BGE 130 V 445 vom 5. Juli 2004

Datum: 5. Juli 2004

Artikelreferenzen:  Art. 21 ATSG, Art. 82 ATSG , Art. 82 Abs. 1 ATSG

BGE referenzen:  130 V 329, 131 V 233, 134 V 392, 135 V 2, 136 V 24, 136 I 121, 137 V 36, 137 V 394, 139 V 297, 139 V 335, 140 V 22, 140 V 70, 141 V 657, 142 V 337, 143 V 446, 144 V 210, 146 V 28 , 129 V 4, 129 V 169, 130 V 329, 130 V 332

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

130 V 445


66. Auszug aus dem Urteil i.S. M. gegen IV-Stelle Bern und Verwaltungsgericht des Kantons Bern
I 690/03 vom 5. Juli 2004

Regeste

Art. 82 Abs. 1 ATSG : Intertemporalrechtliche Anwendbarkeit materieller Bestimmungen des ATSG bei Dauerleistungen.
Bei der Prüfung eines allfälligen schon vor dem In-Kraft-Treten des ATSG auf den 1. Januar 2003 entstandenen Anspruchs auf eine Rente der Invalidenversicherung sind die allgemeinen intertemporalrechtlichen Regeln heranzuziehen, gemäss welchen grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei Verwirklichung des zu Rechtsfolgen führenden Sachverhalts galten. Demzufolge ist der Rentenanspruch für die Zeit bis 31. Dezember 2002 auf Grund der bisherigen und ab diesem Zeitpunkt nach den neuen Normen zu prüfen (Erw. 1).

Erwägungen ab Seite 446

BGE 130 V 445 S. 446
Aus den Erwägungen:

1.

1.1 Am 1. Januar 2003 sind das Bundesgesetz über den Allgemei nen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (ATSG) und die Verordnung über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSV) vom 11. September 2002 in Kraft getreten. Mit ihnen sind unter anderem auch im Invalidenversicherungsrecht verschiedene materiellrechtliche Bestimmungen geändert worden.

1.2 Zu beurteilen ist, ob die Beschwerdeführerin Anspruch auf eine Invalidenrente hat, wobei allfällige Rentenleistungen frühestens ab 1. Juli 2000 zugesprochen werden könnten. Dies wurde mit Einspracheentscheid vom 7. März 2003 verneint. Fraglich ist mithin, da das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheides (hier: 7. März 2003) eingetretenen Sachverhalt abstellt ( BGE 129 V 4 Erw. 1.2, BGE 129 V 169 Erw. 1, 356 Erw. 1, je mit Hinweisen), ob die Bestimmungen des ATSG auf den vorliegenden Fall Anwendung finden.

1.2.1 Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat in BGE 130 V 329 erkannt, dass sich aus der Übergangsbestimmung des Art. 82 Abs. 1 ATSG , mit Ausnahme der darin speziell geregelten Sachverhalte, keine allgemein gültigen intertemporalrechtlichen Schlüsse ziehen lassen. Art. 82 Abs. 1 ATSG hat - wie in Erw. 2.2 des Urteils erwogen wird - nur eine beschränkte Tragweite und will lediglich Fälle von der Anwendbarkeit des neuen Gesetzes ausnehmen, in welchen über die Rechte und Pflichten vor dem 1. Januar 2003 rechtskräftig verfügt worden ist (" ... bei seinem Inkrafttreten laufenden Leistungen und festgesetzten Forderungen ..." [Satz 1: Regel]); dies vorbehältlich der Anpassung von rechtskräftig verfügten Leistungskürzungen an Art. 21 ATSG mit Wirkung ab 1. Januar 2003 (Satz 2: Ausnahme). Insbesondere lässt sich daraus somit nicht ableiten, dass der Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung oder - bei Durchführung des Einspracheverfahrens - des
BGE 130 V 445 S. 447
Einspracheentscheides für die Anwendung der materiellen Normen des neuen Gesetzes in Bezug auf Leistungen, welche bei dessen In-Kraft-Treten (1. Januar 2003) noch nicht rechtskräftig festgelegt worden sind, massgebend ist. Vielmehr muss diesbezüglich - von den in Art. 82 Abs. 1 ATSG spezifisch normierten Tatbeständen abgesehen - von den allgemeinen Regeln ausgegangen werden, welche im Bereich des Übergangsrechts entwickelt worden sind. Danach sind in zeitlicher Hinsicht - auch bei einer Änderung der gesetzlichen Grundlage - grundsätzlich diejenigen Rechtssätze relevant, die bei der Verwirklichung des zu Rechtsfolgen führenden Sachverhaltes in Geltung standen ( BGE 129 V 4 Erw. 1.2, BGE 129 V 169 Erw. 1, 356 Erw. 1, je mit Hinweisen). An diesem Ergebnis vermag der Umstand, dass in BGE 130 V 332 nicht, wie im vorliegenden Fall, über Dauerleistungen, sondern über den Anspruch auf Verzugszinsen gestützt auf eine im Jahr 2001 fällig gewordene, aber erst 2003 ausbezahlte einmalige Pauschalentschädigung zu befinden war, nichts zu ändern. Die zuvor dargelegte Lösung stellt zufolge ihres allgemein gültigen Bedeutungsgehaltes einen für alle Rechtsverhältnisse - und somit auch für Dauerleistungen - geltenden intertemporalrechtlichen Grundsatz auf.

1.2.2 Liegen demnach keine laufenden Leistungen im Sinne des Art. 82 Abs. 1 ATSG vor und werden - bedingt durch den fragmentarischen Charakter der übergangsrechtlichen Ordnung des ATSG - folglich die allgemeinen intertemporalrechtlichen Regeln herangezogen, ist der Rentenanspruch für die Zeit bis 31. Dezember 2002 auf Grund der bisherigen und ab diesem Zeitpunkt nach den neuen Normen zu prüfen.

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