Urteilskopf
130 V 35
4. Urteil i.S. K. gegen Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft und Verwaltungsgericht des Kantons Bern
U 51/03 vom 29. Oktober 2003
Regeste
Art. 3 Abs. 2 und
Art. 16 Abs. 1 UVG
: Taggeldanspruch einer vorzeitig pensionierten Person .
Der vorzeitig pensionierte Versicherte, der während der Nachdeckungsfrist des
Art. 3 Abs. 2 UVG
einen Unfall erleidet, hat mangels eines Erwerbsausfalls keinen Anspruch auf Taggelder der Unfallversicherung.
A.
K., geb. 1934, arbeitete als Dozent an der Ingenieurschule X. und war damit bei der Berner Allgemeinen Versicherungs-Gesellschaft (nunmehr Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft; im Folgenden: Allianz) obligatorisch gegen Unfälle versichert. Auf den 1. November 1995 liess er sich vorzeitig pensionieren. Am 9. November 1995 erlitt er bei einer Auffahrkollision ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule. Die Allianz übernahm die Heilbehandlung, da der Unfall sich in der Nachdeckungsfrist ereignet hatte. Mit Verfügung vom 23. April 1999 lehnte die Versicherungs-Gesellschaft das Gesuch von K. um Ausrichtung von Taggeldleistungen ab, weil im Zusammenhang mit dem Unfall vom 9. November 1995 kein Verdienstausfall entstanden sei. Auf Einsprache hin hielt die Allianz mit Entscheid vom 7. Juli 1999 an ihrem Standpunkt fest.
BGE 130 V 35 S. 36
B.
K. liess Beschwerde führen mit dem Antrag, die Allianz sei zu verpflichten, ihm rückwirkend ab 12. November 1995 Taggelder zu bezahlen. Mit Entscheid vom 22. Januar 2003 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern die Beschwerde ab.
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt K. das vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren erneuern.
Während die Allianz auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
(Keine Anwendbarkeit des auf den 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG] vom 6. Oktober 2000; vgl.
BGE 129 V 4
Erw. 1.2)
2.
Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer, der auf den 1. November 1995 vorzeitig pensioniert wurde, für die Folgen des während der 30-tägigen Nachdeckungsfrist nach
Art. 3 Abs. 2 UVG
am 9. November 1995 erlittenen Unfalls Taggelder nach UVG beanspruchen kann. Während die Vorinstanz dies mit der Begründung, dass der Versicherte als vorzeitig Pensionierter keinen Erwerbsausfall erlitten habe, verneint hat, wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde im Wesentlichen unter Hinweis auf den Wortlaut von
Art. 16 UVG
sowie die gesetzlichen Grundlagen für die Bemessung der Taggelder geltend gemacht, der Taggeldanspruch setze keine Verdiensteinbusse voraus.
3.1
Gemäss
Art. 16 Abs. 1 UVG
hat der Versicherte, der infolge des Unfalls voll oder teilweise arbeitsunfähig ist, Anspruch auf ein Taggeld. Der Anspruch auf Taggeld entsteht am dritten Tag nach dem Unfalltag. Er erlischt mit der Wiedererlangung der vollen Arbeitsfähigkeit, mit dem Beginn einer Rente oder mit dem Tod des Versicherten (
Art. 16 Abs. 2 UVG
). Als arbeitsunfähig im Sinne von
Art. 16 Abs. 1 UVG
gilt eine Person, die infolge des Gesundheitsschadens ihre bisherige Tätigkeit nicht mehr, nur noch beschränkt oder nur unter der Gefahr, ihren Gesundheitszustand zu verschlimmern, ausüben kann (
BGE 129 V 53
Erw. 1.1,
BGE 114 V 283
Erw. 1c; RKUV 1987 Nr. U 27 S. 394 Erw. 2b). Diese Definition gilt in allen Zweigen der Sozialversicherung (PETER OMLIN, Die
BGE 130 V 35 S. 37
Invalidität in der obligatorischen Unfallversicherung, Diss. Freiburg, 2. Aufl. 1999, S. 67; FRÉSARD, L'assurance-accidents obligatoire, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, Rz 69).
3.2
In
BGE 114 V 285
Erw. 3b hat das Eidgenössische Versicherungsgericht hinsichtlich des versicherten Krankengeldes, welches das gesetzliche (
Art. 12
bis
Abs. 1 KUVG
in der bis Ende 1995 gültig gewesenen Fassung) oder statutarische Minimum übersteigt, dargelegt, die Krankengeldversicherung bezwecke in der Regel, dem Versicherten ganz oder teilweise Ersatz für den Erwerbsausfall zu bieten, der infolge krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit im zuletzt ausgeübten Beruf entsteht. Weiter stellte es fest, dass das KUVG keinen Hinweis enthalte, wonach bei erwerbstätigen Versicherten ein bestimmter krankheitsbedingter Erwerbsausfall Anspruchsvoraussetzung sei. Dennoch könne kein Zweifel daran bestehen, dass die nach
Art. 12
bis
Abs. 1 KUVG
anspruchsbegründende vollständige Arbeitsunfähigkeit erwerbstätiger Versicherter gleichbedeutend sei mit vollständigem krankheitsbedingtem Erwerbsausfall im bisher ausgeübten Beruf. Hälftige Arbeitsunfähigkeit wiederum, die (reglementarisch) Anspruch auf ein entsprechend reduziertes Krankengeld gibt, sei auf der Schadenseite in der Regel mit einer Verdiensteinbusse von 50% gleichzusetzen (
BGE 114 V 286
Erw. 3c).
3.3
Diese an den Schaden anknüpfende Rechtsprechung ist analog auch im Rahmen von
Art. 16 UVG
anwendbar, da der Begriff der Arbeitsunfähigkeit, die einen Taggeldanspruch begründet, in allen Sozialversicherungszweigen identisch ist (Erw. 3.1 hievor). Demnach setzt der Taggeldanspruch eine durch das versicherte Ereignis (Krankheit, Unfall) verursachte Einschränkung der Arbeitsfähigkeit mit entsprechender Verdiensteinbusse voraus. Bereits in der Botschaft zum Bundesgesetz über die Unfallversicherung vom 18. August 1976 (BBl 1976 III 167) ging der Bundesrat denn auch davon aus, dass mit den Taggeldern eine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit und ein entsprechender Erwerbsausfall entschädigt wird. Ebenso wird in der Literatur einhellig die Auffassung vertreten, dass mit dem Taggeld die aus der Arbeitsunfähigkeit resultierende Erwerbseinbusse kompensiert werden soll (MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, Bern 1985, S. 321; FRÉSARD, a.a.O., Rz 69). Laut JÜRG MAESCHI (Kommentar zum Bundesgesetz über die Militärversicherung [MVG] vom 19. Juni 1992, Bern 2000,
BGE 130 V 35 S. 38
N 8 zu Art. 28) stellt das Vorliegen eines wirtschaftlichen Schadens bei Erwerbstätigen eine selbstverständliche Anspruchsvoraussetzung für den Taggeldanspruch dar, auch wenn
Art. 28 MVG
(wie im Übrigen auch
Art. 16 UVG
) nicht ausdrücklich voraussetzt, dass der Versicherte eine Verdiensteinbusse erleidet. Versicherte, die zwar (medizinisch-theoretisch) in der Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt sind, jedoch keine Verdiensteinbusse erleiden, sind nicht anspruchsberechtigt.
3.4
Auf Grund dieser, der ratio legis und dem Willen des historischen Gesetzgebers entsprechenden sowie der Regelung in der Kranken- und der Militärversicherung Rechnung tragenden Auslegung von
Art. 16 Abs. 1 UVG
(zur Auslegung des Gesetzes siehe
BGE 129 II 118
Erw. 3.1,
BGE 129 V 103
Erw. 3.2, je mit Hinweisen) ist der Anspruch des Beschwerdeführers auf Taggelder mit dem kantonalen Gericht zu verneinen, da er sich auf den 1. November 1995 vorzeitig pensionieren liess und wegen der Folgen der Auffahrkollision vom 9. November 1995 unbestrittenermassen keine Verdiensteinbusse erlitt.
3.5
Der Wortlaut von
Art. 16 Abs. 1 UVG
steht diesem Ergebnis nicht entgegen, da diese Bestimmung keineswegs ungeachtet einer Erwerbseinbusse einen Anspruch auf Taggeld einräumt, sondern - wie analoge Bestimmungen in anderen Sozialversicherungszweigen (
Art. 72 Abs. 2 Satz 1 KVG
;
Art. 28 Abs. 1 MVG
) - lediglich ein Anspruchserfordernis (Verdienstausfall), das im Lichte der vorstehenden Erwägungen als selbstverständlich und begriffsinhärent gilt, nicht ausdrücklich erwähnt.
3.6
Die weiteren in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgebrachten Einwendungen sind, soweit erheblich, ebenfalls nicht geeignet, zu einem abweichenden Resultat zu führen. Soweit sich der Versicherte darauf beruft, dass das Taggeld in der Unfallversicherung nach der abstrakten Methode (MAURER, a.a.O., S. 321), d.h. nach Massgabe des vor dem Unfall erzielten (
Art. 17 Abs. 1 UVG
und
Art. 22 Abs. 3 UVV
), und nicht auf der Grundlage des entgangenen Verdienstes berechnet wird, verkennt er, dass es sich dabei um eine Bemessungsregel handelt. Diese gelangt erst zur Anwendung, wenn die Anspruchsvoraussetzungen für das Taggeld im Sinne von
Art. 16 Abs. 1 UVG
erfüllt sind. Ob sodann bei der Abredeversicherung nach
Art. 3 Abs. 3 UVG
ein Anspruch auf Taggeld unabhängig vom Vorliegen eines Erwerbsausfalls besteht,
BGE 130 V 35 S. 39
ist hier nicht zu prüfen, da der Beschwerdeführer jedenfalls keine solche Versicherung abgeschlossen hat.