Urteilskopf
130 III 410
53. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. Z. gegen Vormundschaftskommission A. (Berufung)
5C.20/2004 vom 31. März 2004
Regeste
Entziehung der elterlichen Sorge für Kinder mit iranischer Staatsangehörigkeit und Flüchtlingsstatus; Art. 1, 2, 13 und 18 Abs. 2 des Übereinkommens über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen vom 5. Oktober 1961; Art. 8 Abs. 3 und 4 des Niederlassungsabkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Kaiserreich Persien vom 25. April 1934; Art. 12 Abs. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951.
Das Minderjährigenschutzabkommen beeinträchtigt in Bezug auf das auf die Entziehung der elterlichen Sorge anwendbare Recht weder die Bestimmungen der Flüchtlingskonvention noch des schweizerisch-iranischen Niederlassungsabkommens, währenddem Art. 12 Abs. 1 der Flüchtlingskonvention dem an die Staatsangehörigkeit anknüpfenden Niederlassungsabkommen vorgeht (E. 3.1 und 3.2).
Der Zivilrichter entscheidet unabhängig, wer als Flüchtling im Sinne der Flüchtlingskonvention zu gelten hat. Hat die zuständige Behörde hingegen Asyl gewährt, bindet diese Anerkennung als Flüchtling den Richter, weil damit ein Status begründet wurde, den alle schweizerischen Instanzen anzuerkennen haben (E. 3.3).
A.
Mit gerichtlicher Trennungsvereinbarung vom 20. Dezember 2001 der Ehegatten Z. und Y., von der Schweiz anerkannte iranische Flüchtlinge, wurden die drei gemeinsamen unmündigen Kinder X. (geb. 1987), W. (geb. 1991) und V. (geb. 1995) vorläufig unter die Obhut der Mutter gestellt. Die definitive Regelung der Kinderbelange, insbesondere das Besuchsrecht des Vaters, Z., sollte erst nach Erstellung eines Gutachtens erfolgen. Am 28. Dezember 2002 wurde die Mutter Opfer eines Tötungsdelikts; gleichentags wurde Z. unter dringendem Tatverdacht festgenommen. Mit Verfügung vom 20. Oktober 2003 entzog die Regierungsstatthalterin II von Bern in Anwendung von
Art. 311 ZGB
auf Antrag der Vormundschaftskommission A. Z. die elterliche Gewalt über die drei Kinder und wies die Vormundschaftskommission an, für die Kinder gestützt auf
Art. 368 ZGB
einen gesetzlichen Vertreter zu ernennen. Hiergegen gelangte Z. an den Appellationshof des Kantons Bern und beantragte, der Entscheid der Regierungsstatthalterin sei aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Mit Urteil vom 8. Dezember 2003 bestätigte der Appellationshof (1. Zivilkammer) die erstinstanzliche Verfügung vollumfänglich und wies die Vormundschaftskommission überdies an, dem Regierungsstatthalteramt die Wahl des Vormundes mitzuteilen.
B.
Z. hat mit Eingaben vom 20. Januar 2004 und 22. Januar 2004 (Berufungsschrift seines Rechtsvertreters) eidgenössische Berufung erhoben und beantragt dem Bundesgericht, das Urteil des Appellationshofes aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Weiter ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege.
C.
Der Appellationshof hat anlässlich der Akteneinsendung (
Art. 56 OG
) keine Gegenbemerkungen angebracht. Eine Berufungsantwort ist nicht eingeholt worden.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab, soweit darauf einzutreten ist.
Aus den Erwägungen:
2.
Der Appellationshof hat im Wesentlichen (zum Teil unter Hinweis auf die erstinstanzlichen Ausführungen) erwogen, dass auf die Entziehung des Sorgerechts des Berufungsklägers für seine Kinder in Anwendung des Übereinkommens über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende
BGE 130 III 410 S. 411
Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen vom 5. Oktober 1961 (MSA; SR 0.211.231.01; Inkrafttreten für die Schweiz am 4. Februar 1969, AS 1969 S. 181) das schweizerische ZGB anwendbar sei. Das Niederlassungsabkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Kaiserreich Persien vom 25. April 1934 (SR 0.142.114.362; Inkrafttreten am 2. Juli 1935, BS 11 S. 664) sei nicht massgebend, da der Berufungskläger und seine Kinder Flüchtlinge im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (FK; SR 0.142.30; Inkrafttreten für die Schweiz am 21. April 1955, AS 1955 S. 443) und die Ausschlussgründe nach
Art. 1C Ziff. 1 und 2 FK
nicht erfüllt seien.
Der Berufungskläger hält dem im Wesentlichen entgegen, dass ihm die iranische Botschaft auf seinen Antrag hin einen Reisepass, in dem auch seine Kinder eingetragen seien, ausgestellt habe. Daher sei für ihn und seine Kinder nicht die FK, sondern das vom MSA vorbehaltene Niederlassungsabkommen und in der Sache iranisches Recht massgebend. Nach iranischem Zivilgesetzbuch könne ein Vormund nur ernannt werden, wenn der Vater oder Grossvater väterlicherseits das Sorgerecht nicht übernehmen könne, und die Vorinstanz habe die "walayat", eventuell bloss die "hazanat" nach iranischem Recht anzuordnen.
3.1
Nach den kantonalen Sachverhaltsfeststellungen (
Art. 63 Abs. 2 OG
) sind der Berufungskläger und seine Kinder iranische Staatsangehörige, die von der Schweiz im Jahre 1993 (bzw. seit Geburt) als Flüchtlinge anerkannt sind. Die in Frage stehende Entziehung der elterlichen Sorge stellt ein internationales Verhältnis im Sinne von
Art. 1 Abs. 1 IPRG
dar, zu dessen Regelung die völkerrechtlichen Verträge vorbehalten sind, unabhängig davon, ob sie im IPRG speziell erwähnt werden oder nicht (
Art. 1 Abs. 2 IPRG
; SCHNYDER, Basler Kommentar, Internationales Privatrecht, N. 15 zu
Art. 1 IPRG
).
3.2
Für den Schutz von Minderjährigen gilt in Bezug auf die Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte oder Behörden, das an wendbare Recht und die Anerkennung ausländischer Entscheidungen und Massnahmen das MSA (
Art. 85 Abs. 1 IPRG
). Nach
Art. 18 Abs. 2 MSA
bleiben die Bestimmungen anderer Übereinkünfte, an welche die Vertragsstaaten im Zeitpunkt des Inkrafttretens gebunden sind, unberührt. Das MSA beeinträchtigt folglich die Bestimmungen der für die Schweiz früher in Kraft getretenen FK nicht (ANDREAS BUCHER, L'enfant en droit international privé, Basel 2003, S. 115 Rz. 316). Ebenso wenig berührt das MSA das früher in Kraft getretene schweizerisch-iranische Niederlassungsabkommen (
BGE 129 III 250
E. 3.1 S. 252).
3.2.1
Die Kinder des Berufungsklägers haben ihren Lebensmittelpunkt unstrittig in der Schweiz. Nach dem MSA sind die schweizerischen Gerichte und Behörden zuständig, für jeden Minderjährigen, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz hat, die nach dem innerstaatlichen Recht vorgesehenen Massnahmen zum Schutz seiner Person zu treffen (
Art. 1, 2 und 13 MSA
), wobei die Entziehung der elterlichen Sorge eine Schutzmassnahme im Sinne des Abkommens darstellt (BUCHER, L'enfant, a.a.O., S. 116 Rz. 321). Die Vorinstanz hat zu Recht geschlossen, dass die schweizerischen Gerichte und Behörden gestützt auf das MSA zuständig sind, die elterliche Sorge der Kinder des Berufungsklägers zu regeln, und diese auf die Entziehung der elterlichen Sorge das schweizerische materielle Recht anzuwenden haben.
3.2.2
Die Kinder des Berufungsklägers sind sodann von der Schweiz anerkannte Flüchtlinge und gelten damit als Flüchtlinge im Sinne der FK (Art. 59 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 [AsylG; SR 142.31]). Nach
Art. 12 Abs. 1 FK
bestimmt sich die personenrechtliche Stellung eines Flüchtlings nach dem Gesetz seines Wohnsitzlandes oder, wenn er keinen Wohnsitz hat, nach dem Gesetz seines Aufenthaltslandes, wobei zur personenrechtlichen Stellung einer Person ihre familienrechtlichen Beziehungen und damit auch die Regelung der elterlichen Sorge gehören (
BGE 105 II 1
E. 3 S. 4). Die Anwendung des schweizerischen materiellen Rechts nach MSA widerspricht der FK, deren Vertragsstaat auch der Iran ist, nicht: Im vorliegenden Fall erklärt
Art. 12 Abs. 1 FK
für die Kinder das Wohnsitzrecht und somit ebenfalls schweizerisches materielles Recht als massgeblich (vgl.
BGE 105 II 1
E. 3 S. 4; IVO SCHWANDER, Einführung in das internationale Privatrecht, Bd. I, 3. Aufl., 2000, S. 156 Rz. 335).
3.2.3
Die Parteien sind auch iranische Staatsangehörige. Damit ist das Niederlassungsabkommen massgebend, welches in Art. 8 Abs. 3 und 4 für iranische Staatsangehörige in Angelegenheiten des Familienrechts und damit auch zur Regelung des Sorgerechts die Anwendung des Heimatrechts vorsieht. Daran ändert das MSA nichts. Bleibt zu prüfen, ob
Art. 12 Abs. 1 FK
in der Sache nicht nur die Anwendung des schweizerischen Rechts, sondern auch den Vorrang vor der im Niederlassungsabkommen enthaltenen Kollisionsregel beansprucht.
In der FK findet sich keine Vorschrift für den Fall, dass eine Vertragsbestimmung einem anderen Vertrag widerspricht;
Art. 37 FK
regelt einzig die Ersetzung von bestimmten früheren Abkommen. Demnach kann auf die völkerrechtliche Staatenpraxis, wonach zwischen gleichen Vertragsstaaten der frühere Vertrag nur in dem Ausmass Anwendung findet, wie seine Bestimmungen mit denen des späteren Vertrages vereinbar sind, zurückgegriffen werden (vgl. Art. 30 Abs. 3 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 [SR 0.111]; KNUT IPSEN, Völkerrecht, 4. Aufl., München 1999, S. 131 Rz. 18 und 19). Daraus folgt, dass
Art. 12 Abs. 1 FK
auch dann Anwendung findet, wenn zwischen dem Iran und der Schweiz - beides Vertragsstaaten der FK - ein älterer Staatsvertrag besteht, der eine Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit vorsieht (vgl. VON STAUDINGER/BLUMENWITZ, Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche/IPR, Berlin 2003, N. 64 in Anhang IV zu Art. 5 EGBGB). Für den Vorrang von
Art. 12 Abs. 1 FK
spricht sodann, dass damit für Flüchtlinge als einer besonderen Gruppe von Staatsangehörigen eine spezifische und eingehendere Regelung getroffen wird (vgl. ANDREAS BUCHER, Droit international privé suisse, Bd. II, Basel 1992, S. 74 Rz. 155), welche mit der Anknüpfung an das Wohnsitzrecht vermeiden soll, dass auf Flüchtlinge das Recht des Heimatstaates, aus dem sie fliehen mussten oder in dem sie keine Zuflucht fanden, angewendet wird. Im Weiteren bestehen keine Anhaltspunkte, dass in Anwendung des schweizerischen Wohnsitzrechts nicht ebenso wirksame Massnahmen zum Schutz der Kinder des Berufungsklägers wie nach iranischem Recht getroffen werden könnten (zum Kindeswohl vgl.
BGE 129 III 250
E. 3.4.2 S. 255). Wenn vor diesem Hintergrund der Appellationshof angenommen hat, dass für die Entziehung des Sorgerechts des Berufungsklägers für seine Kinder, die seit über 10 Jahren bzw. seit Geburt als anerkannte Flüchtlinge in der Schweiz leben und - nach Darstellung des Berufungsklägers - hier bleiben wollen, schweizerisches Recht massgebend sei, ist dies insoweit nicht zu beanstanden.
3.3
Der Berufungskläger stützt sich auf die von den kantonalen Instanzen festgestellte Tatsache, dass ihm die iranische Botschaft auf seinen Antrag hin einen Reisepass ausgestellt hat, in dem auch seine Kinder eingetragen sind. Er macht unter Hinweis auf
Art. 1C Ziff. 1 FK
geltend, dass er und seine Kinder sich freiwillig wieder unter den Schutz des Heimatlandes gestellt hätten und daher weder er noch seine Kinder Flüchtlinge im Sinne der FK seien. Folglich sei das vom MSA vorbehaltene Niederlassungsabkommen und in der Sache iranisches Recht anwendbar.
3.3.1
Der Zivilrichter entscheidet unabhängig, wer als Flüchtling im Sinne der FK zu gelten hat, ohne dass die Asylgewährung durch die zuständige Behörde Voraussetzung dazu bildet. Hat die zuständige Behörde hingegen Asyl gewährt, bindet diese Anerkennung als Flüchtling den Richter, weil damit ein Status begründet wurde, den alle schweizerischen Instanzen anzuerkennen haben (BUCHER, Droit, a.a.O., Bd. II, S. 71 Rz. 145; SCHWANDER, a.a.O., S. 109 Rz. 225; ALBERTO ACHERMANN / CHRISTINA HAUSAMMANN, Handbuch des Asylrechts, 2. Aufl., 1991, S. 384).
Art. 59 AsylG
hält denn auch ausdrücklich fest, dass Personen, denen die Schweiz Asyl gewährt hat oder die als Flüchtlinge vorläufig aufgenommen wurden, gegenüber allen eidgenössischen und kantonalen Behörden als Flüchtlinge im Sinne dieses Gesetzes sowie des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge gelten. Die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft, namentlich mit Bezug auf die in Art. 1C Ziff. 1 bis 6 FK genannten Gründe, muss durch Verfügung der Asylbehörden festgestellt werden (
Art. 63 Abs. 1 lit. b AsylG
); andernfalls dauert die formelle Flüchtlingseigenschaft und damit die Rechtsstellung als Flüchtling fort (WALTER STÖCKLI, Asyl, in: Uebersax/Münch/Geiser/Arnold [Hrsg.], Ausländerrecht, Basel 2002, S. 334 Rz. 8.28).
3.3.2
Nach den Sachverhaltsfeststellungen im angefochtenen Urteil sind die Kinder des Berufungsklägers sowie er selber anerkannte Flüchtlinge im Sinne des AsylG. Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass der Berufungskläger durch die Beschaffung des heimatlichen Passes einen Grund zum Asylwiderruf gesetzt hat (vgl. Entscheidungen und Mitteilungen der Schweizerischen Asylrekurskommission
EMARK 1998 Nr. 29
). Eine formelle Verfügung, mit welcher die Asylbehörden das Asyl widerrufen hätten, ist indessen nicht aktenkundig, ebenso wenig eine ausdrückliche Verzichtserklärung des Berufungsklägers gegenüber den Asylbehörden (ACHERMANN/ Hausammann, a.a.O., S. 198), durch welche das Asyl gemäss
Art. 64 Abs. 1 lit. c AsylG
unmittelbar erlischt (
EMARK 2000 Nr. 25
E. 2c). Den kantonalen Instanzen sowie dem Bundesgericht ist es daher verwehrt, den Flüchtlingsstatus des Berufungsklägers oder denjenigen seiner Kinder in Frage zu stellen. Vielmehr gelten bei dieser Sach- und Rechtslage alle Beteiligten nach wie vor als Flüchtlinge im Sinne der FK. Schliesslich geht der Einwand des Berufungsklägers, für die Entziehung der elterlichen Sorge sei das auf
seine
personenrechtliche Stellung anwendbare Recht massgebend, ins Leere, weil er sich damit ebenfalls auf
Art. 12 FK
bzw. die Anwendung seines schweizerischen Wohnsitzrechts beruft.
3.4
Nach dem Dargelegten erweist sich die Rüge der Berufungsklägers, es sei nicht ausländisches Recht angewendet worden, wie es das schweizerische internationale Privatrecht vorschreibt, als unbegründet.