Urteilskopf
130 V 111
18. Auszug aus dem Urteil i.S. H. gegen S. (B 102/02) und Bundesamt für Sozialversicherung gegen S. (B 108/02) und Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
B 102/02 + B 108/02 vom 6. Januar 2004
Regeste
Art. 122 und 142 ZGB
;
Art. 22 und 25a FZG
;
Art. 73 BVG
: Sachliche Zuständigkeit.
Die sachliche Zuständigkeit des Sozialversicherungsgerichts zur Teilung von Austrittsleistungen im Scheidungsfall erstreckt sich auch auf Streitigkeiten mit Freizügigkeitseinrichtungen (Erw. 3).
A.
S. und H. heirateten am 20. Mai 1983. Mit Urteil vom 19. März 2001, in Rechtskraft erwachsen am 7. April 2001, schied der Gerichtspräsident des Bezirksgerichts die Ehe der Parteien und ordnete in Ziffer 7 des Urteilsdispositivs die hälftige Aufteilung der während der Ehe gebildeten Austrittsleistungen der beruflichen Vorsorge an. S. war im Zeitpunkt des Scheidungsurteils bei der Pensionskasse des Bundes versichert und verfügte zusätzlich über mindestens ein Freizügigkeitskonto.
BGE 130 V 111 S. 112
B.
Nach Überweisung der Sache durch das Scheidungsgericht trat das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Beschluss vom 23. Oktober 2002 auf die Streitigkeit betreffend Freizügigkeitskonti und -policen, Aktenherausgabe und Teilung von Lohnbeiträgen nicht ein (Ziffer 1 des Dispositivs) und leitete hinsichtlich der Pensionskasse des Bundes den Schriftenwechsel ein (Ziffern 2 und 3 des Dispositivs).
C.
H. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, in Aufhebung von Dispositiv-Ziffer 1 des vorinstanzlichen Beschlusses sei das kantonale Gericht anzuhalten, auf die Streitigkeit betreffend Freizügigkeitskonti und -policen samt Aktenherausgabe und Beweisanträge einzutreten. Eventuell sei die Sache vom kantonalen Gericht an das Scheidungsgericht zurück zu überweisen oder an das zuständige Zivilgericht zu überweisen.
Das kantonale Gericht schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) auf deren Gutheissung. S. und die Pensionskasse des Bundes verzichten auf eine Vernehmlassung.
D.
Das BSV führt ebenfalls Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, in Aufhebung von Dispositiv-Ziffer 1 des vorinstanzlichen Entscheides sei das kantonale Gericht anzuweisen, auf die Streitsache betreffend Freizügigkeitskonti und -policen samt Aktenherausgabe einzutreten und materiell darüber zu befinden.
Das kantonale Gericht schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. S., H. und die Pensionskasse des Bundes verzichten auf eine Vernehmlassung.
Aus den Erwägungen:
3.1.1
Gemäss
Art. 73 BVG
bezeichnet jeder Kanton als letzte kantonale Instanz ein Gericht, das über Streitigkeiten zwischen Vorsorgeeinrichtungen, Arbeitgebern und Anspruchsberechtigten entscheidet (Abs. 1 Satz 1). Die Entscheide der kantonalen Gerichte können auf dem Wege der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Eidgenössischen Versicherungsgericht angefochten werden (Abs. 4).
3.1.2
Die Zuständigkeit der in
Art. 73 BVG
genannten Gerichte ist an zwei Voraussetzungen geknüpft:
BGE 130 V 111 S. 113
Zunächst ist in sachlicher Hinsicht erforderlich, dass die Streitigkeit die berufliche Vorsorge im engeren oder weiteren Sinn beschlägt. Das ist dann der Fall, wenn die Streitigkeit spezifisch den Rechtsbereich der beruflichen Vorsorge betrifft und das Vorsorgeverhältnis zwischen einer anspruchsberechtigten Person und einer Vorsorgeeinrichtung zum Gegenstand hat. Im Wesentlichen geht es somit um Streitigkeiten betreffend Versicherungsleistungen, Freizügigkeitsleistungen (nunmehr Eintritts- und Austrittsleistungen) und Beiträge. Der Rechtsweg nach
Art. 73 BVG
steht dagegen nicht offen, wenn die Streitigkeit ihre rechtliche Grundlage nicht in der beruflichen Vorsorge hat, selbst wenn sie sich vorsorgerechtlich auswirkt.
In persönlicher Hinsicht ist die Zuständigkeit nach
Art. 73 BVG
dadurch bestimmt, dass das Gesetz den Kreis der möglichen Verfahrensbeteiligten, welche Partei eines Berufsvorsorgeprozesses nach
Art. 73 BVG
sein können, auf die Vorsorgeeinrichtungen, die Arbeitgeber und die Anspruchsberechtigten beschränkt. Was insbesondere den Begriff der Vorsorgeeinrichtung im Sinne von
Art. 73 Abs. 1 BVG
betrifft, weicht dieser nicht von der Umschreibung in
Art. 48 BVG
ab. Gemeint sind die registrierten Vorsorgeeinrichtungen, welche an der Durchführung der obligatorischen Versicherung teilnehmen (
Art. 48 Abs. 1 BVG
) und die Möglichkeit haben, die Vorsorge über die gesetzlichen Mindestleistungen hinaus zu erweitern (sog. umhüllende Vorsorgeeinrichtungen;
Art. 49 Abs. 2 BVG
) sowie die nicht registrierten Personalfürsorgestiftungen im Sinne von
Art. 89
bis
Abs. 6 ZGB
, welche im Bereich der beruflichen Vorsorge tätig sind (
BGE 128 II 389
Erw. 2.1.1,
BGE 128 V 44
Erw. 1b,
BGE 128 V 258
Erw. 2a,
BGE 127 V 35
Erw. 3b mit Hinweisen).
3.1.3
Nach der Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts (
BGE 122 V 320
; SZS 1999 S. 48,
BGE 122 V 1998
S. 122) steht der Rechtsweg nach
Art. 73 BVG
nicht offen, wenn zwischen einem Versicherten und einer Freizügigkeitseinrichtung (Bankstiftung, Versicherungseinrichtung) im Zusammenhang mit einer Freizügigkeitspolice oder einem Freizügigkeitskonto (vgl. dazu auch
Art. 10 FZV
) Streitigkeiten entstehen, wie beispielsweise über die Höhe oder den Zeitpunkt der Auszahlung.
3.2.1
Das kantonale Gericht hat für die Abgrenzung der sachlichen Zuständigkeit im Rahmen von
Art. 22 und
Art. 25a FZG
auf
BGE 130 V 111 S. 114
die erwähnte höchstrichterliche Rechtsprechung (Erw. 3.1.3 hievor) abgestellt, welche indessen unter der Herrschaft des bis 31. Dezember 1999 gültig gewesenen Scheidungsrechts ergangen ist. Mit In-Kraft-Treten des neuen Scheidungsrechts (Gesetzesänderung vom 26. Juni 1998) am 1. Januar 2000 sind die Aufteilung der Ansprüche aus der beruflichen Vorsorge unter den Ehegatten (
Art. 122 ff. ZGB
;
Art. 22-22c FZG
) und das dabei zu beachtende Verfahren (Art. 141 f. ZGB;
Art. 25a FZG
), namentlich die Zuständigkeit von Scheidungsgericht und Vorsorgegericht, neu geregelt worden.
3.2.2
Art. 122 Abs. 1 ZGB
räumt jedem Ehegatten Anspruch auf die Hälfte der nach dem Freizügigkeitsgesetz vom 17. Dezember 1993 für die Ehedauer zu ermittelnden Austrittsleistung des anderen Ehegatten ein, wenn ein Ehegatte oder beide Ehegatten einer Einrichtung der beruflichen Vorsorge angehören und bei keinem Ehegatten ein Vorsorgefall eingetreten ist. Dabei sind grundsätzlich sämtliche Ansprüche aus Vorsorgeverhältnissen zu teilen, die dem FZG unterstehen, somit auch Freizügigkeitspolicen oder Freizügigkeitskonti im Sinne von
Art. 10 FZV
(
BGE 128 V 45
Erw. 2b mit Hinweis auf BAUMANN/LAUTERBURG, in: SCHWENZER [Hrsg.], Praxiskommentar Scheidungsrecht, Basel 2000, N 45 f. zu
Art. 122 ZGB
; THOMAS GEISER, Berufliche Vorsorge im neuen Scheidungsrecht, in: HAUSHEER [Hrsg.], Vom alten zum neuen Scheidungsrecht, Bern 1999, S. 65 N 2.20; HEINZ HAUSHEER, Die wesentlichen Neuerungen des neuen Scheidungsrechts, in: ZBJV 1999 S. 12 f.; SCHNEIDER/BRUCHEZ, La prévoyance professionnelle et le divorce, in: Le nouveau droit du divorce, Lausanne 2000, S. 214 f.; SUTTER/FREIBURGHAUS, Kommentar zum neuen Scheidungsrecht, Zürich 1999, S. 195 Rz 11 f.; HERMANN WALSER, Berufliche Vorsorge, in: Das neue Scheidungsrecht, Zürich 1999, S. 52). Dies kommt auch im Wortlaut von
Art. 22 Abs. 2 FZG
zum Ausdruck, wonach bei der Ermittlung der zu teilenden Austrittsleistung auch allfällige "Freizügigkeitsguthaben" ("avoirs de libre passage"; "averi di libero passaggio") zu berücksichtigen sind (vgl. dazu auch die Botschaft des Bundesrates über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 15. November 1995, BBl 1996 I 106 unten). Von der Teilung nach
Art. 122 ZGB
werden mithin sämtliche Ansprüche aus den Säulen 2a und 2b (dazu
BGE 129 III 305
) erfasst. Nicht darunter fallen hingegen die Ansprüche aus der ersten und der dritten Säule (bundesrätliche Botschaft, a.a.O., S. 101 f.; SUTTER/FREIBURGHAUS, a.a.O., S. 179 Rz 14 f.; WALSER, Kommentar
BGE 130 V 111 S. 115
zum Schweizerischen Privatrecht [Basler Kommentar], Zivilgesetzbuch I,
Art. 1-456 ZGB
, 2. Aufl., Basel 2002, N 4 zu Art. 122).
3.2.3
Ist ein Anwendungsfall von
Art. 122 ZGB
gegeben und haben sich die Ehegatten über die Teilung der Austrittsleistungen sowie die Art der Durchführung der Teilung nicht geeinigt (vgl.
Art. 141 Abs. 1 ZGB
), so entscheidet das Scheidungsgericht gemäss
Art. 142 Abs. 1 ZGB
über das Verhältnis, in welchem die Austrittsleistungen zu teilen sind. Sobald dieser Entscheid über das Teilungsverhältnis rechtskräftig ist, überweist das Scheidungsgericht die Streitsache von Amtes wegen dem nach dem FZG zuständigen Gericht (
Art. 142 Abs. 2 ZGB
). Dementsprechend bestimmt der mit der Scheidungsrechtsrevision eingefügte
Art. 25a FZG
, dass bei Nichteinigung der Ehegatten über die zu übertragende Austrittsleistung das am Ort der Scheidung nach
Art. 73 Abs. 1 BVG
zuständige Gericht gestützt auf den vom Scheidungsgericht bestimmten Teilungsschlüssel die Teilung von Amtes wegen durchzuführen hat, nachdem ihm die Streitsache überwiesen worden ist (Abs. 1). Die Ehegatten und die Einrichtungen der beruflichen Vorsorge haben in diesem Verfahren Parteistellung. Das Gericht setzt ihnen eine angemessene Frist, um Anträge zu stellen (Abs. 2).
3.3
Für die unter
Art. 122 ZGB
fallenden und im Rahmen der Ehescheidung zu teilenden Austrittsleistungen der beruflichen Vorsorge hat der Gesetzgeber mit der Einführung des neuen Scheidungsrechts in den Art. 141/142 ZGB und
Art. 25a FZG
das Scheidungsverfahren mit den Verfahren über Ansprüche aus der beruflichen Vorsorge koordiniert und auf eine neue Grundlage gestellt (bundesrätliche Botschaft, a.a.O., S. 111 oben). Namentlich wollte er in diese Koordination nicht nur die Vorsorgeeinrichtungen, sondern auch die Freizügigkeitseinrichtungen miteinbeziehen. Aus diesem Grund hat er in den Art. 141/142 ZGB und
Art. 25a Abs. 2 FZG
bewusst den Terminus "Einrichtungen der beruflichen Vorsorge" ("institutions de prévoyance professionnelle"; "istituti di previdenza professionale") gewählt und nicht etwa die in
Art. 48 ff. BVG
enthaltene Wendung "Vorsorgeeinrichtungen" (bundesrätliche Botschaft, a.a.O., S. 103 oben; SUTTER/FREIBURGHAUS, a.a.O., S. 195 Rz 12). Angesichts der gesetzgeberischen Koordinationsbestrebungen macht es denn auch keinen Sinn, das im Falle von
Art. 142 ZGB
einzuschlagende Verfahren seinerseits wieder zu splitten, je nachdem ob eine Vorsorgeeinrichtung oder eine Freizügigkeitseinrichtung (Lebensversicherungs-Gesellschaft oder Bank) für
BGE 130 V 111 S. 116
eine der Scheidungsparteien ein Vorsorgekonto oder eine Freizügigkeitspolice führt. Die von der Vorinstanz vertretene Auffassung widerspricht nicht nur der Verfahrensökonomie, sondern auch dem in
Art. 122 Abs. 2 ZGB
enthaltenen Grundsatz, wonach bei gegenseitigen Ansprüchen auf Austrittsleistung nur der Differenzbetrag zu teilen ist (
BGE 129 V 251
). Im Schrifttum wird denn auch überwiegend die Zuständigkeit des Sozialversicherungsgerichts für sämtliche zu teilenden Austrittsleistungen der beruflichen Vorsorge bejaht (SCHNEIDER/BRUCHEZ, a.a.O., S. 215, insbesondere Fn 96, S. 253; SUTTER/FREIBURGHAUS, a.a.O., S. 195 Rz 12; VETTERLI/ KEEL, Die Aufteilung der beruflichen Vorsorge in der Scheidung, in: AJP 1999 S. 1625 f.). Eine andere Vorgehensweise läuft nicht nur der Prozessökonomie zuwider, sondern wäre unpraktikabel und praktisch überhaupt nicht durchführbar. VETTERLI/KEEL (a.a.O., S. 1626) halten eine Gabelung des Rechtswegs denn auch zu Recht für "undenkbar". Andernfalls müssten sich nicht nur das Scheidungsgericht und das Sozialversicherungsgericht mit der Aufgabe der Teilung der Austrittsleistungen bei Ehescheidung befassen, sondern zusätzlich noch ein anderes Zivilgericht, mit welchem das Sozialversicherungsgericht sein Verfahren und Urteil abstimmen müsste. Neben der Zweiteilung des Verfahrens zwischen dem Scheidungsgericht und dem Sozialversicherungsgericht hat der Gesetzgeber nicht noch eine weitere Gabelung und Zersplitterung der richterlichen Zuständigkeit für die Teilung der Austrittsleistungen gewollt oder in Kauf genommen (bundesrätliche Botschaft, a.a.O., S. 111 und Amtl.Bull.1996 S 769 [Votum Berichterstatterin Beerli] sprechen denn auch von einer "Zweiteilung des Verfahrens").
3.4
Demnach hat der Gesetzgeber mit
Art. 25a FZG
für die Teilung der Austrittsleistungen (samt Freizügigkeitsguthaben) die sachliche Zuständigkeit der Sozialversicherungsgerichte auch hinsichtlich der Freizügigkeitspolicen und Freizügigkeitskonti umfassend geregelt und auf alle Einrichtungen der beruflichen Vorsorge ausgedehnt. Dies übersehen das kantonale Gericht und die von ihm in der Vernehmlassung zitierten Äusserungen im Schrifttum (BAUMANN/ LAUTERBURG, a.a.O., N 7 ff. Vorbemerkungen zu Art. 141/ 142 ZGB; CHRISTIAN ZÜND, Besonderheiten des Verfahrens vor Sozialversicherungsgericht [u.a.
Art. 142 ZGB
], in: Aktuelles im Sozialversicherungsrecht, Zürich 2001, S. 170 f.), welche sich zudem zu sehr an die bisherige Rechtsprechung (Erw. 3.1.3 hievor) anlehnen. Daran ändert auch der Hinweis auf die erste BVG-Revision nichts,
BGE 130 V 111 S. 117
wonach die Zuständigkeit gemäss
Art. 73 Abs. 1 lit. a BVG
(in der Fassung vom 3. Oktober 2003) explizit auf Freizügigkeitseinrichtungen, die Freizügigkeitspolicen oder Freizügigkeitskonti führen, ausgedehnt worden ist (dazu ERIKA SCHNYDER, La première révision de la LPP, in: Les assurances sociales en révision, Lausanne 2002, S. 74 f.). Die hier zu beurteilende Konstellation der Teilung der Austrittsleistungen im Scheidungsfall betrifft lediglich einen Anwendungsfall von möglichen Streitigkeiten, die sich mit Freizügigkeitseinrichtungen ergeben können. Wesentlich ist, dass der (Scheidungs-)Gesetzgeber für die bei Ehescheidung zu teilenden Ansprüche aus der beruflichen Vorsorge in
Art. 25a FZG
bereits eine Regelung getroffen hat.