Urteilskopf
133 V 89
13. Auszug aus dem Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts i.S. Regionales Arbeitsvermittlungszentrum St. Gallen und Staatssekretariat für Wirtschaft gegen R. und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
C 164/05 / C 170/05 vom 28. September 2006
Regeste
Art. 40 und 43 ATSG
;
Art. 17 Abs. 1 und
Art. 30 Abs. 1 lit. c AVIG
;
Art. 26 Abs. 2bis AVIV
: Verspäteter Nachweis der persönlichen Arbeitsbemühungen.
Art. 26 Abs. 2bis AVIV
ist gesetzmässig (E. 6).
Aus den Erwägungen:
4.1
Das kantonale Gericht hat die massgebenden (mit Inkrafttreten des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG] am 1. Januar 2003 unverändert gebliebenen) Bestimmungen über die Pflicht der versicherten Person, alles Zumutbare zu unternehmen, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden oder zu verkürzen, und ihre entsprechenden Bemühungen nachweisen zu können (
Art. 17 Abs. 1 AVIG
), sowie die Einstellung in der Anspruchsberechtigung bei ungenügenden persönlichen Arbeitsbemühungen (
Art. 30 Abs. 1 lit. c AVIG
) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
4.2
Gemäss
Art. 26 Abs. 1 AVIV
muss sich der Versicherte gezielt um Arbeit bemühen, in der Regel in Form einer ordentlichen Bewerbung. Mit der Anmeldung zum Taggeldbezug muss die versicherte Person gegenüber der zuständigen Amtsstelle ihre Bemühungen um Arbeit nachweisen (
Art. 26 Abs. 2 AVIV
). Sie hat diesen Nachweis für jede Kontrollperiode spätestens am fünften Tag des folgenden Monats oder am ersten auf diesen Tag folgenden Werktag zu erbringen. Andernfalls setzt ihr die zuständige Amtsstelle eine angemessene Nachfrist. Gleichzeitig weist die Amtsstelle sie schriftlich darauf hin, dass die Arbeitsbemühungen nicht berücksichtigt werden können, wenn sie die Frist verstreichen lässt und keinen entschuldbaren Grund geltend macht (
Art. 26 Abs. 2
bis
AVIV
). Die zuständige Amtsstelle hat die Arbeitsbemühungen des Versicherten monatlich zu überprüfen (
Art. 26 Abs. 3 AVIV
).
(...)
6.1
Art. 26 AVIV
trägt den Randtitel "Persönliche Arbeitsbemühungen des Versicherten" und verweist auf
Art. 40 und 43 ATSG
sowie
Art. 17 Abs. 1 und
Art. 30 Abs. 1 lit. c AVIG
.
6.1.1
Grundsätzlich sanktioniert
Art. 30 Abs. 1 lit. c AVIG
eine Verletzung der in
Art. 17 Abs. 1 AVIG
statuierten
BGE 133 V 89 S. 91
Schadenminderungspflicht, insbesondere der Pflicht, sich genügend um Arbeit zu bemühen. Diese Verknüpfung soll Arbeitslose zur Stellensuche anspornen und eine missbräuchliche Beanspruchung der Arbeitslosenversicherung verhindern. Die Einstellung in der Anspruchsberechtigung bezweckt eine angemessene Mitbeteiligung der versicherten Person an jenem Schaden, den sie durch ihr pflichtwidriges Verhalten der Arbeitslosenversicherung natürlich und adäquat kausal verursacht hat (
BGE 124 V 227
f. E. 2b mit weiteren Hinweisen). Kern der Pflicht, alles Zumutbare zu unternehmen, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden oder zu verkürzen, sind die persönlichen Arbeitsbemühungen der versicherten Person selbst (GERHARD GERHARDS, Kommentar zum Arbeitslosenversicherungsgesetz [AVIG], Bern 1987, Bd. I [Art. 1-58], N. 12 zu Art. 17), die in der Regel streng beurteilt werden. Es gilt gewissermassen der Grundsatz, dass die Arbeitsbemühungen umso intensiver sein müssen, je weniger Aussicht eine versicherte Person hat, eine Stelle zu finden. Dabei stehen sowohl Tatsache als auch Intensität, nicht aber der Erfolg dieser Bemühungen im Vordergrund (GERHARDS, a.a.O., N. 14 zu Art. 17, ähnlich N. 16 zu Art. 17).
6.1.2
In
Art. 40 ATSG
wird festgehalten, dass eine gesetzliche Frist nicht erstreckt werden kann (Abs. 1); setzt der Versicherungsträger eine Frist für eine bestimmte Handlung an, so droht er gleichzeitig die Folgen eines Versäumnisses an - andere als die angedrohten Folgen treten nicht ein (Abs. 2). Eine vom Versicherungsträger angesetzte Frist kann aus zureichenden Gründen erstreckt werden, wenn die Partei vor Ablauf der Frist darum nachsucht (Abs. 3).
Art. 43 ATSG
befasst sich im Wesentlichen mit der Abklärungspflicht des Versicherungsträgers und der Mitwirkung der Partei. Gemäss
Art. 43 Abs. 3 ATSG
kann der Versicherungsträger auf Grund der Akten verfügen oder die Erhebungen einstellen und Nichteintreten beschliessen, falls die versicherte Person oder andere Personen, die Leistungen beanspruchen, den Auskunfts- oder Mitwirkungspflichten in unentschuldbarer Weise nicht nachkommen.
6.2
Reicht die versicherte Person für eine bestimmte Kontrollperiode keinerlei Nachweis für in dieser Zeit erbrachte Arbeitsbemühungen ein, so kann die Verwaltung - wie im vorliegend zu beurteilenden Fall - mit gutem Grund davon ausgehen, dass keine Arbeitsbemühungen unternommen wurden. Einer solchen Verletzung der Schadenminderungspflicht hat sie mit einer Einstellung in der Anspruchsberechtigung im Sinne von
Art. 30 Abs. 1 lit. c AVIG
zu begegnen.
BGE 133 V 89 S. 92
6.2.1
Folgt man der Ansicht des Regionalen Arbeitsvermittlungszentrums (RAV), sind nach Ablauf der allfällig angesetzten Nachfrist eingereichte Beweismittel, welche in der relevanten Kontrollperiode getätigte, in qualitativer und quantitativer Hinsicht genügende Arbeitsbemühungen belegen, infolge Beweisverwirkung nicht mehr zu berücksichtigen, falls kein entschuldbarer Grund für die verspätete Beibringung der Unterlagen vorliegt. Es soll diesfalls bei der verfügten Einstellung in der Anspruchsberechtigung mangels genügender Arbeitsbemühungen bleiben. Zur Begründung ihres Standpunktes verweist die Behörde auf die Rechtsprechung zu
Art. 58 Abs. 4 und
Art. 69 Abs. 2 AVIV
. In der Tat hat das Eidgenössische Versicherungsgericht in
BGE 110 V 334
festgestellt, dass es sich bei den Fristen zur Voranmeldung der Kurzarbeit (
Art. 36 Abs. 1 AVIG
) um Verwirkungsfristen handelt mit der Folge, dass der Arbeitsausfall bei verspäteter Meldung ohne entschuldbaren Grund gemäss
Art. 58 Abs. 4 AVIV
erst anrechenbar wird, wenn die für die Meldung vorgeschriebene Frist abgelaufen ist.
Art. 58 Abs. 4 AVIV
wurde als gesetzmässig qualifiziert. In
BGE 110 V 339
wurde festgehalten, dass die Fristen zur erstmaligen Meldung des Arbeitsausfalls infolge Schlechtwetters und zu deren wöchentlicher Erneuerung (
Art. 45 Abs. 1 AVIG
) ebenfalls Verwirkungsfristen sind mit der Folge, dass der Arbeitsausfall bei verspäteter Meldung ohne entschuldbaren Grund nach den gesetzmässigen Bestimmungen in
Art. 69 Abs. 1 und 2 AVIV
erst vom Tag der Meldung oder ihrer Erneuerung an anrechenbar ist. Dies bedeutet sowohl bezüglich der Kurzarbeitsentschädigung als auch für die Schlechtwetterentschädigung, dass der Arbeitsausfall im Ausmass der Verspätung nicht anrechenbar ist und zuerst die im Einzelfall anwendbare Frist ab Eingang der verspäteten Meldung zu bestehen ist. Eine unentschuldbar verspätete Meldung zieht demgemäss insoweit eine Anspruchsverwirkung nach sich. Die rechtzeitige Anmeldung gilt unter diesen Umständen als formelle Anspruchsvoraussetzung (THOMAS NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, S. 162 Rz. 423).
6.2.2
Demgegenüber hat die versicherte Person, welche ihre Arbeitsbemühungen im Sinne von
Art. 26 Abs. 2bis AVIV
nicht rechtzeitig einreicht, grundsätzlich Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung und verliert ihn durch ihr Fehlverhalten - von hier nicht relevanten Ausnahmen abgesehen - nicht. Sie kann aber in der Anspruchsberechtigung eingestellt werden. Die Einstellung in
BGE 133 V 89 S. 93
der Anspruchsberechtigung dient dazu, die Schadenminderungspflicht der Versicherten durchzusetzen. Sie hat die Funktion einer Haftungsbegrenzung der Versicherung für Schäden, die die Versicherten hätten vermeiden oder vermindern können. Als versicherungsrechtliche Sanktion bezweckt sie die angemessene Mitbeteiligung der versicherten Person am Schaden, den sie durch ihr Verhalten der Arbeitslosenversicherung in schuldhafter Weise natürlich und adäquat kausal verursacht hat (
BGE 126 V 523
E. 4 und 130 E. 1;
BGE 124 V 227
E. 2b;
BGE 122 V 40
E. 4c/aa mit Hinweisen).
6.2.3
Das kantonale Gericht kommt zum Schluss,
Art. 43 Abs. 3 ATSG
und
Art. 26 Abs. 2
bis
AVIV
seien nicht geeignet, die Grundsätze der Untersuchungspflicht und der freien Beweiswürdigung im Sinne einer Beweisverwirkung für Unterlagen, welche nach unverschuldet unbenutzt gebliebenem Ablauf der Nachfrist eingereicht würden, einzuschränken. Eine Beweisverwirkung könnte nur angenommen werden, wenn sie in einem formellen Gesetz ausdrücklich vorgesehen wäre. Ob es zu einer Beweisverwirkung nur kommen kann, wenn sie in einem formellen Gesetz vorgesehen ist, kann allerdings vorliegend offen bleiben. Die Abklärungspflicht im Sinne von
Art. 43 ATSG
gilt in allen vom ATSG erfassten Sozialversicherungszweigen (Parlamentarische Initiative Sozialversicherungsrecht, Bericht der Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 26. März 1999, BBl 1999 S. 4601; KIESER, ATSG-Kommentar, N. 42 zu Art. 43). Sie erfährt unter anderem mit der Regelung in Art. 17 Abs. 1 letzter Satz AVIG eine Einschränkung. Gemäss dieser Bestimmung hat der Versicherte seine (Arbeits-)Bemühungen nachzuweisen.
Art. 43 Abs. 3 ATSG
, wonach der Versicherungsträger auf Grund der Akten verfügen (oder die Erhebungen einstellen und Nichteintreten beschliessen) kann, falls den Auskunfts- oder Mitwirkungspflichten in unentschuldbarer Weise nicht nachgekommen wird, bringt eine weitere Einengung des Untersuchungsgrundsatzes. Dieser formellgesetzlichen Norm ist
Art. 26 Abs. 2
bis
AVIV
nachgebildet. Mit der Verordnungsbestimmung wird die Säumnisfolge auf die Nichtberücksichtigung der unverschuldet verspätet eingereichten Nachweise der unternommenen Arbeitsbemühungen beschränkt. Dies rechtfertigt sich mit Blick darauf, dass der Taggeldanspruch der versicherten Person, welche ihre Arbeitsbemühungen nachzuweisen hat, in diesen Fällen in aller Regel besteht und der fehlende Nachweis genügender Arbeitsbemühungen innert der von der Verwaltung anzusetzenden Nachfrist lediglich eine Einstellung in der Anspruchsberechtigung
BGE 133 V 89 S. 94
nach sich zieht (ausgenommen sind namentlich die Konstellationen, in welchen die versicherte Person durch wiederholtes Nichterbringen des Nachweises genügender Arbeitsbemühungen ihre Vermittlungsfähigkeit in Frage stellt). Mit dieser Ausgestaltung wird
Art. 40 Abs. 2 ATSG
, wonach die Folgen eines Fristversäumnisses vom Versicherungsträger anzudrohen sind, Rechnung getragen. Da
Art. 26 Abs. 2
bis
AVIV
die in
Art. 17 Abs. 1 AVIG
und
Art. 43 Abs. 3 ATSG
aufgestellten Vorgaben zur Einschränkung der Abklärungspflicht der Verwaltung vollumfänglich einhält, ist die Verordnungsbestimmung als gesetzmässig zu qualifizieren.
6.2.4
Daran ändert der Einwand der Vorinstanz, wonach die Regelungen in
Art. 59 UVV
und
Art. 87 Abs. 3 MVG
, je in Kraft bis Ende 2002, welche als Rechtsfolge der Verletzung der Auskunfts- und Mitwirkungspflicht ebenfalls (unter anderem) den Entscheid auf Grund der Akten vorgesehen haben (vgl. im Übrigen auch
Art. 73 IVV
), rechtsprechungsgemäss eine nachträgliche Abklärung des Sachverhaltes durch das Gericht nicht ausgeschlossen hätten, nichts. Im angefochtenen Entscheid wird insbesondere auf das Urteil vom 29. Juni 2004, I 43/04, verwiesen, in welchem es - im Gegensatz zum vorliegenden Verfahren - um eine Weigerung der versicherten Person ging, sich einer medizinischen Begutachtung zu unterziehen. Ob sich bei solchen Konstellationen im Hinblick auf das Inkrafttreten des
Art. 43 Abs. 3 ATSG
eine Änderung der vom kantonalen Gericht angesprochenen Rechtsprechung aufdrängt, muss in casu nicht entschieden werden. Umstritten ist hier eine Einstellung in der Anspruchsberechtigung auf Grund mangelnden Nachweises genügender Arbeitsbemühungen in der Kontrollperiode Januar 2004. Die Schadenminderungspflicht gemäss
Art. 17 Abs. 1 AVIG
lässt sich als blosse Obliegenheit nur durchsetzen, wenn ihre Verletzung leistungsrechtliche Sanktionen nach sich zieht (NUSSBAUMER, a.a.O., S. 251 Rz. 691). Bliebe die Berücksichtigung unentschuldbar nicht innert der Nachfrist im Sinne von
Art. 26 Abs. 2
bis
AVIV
eingereichter Beweisunterlagen im Sinne der vorinstanzlichen Argumentation möglich, so würden die fünftägige Frist und die notwendigenfalls von der Verwaltung angesetzte Nachfrist mitsamt der Androhung der vorgesehenen Säumnisfolgen zu reinen Empfehlungen degradiert. Dies entspricht nicht dem Sinn und Zweck von
Art. 43 Abs. 3 ATSG
, auf welchem die Verordnungsbestimmung in Bezug auf die Androhung eines Aktenentscheides bei nicht rechtzeitiger Einreichung der geforderten
BGE 133 V 89 S. 95
Angaben beruht. Da
Art. 26 Abs. 2
bis
AVIV
gesetzmässig ist, muss diese Norm Anwendung finden.
6.2.5
Dem Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) ist beizupflichten, dass die vorliegend massgebenden Bestimmungen den verspäteten Nachweis von Arbeitsbemühungen nicht ausschliessen. Dies gilt dann, wenn die versicherte Person einen entschuldbaren Grund für die ungenutzt verstrichene Nachfrist vorbringen kann (
Art. 26 Abs. 2
bis
Satz 3 AVIV
). Entfällt eine Einstellung in der Anspruchsberechtigung zufolge mangelnden Nachweises von Arbeitsbemühungen im Sinne von
Art. 30 Abs. 1 lit. c AVIG
, weil die Nachfrist unverschuldet verpasst wurde, kann - wie das seco zu Recht vorbringt - eine Einstellung unter dem Titel der Verletzung der Auskunfts- oder Meldepflicht gemäss
Art. 30 Abs. 1 lit. e AVIG
in Frage kommen. Eine solche Konstellation liegt beispielsweise dann vor, wenn die versicherte Person den Nachweis der Arbeitsbemühungen infolge Krankheit verspätet - daher entschuldbar und ohne Sanktionsfolge - erbracht, indessen die Tatsache der Erkrankung, wofür ebenfalls eine Meldepflicht besteht, pflichtwidrig nicht mitgeteilt hat. In casu kann offen bleiben, ob eine Einstellung in der Anspruchsberechtigung auch gestützt auf
Art. 30 Abs. 1 lit. e AVIG
hätte erfolgen können, weil die von der Verwaltung mit Einspracheentscheid vom Juni 2004 bestätigte Einstellung in der Anspruchsberechtigung mangels Nachweises persönlicher Arbeitsbemühungen im Januar 2004 gemäss
Art. 30 Abs. 1 lit. c AVIG
in Verbindung mit
Art. 26 Abs. 2
bis
AVIV
nicht zu beanstanden ist. Eine Rückweisung der Sache zu weiteren Abklärungen und "allfälliger neuer Verfügung" an das RAV im Sinne des Eventualantrages des seco erübrigt sich daher.