Urteilskopf
133 V 50
8. Auszug aus dem Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts i.S. IV-Stelle des Kantons Aargau gegen S. und Versicherungsgericht des Kantons Aargau (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
I 61/04 vom 20. September 2006
Regeste
Art. 49 Abs. 1,
Art. 51,
Art. 52 Abs. 1 und
Art. 53 Abs. 2 ATSG
: Nichteintreten auf ein Wiedererwägungsgesuch.
Das Nichteintreten auf ein Wiedererwägungsgesuch ist nicht durch Einsprache anfechtbar (E. 4).
Aus den Erwägungen:
2.2
Gemäss Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 (AS 2006 S. 2003) ist am 1. Juli 2006 eine Änderung des IVG in Kraft
BGE 133 V 50 S. 51
getreten. Mit dieser Novelle ist das Einspracheverfahren im Bereich der Invalidenversicherung aufgehoben und durch das frühere, vor Inkrafttreten von ATSG und ATSV geltende Vorbescheidverfahren ersetzt worden. Dies bedeutet, dass gegen eine Verfügung der IV-Stelle nicht mehr Einsprache erhoben werden kann, sondern direkt eine Beschwerde an das kantonale Versicherungsgericht eingereicht werden muss (
Art. 69 Abs. 1 IVG
in der ab 1. Juli 2006 geltenden Fassung). Nach Ziff. II lit. c des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 ist indessen auf die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung beim Eidgenössischen Versicherungsgericht hängigen Beschwerden bisheriges Recht anwendbar. Da die hier zu beurteilende Beschwerde am 1. Juli 2006 beim Eidgenössischen Versicherungsgericht hängig war, ist diese Neuerung im vorliegenden Verfahren nicht anwendbar.
2.3
Der beschwerdegegnerische Vorwurf der Rechtsverweigerung knüpft an die nicht in Verfügungsform erlassene Mitteilung der IV-Stelle vom 23. Mai 2003 und die nachmalige Weigerung, anfechtbare Verfügungen zu erlassen, an. Die in ATSG und ATSV enthaltenen und die gestützt darauf in den Spezialgesetzen auf den 1. Januar 2003 geänderten Verfahrensbestimmungen gelangen daher im vorliegenden Fall zur Anwendung.
3.
Streitig und zu prüfen ist, ob die IV-Stelle auf das Wiedererwägungsgesuch vom 14. November 2002 und den im gleichen Schreiben geäusserten Hinweis auf die Verschlechterung des Gesundheitszustandes hin hätte verfügen müssen.
3.1
Das kantonale Gericht hat erwogen, es handle sich bei der Eingabe vom 14. November 2002 einerseits um ein Wiedererwägungsgesuch und andererseits um eine Neuanmeldung. Sofern die betroffene Person eine Verfügung verlange, habe die Verwaltung, auch wenn sie auf das Wiedererwägungsgesuch nicht eintreten wolle, mit Blick auf
Art. 49 Abs. 1 und
Art. 51 ATSG
eine (Nichteintretens-)Verfügung zu erlassen. Gleich verhalte es sich bezüglich der geltend gemachten Verschlechterung des Gesundheitszustandes: Sei die IV-Stelle der Ansicht, der Versicherte habe nicht glaubhaft dargetan, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse in einer für den Anspruch erheblichen Weise geändert hätten, so müsse sie eine weitere (Nichteintretens-)Verfügung erlassen.
3.2
Die IV-Stelle führt aus, es bestehe nach wie vor kein durchsetzbarer Rechtsanspruch auf die Behandlung einer
BGE 133 V 50 S. 52
Wiedererwägung. Somit müsse auch ein Anspruch auf Erlass einer anfechtbaren Verfügung verneint werden. Verfügungen, mit denen das Eintreten auf ein Wiedererwägungsgesuch abgelehnt werde, seien, wie sich aus E. 2 des Urteils vom 14. Juli 2003, C 7/02 (publiziert in: SVR 2004 ALV Nr. 1 S. 2), ergebe, weiterhin - auch unter der Geltung von
Art. 53 Abs. 2 ATSG
- nicht anfechtbar. Darum bleibe für
Art. 49 Abs. 1 und
Art. 51 Abs. 2 ATSG
entgegen der Auffassung der Vorinstanz kein Raum. Die Verwaltung könne folglich nicht dazu verhalten werden, eine anfechtbare Verfügung zu erlassen.
4.1
Art. 53 Abs. 2 ATSG
schreibt vor, dass ein Versicherungsträger auf formell rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen kann, wenn diese zweifellos unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Diese Bestimmung wurde in Anlehnung an die bis zum Inkrafttreten des ATSG von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien (
BGE 127 V 469
E. 2c mit Hinweisen) erlassen. Dabei wird in Übereinstimmung mit Lehre und Rechtsprechung das Zurückkommen auf formell rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide beim Fehlen eigentlicher Revisionsgründe weiterhin in das Ermessen des Versicherungsträgers gelegt (vgl. BBl 1991 II 262). Die bisherige Rechtsprechung, wonach kein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch auf Wiedererwägung besteht (
BGE 117 V 12
E. 2a mit Hinweisen; vgl. auch
BGE 119 V 479
E. 1b/cc), ist, wie die IV-Stelle letztinstanzlich unter Hinweis auf SVR 2004 ALV Nr. 1 S. 2, E. 2, C 7/02, zu Recht geltend macht, in
Art. 53 Abs. 2 ATSG
gesetzlich verankert worden (KIESER, ATSG-Kommentar, N. 22 zu Art. 53). Damit ist aber entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin für den vorliegend zu beurteilenden Fall noch nicht beantwortet, ob sie auf das Schreiben des Versicherten vom 14. November 2002 verfügungsweise hätte reagieren müssen.
4.1.1
Nach
Art. 49 Abs. 1 ATSG
hat der Versicherungsträger über Leistungen, Forderungen und Anordnungen, die erheblich sind oder mit denen die betroffene Person nicht einverstanden ist, schriftlich Verfügungen zu erlassen. Leistungen, Forderungen und Anordnungen, die nicht unter
Art. 49 Abs. 1 ATSG
fallen, können gemäss
Art. 51 Abs. 1 ATSG
in einem formlosen Verfahren behandelt werden;
Art. 51 Abs. 2 ATSG
räumt der betroffenen Person die Möglichkeit ein, den Erlass einer Verfügung zu verlangen. Im Invalidenversicherungsbereich enthält
Art. 74
ter
IVV
einen
BGE 133 V 50 S. 53
Katalog von Leistungen, welche formlos zugesprochen werden können. Damit diese Ausführungsbestimmung eine gesetzliche Grundlage hat, wurde in
Art. 58 IVG
eine Abweichung vom ATSG statuiert. In der genannten Gesetzesbestimmung wird dem Bundesrat die Befugnis eingeräumt, in Abweichung von
Art. 49 Abs. 1 ATSG
auch für bestimmte erhebliche Leistungen das formlose Verfahren nach
Art. 51 ATSG
vorzusehen (Bericht der Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 26. März 1999, BBl 1999 V 4606 f.). In diesen Fällen macht die IV-Stelle den Versicherten darauf aufmerksam, dass er den Erlass einer Verfügung verlangen kann, wenn er mit dem nach
Art. 74
ter
IVV
gefassten Beschluss nicht einverstanden ist (
Art. 74
quater
IVV
).
4.1.2
Der Begriff der Verfügung bestimmt sich mangels näherer Konkretisierung in
Art. 49 Abs. 1 ATSG
nach Massgabe von
Art. 5 Abs. 1 VwVG
(vgl.
Art. 55 ATSG
; siehe auch KIESER, a.a.O., N. 2 zu Art. 49). Als Verfügungen im Sinne von
Art. 5 Abs. 1 VwVG
gelten Anordnungen der Behörden im Einzelfall, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen (oder richtigerweise hätten stützen sollen;
BGE 116 Ia 266
E. 2a) und zum Gegenstand haben: Begründung, Änderung oder Aufhebung von Rechten oder Pflichten (lit. a), Feststellung des Bestehens, Nichtbestehens oder Umfanges von Rechten oder Pflichten (lit. b), Abweisung von Begehren auf Begründung, Änderung, Aufhebung oder Feststellung von Rechten oder Pflichten, oder Nichteintreten auf solche Begehren (lit. c;
BGE 124 V 20
E. 1;
BGE 123 V 296
E. 3a, je mit Hinweisen).
4.1.3
Das Begriffspaar Leistungen und Forderungen in
Art. 49 Abs. 1 und
Art. 51 Abs. 1 ATSG
entspricht den Rechten und Pflichten gemäss
Art. 5 Abs. 1 lit. a VwVG
(KIESER, a.a.O., N. 4 zu Art. 49), während
Art. 5 Abs. 1 lit. b und c VwVG
(E. 4.1.2 hiervor) eine Aufzählung von Anordnungen enthält (zur Bedeutung der Anordnung: KIESER, a.a.O., N. 5 ff. zu Art. 49). Es ist auch unter der Geltung des ATSG ins Ermessen des Versicherungsträgers gestellt, auf formell rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückzukommen (
Art. 53 Abs. 2 ATSG
; E. 4.1 hiervor). Da somit kein Anspruch auf Wiedererwägung besteht, stellt das Nichteintreten auf ein Wiedererwägungsgesuch keine Leistung im Sinne von
Art. 49 Abs. 1 oder
Art. 51 Abs. 1 ATSG
dar (womit die im Invalidenversicherungsrecht für bestimmte erhebliche Leistungen geltende Sonderregel [
Art. 58 IVG
in Verbindung mit
Art. 74
ter
und 74
quater
IVV
; E. 4.1.1 hiervor] nicht zur Anwendung
BGE 133 V 50 S. 54
kommt). Im Streitfall ginge es nämlich einzig um die formelle Frage des Eintretens oder Nichteintretens auf das Wiedererwägungsgesuch. Ob der Versicherungsträger mit dem Nichteintreten auf ein Wiedererwägungsgesuch eine Anordnung (im Sinne von Art. 5 Abs. 1 lit. c in fine VwVG) trifft, über welche er bei Erheblichkeit oder wenn die betroffene Person nicht einverstanden ist (
Art. 49 Abs. 1 ATSG
), sowie in den Fällen nach
Art. 51 Abs. 1 ATSG
, falls es die betroffene Person verlangt (
Art. 51 Abs. 2 ATSG
), eine Verfügung zu erlassen hat, kann vorliegend allerdings offen bleiben (es ist immerhin darauf hinzuweisen, dass die bisherige Rechtsprechung an der Verfügungsqualität nicht gezweifelt hat:
BGE 117 V 13
E. 2a). Selbst wenn nämlich davon ausgegangen wird, dass das Nichteintreten auf ein Wiedererwägungsgesuch als Verfügung zu qualifizieren ist, besteht jedenfalls keine Möglichkeit, dieses Verwaltungshandeln mit Einsprache anzufechten, wie sich nachfolgend (E. 4.2 hiernach) zeigt.
4.2
Durch das Inkrafttreten des ATSG wurde das Einspracheverfahren, welches bisher nur im Kranken-, Unfall- und Militärversicherungsbereich verankert war, auf alle Sozialversicherungszweige (mit Ausnahme der beruflichen Vorsorge) ausgedehnt. Nach
Art. 52 Abs. 1 ATSG
kann gegen Verfügungen innerhalb von 30 Tagen bei der verfügenden Stelle Einsprache erhoben werden; davon ausgenommen sind prozess- und verfahrensleitende Verfügungen. Gegen Einspracheentscheide oder Verfügungen, gegen welche eine Einsprache ausgeschlossen ist, kann Beschwerde erhoben werden (
Art. 56 Abs. 1 ATSG
).
4.2.1
Das Zurückkommen auf formell rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide beim Fehlen eigentlicher Revisionsgründe liegt weiterhin im Ermessen des Versicherungsträgers (
Art. 53 Abs. 2 ATSG
als "Kann-Vorschrift", vgl. E. 4.1 hiervor; Bericht der Kommission des Ständerates zur Parlamentarischen Initiative Allgemeiner Teil Sozialversicherung vom 27. September 1990, BBl 1991 II 262). Die bisherige Rechtsprechung, wonach kein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch auf Wiedererwägung besteht, gilt nach wie vor (SVR 2004 ALV Nr. 1 S. 2, E. 2; Urteil vom 22. Februar 2005, U 463/04). Auf eine Beschwerde gegen ein Nichteintreten auf ein Wiedererwägungsgesuch oder allenfalls gegen einen das Nichteintreten bestätigenden Einspracheentscheid der Verwaltung kann das Gericht demzufolge auch unter der Geltung des ATSG nicht eintreten.
Art. 56 Abs. 1 ATSG
weist auf diese Ausnahme vom
BGE 133 V 50 S. 55
Beschwerderecht zwar nicht ausdrücklich hin. Sie ergibt sich aber ohne weiteres aus dem Umstand, dass das Eintreten auf ein Wiedererwägungsgesuch im Ermessen des Versicherungsträgers liegt (
Art. 53 Abs. 2 ATSG
).
4.2.2
Wird angenommen, dass das Nichteintreten auf ein Wiedererwägungsgesuch den Verfügungsbegriff erfüllt (E. 4.1.2 hiervor), so muss auf Grund des Wortlautes von
Art. 52 Abs. 1 ATSG
davon ausgegangen werden, dass dagegen eine Einsprache zulässig ist. Das Einspracheverfahren ist zwar ein rechtsmittelmässiger Prozess, wird aber, weil es sich bei der Einsprache um ein nicht devolutives Rechtsmittel handelt, nicht beim iudex ad quem, sondern bei der verfügenden Verwaltung durchgeführt (GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., Bern 1983, S. 33; KÖLZ/HÄNER, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2. Aufl., Zürich 1998, S. 169 Rz. 464 f.). Der Einspracheentscheid tritt alsdann an die Stelle der Verfügung. Verfügungs- wie auch Einspracheverfahren gehören zur verwaltungsinternen Rechtspflege.
Zu berücksichtigen ist allerdings, dass ein Wiedererwägungsgesuch bezweckt, die Verwaltung zu einer nochmaligen Prüfung formell rechtskräftiger Verfügungen oder Einspracheentscheide zu veranlassen. Lehnt sie dies - durch Nichteintreten auf das Gesuch - ab, so könnte mit einer Einsprache dagegen lediglich verlangt werden, der Versicherungsträger solle prüfen, ob er tatsächlich nicht auf das Wiedererwägungsgesuch eintreten wolle. Ein Anspruch auf Wiedererwägung entsteht daraus nicht, weil der Entscheid über die Vornahme der Wiedererwägung auf jeden Fall im Ermessen der Verwaltung bleibt (
Art. 53 Abs. 2 ATSG
). Der ablehnende Einspracheentscheid würde zudem keine definitive Klärung der Streitfrage bringen. Die Wiedererwägung wird auf Gesuch oder von Amtes wegen vorgenommen. Eine zeitliche Befristung besteht nicht. Demgemäss wäre es möglich, unmittelbar nach Erlass eines ablehnenden Einspracheentscheides ein neues Wiedererwägungsgesuch zu stellen, ohne dass die Verwaltung der gesuchstellenden Person entgegenhalten könnte, mit dem Einspracheentscheid sei eine res iudicata geschaffen worden. Die Einsprachefrist von 30 Tagen gemäss
Art. 52 Abs. 1 ATSG
bliebe überdies ohne jegliche Wirkung. Würde die gesuchstellende Person die 30-tägige Frist verpassen, könnte sie jederzeit ein neues Wiedererwägungsgesuch stellen. Selbst vor Erlass eines Einspracheentscheides über die Frage des Eintretens auf ein Wiedererwägungsgesuch wäre ein
BGE 133 V 50 S. 56
erneutes Wiedererwägungsgesuch möglich. Das Einspracheverfahren führt mit anderen Worten nicht zu einer Entscheidung, welche die Frage der Wiedererwägung formell rechtskräftiger Verfügungen oder Einspracheentscheide in verbindlicher Form beantworten könnte. Wird das Zurückkommen mit Einspracheentscheid abgelehnt, schliesst dies nämlich keineswegs aus, dass die Verwaltung zu einem späteren Zeitpunkt von Amtes wegen oder auf erneutes Gesuch hin eine Wiedererwägung formell rechtskräftiger Verfügungen oder Einspracheentscheide vornimmt. Unter diesen Umständen, insbesondere mit Blick darauf, dass es jederzeit, ohne Bindung an Fristen, möglich ist, ein neues Wiedererwägungsgesuch zu stellen, macht ein Einspracheverfahren keinen Sinn. Eine Einsprachemöglichkeit gegen ein Nichteintreten auf ein Wiedererwägungsgesuch ist demgemäss abzulehnen.
4.3
Die IV-Stelle hat sich in ihrem Schreiben vom 8. August 2003, mit welchem sie den Erlass einer (anfechtbaren) Verfügung verweigert, auf Rz. 3013 des vom BSV herausgegebenen Kreisschreibens über die Rechtspflege in der AHV, der IV, der EO und bei den EL (in der ab 1. Januar 2003 geltenden Fassung) berufen. Darin wird angegeben, die nach summarischer Prüfung auf ein Wiedererwägungsgesuch nicht eintretende Durchführungsstelle habe dies der versicherten Person in einfacher Briefform ohne Rechtsmittelbelehrung und in der Regel ohne eingehende Begründung bekannt zu geben. Dieser Abschnitt des Kreisschreibens erweist sich mit Blick auf das Gesagte als richtig.