des ordentlichen Rechtsbehelfes sei weit auszulegen und das Nachverfahren sei inzwischen eingeleitet; diesfalls sei auf das Fristerfordernis zu verzichten.

3. Gemäss Art. 38 Abs. 1 LugÜ kann das obere Gericht des Zweitstaates das Vollstreckungsverfahren aussetzen, wenn gegen die Entscheidung im Ursprungsstaat ein ordentlicher Rechtsbehelf eingelegt worden ist oder die Frist hierfür noch läuft. Analoges sieht Art. 30 Abs. 1 LugÜ für das Anerkennungsverfahren vor.
Wie der Beschwerdeführer zu Recht ausführt, ist der Begriff des ordentlichen Rechtsbehelfs vertragsautonom auszulegen. Der Europäische Gerichtshof hat diesbezüglich in seinem Entscheid vom 22. November 1977 erkannt, ordentliches Rechtsmittel im Sinne der Konvention sei jeder Rechtsbehelf, der zur Aufhebung oder Abänderung der für vollstreckbar zu erklärenden Entscheidung führen
BGE 129 III 574 S. 576
könne und für dessen Einlegung im Erststaat eine gesetzliche Frist gesetzt sei, die durch die Entscheidung selbst ausgelöst werde (GEIMER/SCHÜTZE, Europäisches Zivilverfahrensrecht, Kommentar zu EuGVÜ und LugÜ, München 1997, N. 6 zu Art. 38; KROPHOLLER, Europäisches Zivilprozessrecht, Kommentar zu EuGVO und LugÜ, 7. Aufl., Heidelberg 2002, N. 3 zu Art. 37).
Ein Vorbehalts-/Anerkenntnisurteil bedeutet, dass die beklagte Partei den Klageanspruch bestreitet und nur für den Urkundenprozess anerkennt. Das Vorbehaltsurteil ist auflösend bedingt, weil es unter dem Vorbehalt des Nachverfahrens steht, das den Rechtsstreit vor gleicher Instanz ohne Beschränkung der Beweismittel fortsetzt (ROSENBERG/SCHWAB/GOTTWALD, Zivilprozessrecht, 15. Aufl., München 1993, S. 318 ff.). Nichtsdestoweniger erwächst das Vorbehaltsurteil in formelle Rechtskraft, und gemäss § 599 Abs. 3 ZPO stellt es binnenstaatlich einen Vollstreckungstitel dar.
Aus § 600 ZPO ist keine Frist für das Nachverfahren ersichtlich; der Beschwerdeführer weist denn auch mit Nachdruck auf diesen Umstand hin. Nach den vorstehenden Erwägungen handelt es sich beim Nachverfahren folglich nicht um einen ordentlichen Rechtsbehelf im Sinne des autonom ausgelegten Art. 38 LugÜ . Etwas anderes lässt sich auch aus dem Entscheid des Bundesgerichtshofes vom 12. Juni 1986 und der einschlägigen Literatur nicht ableiten: Zwar plädiert diese dafür, das vom Europäischen Gerichtshof aufgestellte Kriterium der Fristgebundenheit des Rechtsbehelfs nur dann zu verwenden, wenn dieser im Zeitpunkt der Befassung des Zweitgerichts noch nicht eingelegt ist (KROPHOLLER, a.a.O., N. 4 zu Art. 37). Eine nach mehr als fünf Jahren am 28. November 2002 und damit just einen Tag vor Rekurs und Nichtigkeitsklage an das Obergericht des Kantons Zürich eingereichte Nachklage beim Landgericht Düsseldorf bietet jedoch keinen Anlass, von der Definition des ordentlichen Rechtsmittels, wie sie vom Europäischen Gerichtshof vorgenommen worden ist, abzuweichen.
Das Obergericht hat folglich mit seinen Erwägungen kein Staatsvertragsrecht verletzt, umso weniger als Art. 30 Abs. 1 und Art. 38 Abs. 1 LugÜ die Sistierung des Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahrens ins Ermessen des hierfür zuständigen Gerichts stellt und das Bundesgericht bei der Beurteilung von Ermessensentscheiden Zurückhaltung übt (vgl. exemplarisch BGE 118 II 50 E. 4 S. 55 f.; BGE 123 III 274 E. 1a/cc S. 279 f.; BGE 126 III 305 E. 4a S. 306).

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