BGE 130 V 284 vom 29. März 2004

Datum: 29. März 2004

Artikelreferenzen:  Art. 6 Abs. 1 lit. a KLV, Art. 25 Abs. 1 KVG, Art. 46 Abs. 1 lit. b KVV, Art. 6 Abs. 1 KLV, Art. 6 Abs. 1 lit. b KLV

BGE referenzen:  130 V 288 , 124 V 121

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

130 V 284


41. Auszug aus dem Urteil i.S. CSS Kranken-Versicherung AG gegen W. (K 35/02) und W. gegen CSS Kranken- Versicherung AG (K 36/02) und Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
K 35/02 und K 36/02 vom 29. März 2004

Regeste

Art. 6 Abs. 1 lit. a KLV : Ergotherapie.
Eine Ergotherapie bei Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen (F82, ICD-10) stellt nur dann eine Pflichtleistung der Krankenversicherer dar, wenn eine schwerwiegende Störung vorliegt, welche somatische Auswirkungen hat, die das betroffene Kind in seinem Alltagsleben erheblich beeinträchtigen (Erw. 5).

Erwägungen ab Seite 284

BGE 130 V 284 S. 284
Aus den Erwägungen:

2. Streitig und zu prüfen ist, ob die CSS Kranken-Versicherung AG (nachfolgend: CSS) die Kosten der Ergotherapie des Versicherten von Januar 2000 bis Januar 2001 zu übernehmen hat.

2.1 Die Vorinstanz bejahte die Voraussetzungen von Art. 6 Abs. 1 lit. a KLV , indem sie sich auf ein von einer interdisziplinären
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Konsenskonferenz von Ärzten und Versicherern entwickeltes Erfassungsblatt (Scoreblatt) abstützte, gemäss welchem Dr. med. H. am 27. November 2001 den Störungen bis Juli 2000 Krankheitswert zusprach.

2.2 Die CSS vertritt die Ansicht, die blosse Tatsache, dass ein Arzt eine Therapie verordne, führe noch nicht zur Leistungspflicht der Krankenkasse. Erforderlich sei das Vorliegen einer Krankheit im Rechtssinne. Die Störungen des Versicherten beträfen durchwegs die Schule und seien pädagogisch, nicht aber medizinisch zu behandeln. Die notwendigen Förderungsmassnahmen gingen nicht zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung.

2.3 Dem hält der Versicherte entgegen, die Störungen würden ihn auch im Alltag behindern. Es handle sich um erhebliche Beeinträchtigungen der Gesundheit. Ihnen komme auch über den von der Vorinstanz genannten Zeitpunkt hinaus Krankheitswert zu.

3. Die obligatorische Krankenpflegeversicherung übernimmt die Kosten für Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen dienen ( Art. 25 Abs. 1 KVG ). Diese Leistungen umfassen unter anderem die Behandlungen, die ambulant von Personen durchgeführt werden, welche auf Anordnung oder im Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin Leistungen erbringen (Art. 25 Abs. 2 lit. a Ziff. 3 KVG). Zu diesen Personen, welche auf ärztliche Anordnung hin und in selbstständiger Weise sowie auf eigene Rechnung Leistungen erbringen, gehören unter anderem Ergotherapeuten und Ergotherapeutinnen ( Art. 46 Abs. 1 lit. b KVV ). Gemäss Art. 6 Abs. 1 KLV übernimmt die obligatorische Krankenpflegeversicherung die Kosten der Leistungen, die auf ärztliche Anordnung hin von Ergotherapeuten und Ergotherapeutinnen erbracht werden, soweit sie der versicherten Person bei somatischen Erkrankungen durch Verbesserung der körperlichen Funktionen zur Selbstständigkeit in den alltäglichen Lebensverrichtungen verhelfen (lit. a) oder im Rahmen einer psychiatrischen Behandlung durchgeführt werden (lit. b). Die KLV umschreibt somit nicht die einzelnen zu vergütenden Leistungen in der Ergotherapie, sondern beschränkt sich auf die Formulierung des Ziels (vgl. BARBARA HÜRLIMANN et al., Krankenversicherung, ein Ratgeber aus der Beobachter-Praxis, Zürich 1998, S. 163). Allgemein gilt im Krankenversicherungsrecht, dass es sich beim Begriff Krankheit um einen Rechtsbegriff handelt, welcher sich nicht notwendigerweise mit dem medizinischen Krankheitsbegriff deckt ( BGE 124 V 121 Erw. 3b mit Hinweisen).
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Demnach ist es letztlich Aufgabe des Sozialversicherungsgerichts, über die Leistungspflicht der Krankenversicherer zu entscheiden.

4. Nachdem vorliegend weder eine psychiatrische Behandlung des Versicherten erfolgte noch empfohlen wurde, fällt die Übernahme der Kosten der Ergotherapie gestützt auf Art. 6 Abs. 1 lit. b KLV von vornherein ausser Betracht.

5. Zu prüfen bleibt, ob allenfalls eine somatische Erkrankung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 lit. a KLV vorliegt.

5.1

5.1.1 Ausgangslage ist die Diagnose einer "Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen" (F82, ICD-10). Diese wird gemäss der internationalen Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation bei den psychischen Störungen eingeordnet (ICD-10, Kapitel V) und umfasst als Hauptmerkmal eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Entwicklung der motorischen Koordination, die nicht allein durch eine Intelligenzverminderung oder eine umschriebene angeborene oder erworbene neurologische Störung erklärbar ist; üblicherweise ist die motorische Ungeschicklichkeit verbunden mit einem gewissen Grad von Leistungsbeeinträchtigungen bei visuell-räumlichen Aufgaben (Weltgesundheitsorganisation [WHO], Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10 Kapitel V [F], Klinisch-diagnostische Leitlinien, 4. Aufl., Bern 2000, S. 279 ff.; vgl. auch A. WARNKE, Entwicklungsstörungen, in: MÖLLER/LAUX/KAPFHAMMER [Hrsg.], Psychiatrie und Psychotherapie, Berlin 2000, S. 1603 ff.).

5.1.2 Diese motorischen Störungen sind bei Kindern häufig. Sie behindern diese im Alltag und insbesondere in der Schule. Leichten derartigen Entwicklungsstörungen wird in der Regel durch Massnahmen wie Förderunterricht in kleinen Gruppen, Besuch einer Einführungsklasse, gezielte Freizeitaktivitäten wie Judo oder Karate etc. begegnet. Diese stellen pädagogische Massnahmen dar, da sie auf eine Erziehung im Sinne einer günstigen Beeinflussung des Verhaltens und der anlagemässig gegebenen Möglichkeiten zielen (GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, Rz 84 FN 176). Somit fallen sie - im Gegensatz zu medizinischen Massnahmen - nicht unter die Leistungspflicht der Krankenversicherer (vgl. bezüglich der mit den motorischen Störungen verwandten Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten [F81, ICD-10] EUGSTER, a.a.O., Rz 84).
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5.1.3 Eine Behandlung dieser motorischen Störungen kann auch im Rahmen einer Ergotherapie erfolgen.
Bei einer Ergotherapie werden im Allgemeinen alltägliche Lebensverrichtungen wie Essen, Waschen, Ankleiden, Schreiben oder der Umgang mit anderen Menschen geübt; daraus erhellt, dass sich Ergotherapie im Rahmen der Krankenversicherung vor allem auf die Rehabilitation nach einer schweren Krankheit oder einem schweren Unfall bezieht und die weitestmögliche Selbstständigkeit im täglichen Leben sowie im Beruf bezweckt (HÜRLIMANN, a.a.O., S. 163 f.; vgl. auch Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 259. Aufl., Berlin 2002, S. 477). Demnach ist eine ergotherapeutische Behandlung einer leichten Entwicklungsstörung, welche vornehmlich mit pädagogischen Mitteln arbeitet, atypisch und eine restriktive Unterstellung unter Art. 6 Abs. 1 lit. a KLV folgerichtig. Ist hingegen eine schwerwiegende Störung gegeben, welche somatische Auswirkungen hat, die das betroffene Kind in seinem Alltagsleben erheblich beeinträchtigen, ist eine somatische Erkrankung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 lit. a KLV und somit die Kostenpflicht der Krankenversicherer zu bejahen.
(...)

5.3 [Aus keinem der ärztlichen und psychologischen Berichte ergibt sich], dass der Versicherte im hier massgeblichen Zeitpunkt (Herbst 1999) unter einer schwerwiegenden Störung litt, die ihn in seinen alltäglichen Verrichtungen erheblich beeinträchtigte und somit den Begriff der somatischen Erkrankung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 lit. a KLV erfüllt. Dabei ist unbeachtlich, dass nach Ansicht des Dr. med. H. gestützt auf das Scoreblatt eine Behandlungsbedürftigkeit ausgewiesen ist (Bericht vom 1. November 2001, im Auftrag des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau verfasst). Denn einerseits handelt es sich bei diesem Scoreblatt um ein im Rahmen einer interdisziplinären Konsenskonferenz von Ärzten und Versicherern ausgearbeitetes Erfassungsblatt zur Beurteilung der Behandlungsbedürftigkeit (vgl. Schweizerische Ärztezeitung 2001 S. 1793 ff.), welches bei den einzelnen Beurteilungskriterien einen erheblichen Ermessensspielraum der medizinischen Fachperson zulässt und somit lediglich ein Hilfsmittel zur Beantwortung der Frage der Leistungspflicht darstellt. Andererseits hält Dr. med. H. in seinem Bericht nur eine leichte motorische Dysfunktion sowie eine leichte Dyspraxie fest, womit selbst unter Berücksichtigung der
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attestierten Fortschritte bei Aufnahme der Ergotherapie keine somatische Erkrankung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 lit. a KLV vorlag.

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