Urteilskopf
130 V 407
61. Urteil i.S. N. gegen 1. Amt für Zusatzleistungen zur AHV/IV, Zürich, 2. Bezirksrat Zürich, und Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
P 22/04 vom 13. Juli 2004
Regeste
Art. 9b ELG
,
Art. 97 AHVG
und
Art. 54 Abs. 1 lit. c und Abs. 2 ATSG
;
Art. 97 Abs. 2 und 4 lit. b AHVG
(je in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung);
Art. 27 Abs. 1 ELV
und
Art. 47 Abs. 1 AHVG
(je in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung),
Art. 25 Abs. 1 ATSG
;
Art. 49, 52 und 56 ATSG
: Aufschiebende Wirkung.
Einsprachen gegen Verfügungen und Beschwerden gegen Einspracheentscheide über die Rückerstattung unrechtmässig bezogener Ergänzungsleistungen kommt von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung zu (Erw. 3).
Aus den Erwägungen:
2.2.1
In dem vor dem kantonalen Gericht hängigen Verfahren geht es um die Rückerstattung unrechtmässig bezogener Ergänzungsleistungen gemäss Beschluss des Bezirksrates Zürich vom 26. Juni 2003. Der Entzug der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde gegen diesen Entscheid kann nur dann einen drohenden, nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von
Art. 45 Abs. 1 VwVG
darstellen, wenn mit der Bestätigung der Anordnung die Rückforderung sofort vollstreckbar wird, allenfalls in Form der Verrechnung mit fälligen Rentenleistungen der Invaliden- und der Unfallversicherung. Diese Rechtsfolge kann indes nur eintreten, wenn der Entzug des Suspensiveffektes ordentlicher Rechtsmittel gegen Verfügungen oder Einspracheentscheide über die Rückerstattung unrechtmässig bezogener Ergänzungsleistungen grundsätzlich zulässig ist.
BGE 130 V 407 S. 409
2.2.2
Das Eidgenössische Versicherungsgericht hatte bisher noch nie zu entscheiden, ob Beschwerden gegen Verfügungen über die Rückforderung sozialversicherungsrechtlicher (Geld-)Leistungen oder deren Erlass die aufschiebende Wirkung entzogen werden kann. Im Urteil G. vom 20. Juni 2001 (I 259/01) betreffend die Verpflichtung zur Rückerstattung von Rentenleistungen war zwar die IV-Stelle in diesem Sinne vorgegangen. Das kantonale Gericht entschied indessen unverzüglich in der Sache und erklärte das Begehren um Wiederherstellung des Suspensiveffektes für obsolet. Das gleiche Gesuch in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde bezeichnete das Eidgenössische Versicherungsgericht unter Hinweis auf
Art. 111 Abs. 1 OG
als gegenstandslos. In SVR 2001 IV Nr. 30 S. 93 hatte eine andere IV-Stelle ebenfalls einer allfälligen Beschwerde gegen die verfügte Rückforderung von Rentenleistungen die aufschiebende Wirkung entzogen. Sie erklärte sich indessen mit der vom Versicherten beantragten Wiederherstellung des Suspensiveffektes für die Dauer des erstinstanzlichen Beschwerdeverfahrens einverstanden. Dem Begehren der IV-Stelle unter Hinweis auf
Art. 97 Abs. 2 AHVG
in Verbindung mit
Art. 81 IVG
im letztinstanzlichen Verfahren, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung (wieder) zu entziehen, gab das Eidgenössische Versicherungsgericht keine Folge. Es führte aus, unter den gegebenen Umständen könne sich lediglich die Frage stellen, ob der Verwaltungsgerichtsbeschwerde die aufschiebende Wirkung entzogen werden könne. Das sei wegen
Art. 111 Abs. 1 OG
zu verneinen. Hieran ändere nichts, dass die IV-Stelle im kantonalen Beschwerdeverfahren beantragt habe, bei Abweisung der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung wieder zu entziehen. Zu einer entsprechenden Anordnung wäre die Vorinstanz gar nicht befugt gewesen (Erw. 1b).
2.2.3
Eintreten ist somit ohne weiteres insofern gegeben, als zu prüfen ist, ob der Entzug der aufschiebenden Wirkung von Beschwerden gegen Verfügungen oder Einspracheentscheide über die Rückerstattung unrechtmässig bezogener Ergänzungsleistungen grundsätzlich zulässig ist.
3.1.1
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) in Kraft getreten. Dieses Gesetz koordiniert das Sozialversicherungsrecht des Bundes, indem es unter anderm ein
BGE 130 V 407 S. 410
einheitliches Sozialversicherungsverfahren festlegt und die Rechtspflege regelt (Art. 1 Ingress und lit. b ATSG). Seine Bestimmungen sind auf die bundesgesetzlich geregelten Sozialversicherungen anwendbar, wenn und soweit die einzelnen Sozialversicherungsgesetze es vorsehen (
Art. 2 ATSG
).
Nach
Art. 1 Abs. 1 ELG
sind die Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) auf die Leistungen der Kantone nach dem 1a. Abschnitt (Art. 1a-9b) anwendbar, soweit das vorliegende Gesetz nicht ausdrücklich eine Abweichung vom ATSG vorsieht.
3.1.2
Im Zusammenhang mit der Frage der aufschiebenden Wirkung von Einsprachen gegen Verfügungen und Beschwerden gegen Einspracheentscheide (
Art. 49 ff. und
Art. 56 ATSG
) im Anwendungsbereich von
Art. 1 Abs. 1 ELG
gilt folgende Regelung:
Gemäss
Art. 9b ELG
ist Artikel 97 AHVG sinngemäss anwendbar. Nach dieser Bestimmung kann die Ausgleichskasse in ihrer Verfügung einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung entziehen, auch wenn die Verfügung auf eine Geldleistung gerichtet ist; im Übrigen gilt Artikel 55 Absätze 2-4 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 20. Dezember 1968. Im Weitern sind Verfügungen und Einspracheentscheide unter anderm vollstreckbar, wenn einer Einsprache oder Beschwerde die aufschiebende Wirkung entzogen wird. Vollstreckbare Verfügungen und Einspracheentscheide, die auf Geldzahlung oder Sicherheitsleistung gerichtet sind, stehen vollstreckbaren Urteilen im Sinne von Artikel 80 des Bundesgesetzes vom 11. April 1889 über Schuldbetreibung und Konkurs gleich (
Art. 54 Abs. 1 lit. c und Abs. 2 ATSG
).
Diese Ordnung übernimmt inhaltlich unverändert die bis 31. Dezember 2002 in Kraft gestandene Regelung gemäss alt
Art. 97 Abs. 2 und 4 lit. b AHVG
(vgl. UELI KIESER, ATSG-Kommentar: Kommentar zum Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000, Zürich 2003, S. 545 und 548 N 6 und 16 zu Art. 54 sowie S. 562 ff. und S. 605 f. mit Hinweisen auf die Materialien).
3.2
Das kantonale Gericht hat in Anwendung der Rechtsprechung zu alt
Art. 97 Abs. 2 AHVG
(vgl.
BGE 117 V 191
Erw. 2b mit Hinweisen), insbesondere bei Verfügungen über die Herabsetzung oder Aufhebung von Renten der Invalidenversicherung (
BGE 105 V 269
Erw. 3 und AHI 2000 S. 185 Erw. 5), das Begehren um
BGE 130 V 407 S. 411
Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde gegen den bezirksrätlichen Beschluss vom 26. Juni 2003 abgewiesen. In Abwägung der jeweiligen Interessen hat die Vorinstanz erwogen, auf Grund der Akten stehe nicht fest, dass die EL-Bezügerin im Hauptverfahren obsiegen werde. In Anbetracht, dass die Rückerstattungsforderung möglicherweise nicht einbringlich sein werde, sei das Interesse der Verwaltung an der einstweiligen Sicherstellung dieses Betrages höher zu gewichten als das gegenteilige Interesse der Beschwerdeführerin, zumal diese nicht konkret geltend mache, dadurch in eine Notlage zu geraten. Zu keiner anderen Betrachtungsweise Anlass gäbe, wenn und soweit der zurückgeforderte Betrag der Sicherstellung von Anwaltskosten diene.
3.3
Verfügungen sind im Sinne von alt
Art. 97 Abs. 2 AHVG
resp.
Art. 97 AHVG
auf eine Geldleistung gerichtet ("porte sur une prestation pécuniaire", "riguarda prestazioni in denaro"), wenn sie den Adressaten oder die Adressatin zu einer vermögensrechtlichen Leistung verpflichten (
BGE 110 V 43
Erw. 3a mit Hinweisen; ZAK 1989 S. 595 f. Erw. 1a). Unter diese mit dem Wortsinn übereinstimmende begriffliche Umschreibung fallen insbesondere Verfügungen über die Rückerstattung unrechtmässig bezogener Ergänzungsleistungen (
Art. 27 Abs. 1 ELV
in Verbindung mit
Art. 47 Abs. 1 AHVG
, in Kraft gestanden bis 31. Dezember 2002, sowie
Art. 25 Abs. 1 ATSG
in Verbindung mit
Art. 1 Abs. 1 ELG
). Allfälligen Beschwerden gegen solche Verwaltungsakte kann somit grundsätzlich die aufschiebende Wirkung entzogen werden. Es stellt sich indessen die Frage, ob diese Auslegung dem Rechtssinn des
Art. 97 AHVG
entspricht, wie er sich aus der Entstehungsgeschichte von alt
Art. 97 Abs. 2 AHVG
, aus dessen Grund und Zweck und aus dem Zusammenhang mit andern Vorschriften ergibt (
BGE 130 V 50
Erw. 3.2.1 mit Hinweisen; vgl. auch
BGE 129 V 296
Erw. 3.2.2).
3.3.1
Art. 97 AHVG
wurde anlässlich der neunten Revision der Alters- und Hinterlassenenversicherung neu gefasst. In seiner Botschaft vom 7. Juli 1976 (BBl 1976 III 1 ff.) führte der Bundesrat unter anderm Folgendes aus:
"Nach geltendem Recht geniessen Beschwerden gegen die Verfügungen der Ausgleichskassen, die auf eine Geldleistung gerichtet sind, aufschiebende Wirkung (
Art. 1 Abs. 3 VwVG
i.V.m.
Art. 55 Abs. 2 VwVG
). Das erlaubt dem Selbständigerwerbenden und dem Arbeitgeber, durch die Erhebung der Beschwerde gegen eine Beitrags- oder eine Veranlagungsverfügung die Vollstreckung der Beitragsforderung hinauszuzögern. Um dies zu verhindern und einen ordnungsgemässen Bezug der Beiträge zu
BGE 130 V 407 S. 412
ermöglichen, soll durch die Änderung von Artikel 97 AHVG den Ausgleichskassen die Befugnis eingeräumt werden, einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu entziehen.
(...)
Die Möglichkeit, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu entziehen, ist auch für den Bereich der Renten bedeutsam. Wird etwa auf dem Weg der Revision die weitere Gewährung einer Rente verweigert und erhebt der Versicherte gegen die entsprechende Verfügung Beschwerde, so müsste der aufschiebenden Wirkung wegen die Rente weiter ausgerichtet werden. Würde die Verfügung der Ausgleichskasse nachträglich von den rechtsprechenden Behörden geschützt, so wäre die Ausgleichskasse gezwungen, die zu Unrecht entrichteten Rentenbeträge zurückzufordern." (BBl 1976 III 66 f.).
Die vom Bundesrat vorgeschlagene Änderung des
Art. 97 AHVG
passierte die parlamentarische Beratung diskussionslos (Sten.Bull. 1977 N 323 und S 264).
Diese Entstehungsgeschichte zeigt, dass mit alt
Art. 97 Abs. 2 und 4 lit. b AHVG
die gesetzliche Grundlage dafür geschaffen werden sollte, dass einerseits Beitragsforderungen vollstreckt werden können, bevor darüber rechtskräftig entschieden ist, und anderseits bei Herabsetzung oder Aufhebung einer Rente nicht bis zum Abschluss eines allfälligen Beschwerdeverfahrens weiter Leistungen ausgerichtet werden müssen. Es bestehen keine Anhaltspunkte in den Materialien, dass der Gesetzgeber auch die Rückforderung von zu Unrecht ausgerichteten Leistungen (Renten und Hilflosenentschädigung) mit erfasst haben wollte.
3.3.2
Gegen die Anwendbarkeit von alt
Art. 97 Abs. 2 AHVG
resp.
Art. 97 AHVG
auf Verfügungen über die Rückerstattung unrechtmässig bezogener Ergänzungsleistungen spricht unter gesetzessystematischem Gesichtswinkel weiter die Möglichkeit des Erlasses der Rückforderung nach alt
Art. 47 Abs. 1 Satz 2 AHVG
in Verbindung mit alt
Art. 27 Abs. 1 ELV
und
Art. 25 Abs. 1 Satz 2 ATSG
. Es erscheint zumindest bei EL-Bezügern, die weder Vermögen noch Erwerbseinkommen haben, wenig sinnvoll, vor dem rechtskräftigen Entscheid der Erlassfrage die Rückforderung zu vollstrecken (vgl. auch
Art. 3 Abs. 3 ATSV
, wonach der Versicherer den Verzicht auf die Rückforderung zu verfügen hat, wenn offensichtlich ist, dass die Voraussetzungen für den Erlass gegeben sind). Es liesse sich sogar fragen, ob die gesetzlich vorgesehene Erlassmöglichkeit nicht grundsätzlich die Vollstreckung einer rechtskräftig verfügten EL-Rückerstattungsschuld hindert.
BGE 130 V 407 S. 413
Demgegenüber spricht bei Verfügungen über die Herabsetzung oder Aufhebung einer Rente für den Entzug der aufschiebenden Wirkung einer allfälligen Beschwerde gerade, dass nach der Rechtsprechung im Falle rechtskräftiger Abweisung des Rechtsmittels der Erlass der Rückforderung der (zu Unrecht) weiter ausgerichteten Leistungen ausser Betracht fällt (vgl.
BGE 105 V 269
Erw. 3 und AHI 2000 Erw. 5 S. 185 oben).
3.3.3
Schliesslich finden sich auch in den einschlägigen Weisungen des Bundesamtes keine Hinweise, dass
Art. 97 AHVG
bei Rückforderungen von unrechtmässig bezogenen Ergänzungsleistungen angewendet werden soll. Im Gegenteil wird in Rz 8006 der Wegleitung über die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV (WEL in der ab 1. Januar 2003 gültigen Fassung) festgehalten, dass einer Verfügung, mit der eine jährliche Ergänzungsleistung herabgesetzt oder aufgehoben wird, einer allfälligen Einsprache die aufschiebende Wirkung zu entziehen ist. In Bezug auf die Rückerstattung unrechtmässig bezogener Ergänzungsleistungen fehlt eine entsprechende Weisung. Anderseits wird in Rz 8004 WEL gesagt, zur Rechtsmittelbelehrung gehöre auch der Hinweis auf die Erlassmöglichkeit. Die gleiche Regelung findet sich im Übrigen auch in der Rentenwegleitung (Rz 10621 RWL in der ab 1. Januar 2003 gültigen Fassung).
3.4
Im gesamten Bundesverwaltungsrecht gilt der Grundsatz, dass Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen und Entscheide, die zu einer Geldleistung verpflichten, unabdingbar aufschiebende Wirkung zukommt (Art. 55 Abs. 1 und 2 e contrario VwVG sowie
Art. 111 Abs. 1 OG
; GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., Bern 1983, S. 241; vgl. auch
BGE 111 V 56
f. Erw. 3 und
BGE 99 Ib 219
f. Erw. 4). Dieser Regel derogiert
Art. 97 AHVG
. Das allein spricht zwar nicht für eine enge Auslegung der Wendung der auf eine Geldleistung gerichteten Verfügungen im Sinne dieser Bestimmung (
BGE 118 Ia 179
Erw. 2d,
BGE 117 Ib 121
Erw. 7c,
BGE 114 V 302
Erw. 3e). Nach dem Normzweck von
Art. 97 AHVG
, wie er sich klar und unmissverständlich aus der Entstehungsgeschichte von alt
Art. 97 Abs. 2 AHVG
ergibt, und insbesondere mit Blick auf das gesetzliche Institut des Erlasses, lassen sich darunter indessen nicht Verwaltungsakte über die Rückerstattung unrechtmässig bezogener Ergänzungsleistungen subsumieren. Allfälligen hiegegen erhobenen Einsprachen und Beschwerden kommt daher von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung zu.
BGE 130 V 407 S. 414
Mit dieser Feststellung ist die angefochtene Verfügung der Vorinstanz vom 13. April 2004 aufzuheben.