BGE 134 III 326 vom 6. Dezember 2007

Datum: 6. Dezember 2007

Artikelreferenzen:  Art. 1 IPRG, Art. 10 IPRG, Art. 62 IPRG , Art. 10, 46 IPRG, Art. 68 Abs. 1 lit. e OG, Art. 145 ZGB, Art. 137 ZGB, Art. 1 Abs. 1 IPRG, Art. 1 Abs. 1 lit. a, Abs. 2 IPRG, Art. 62 Abs. 1 IPRG, Art. 65 IPRG

BGE referenzen:  86 II 303, 104 II 246, 129 III 60, 144 III 368 , 104 II 246, 129 III 60, 86 II 303

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

134 III 326


55. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Y. (Nichtigkeitsbeschwerde)
5C.287/2006 vom 6. Dezember 2007

Regeste

Art. 10, 46 IPRG ; ausländischer Scheidungsprozess.
Abgrenzung und Voraussetzungen der Zuständigkeit schweizerischer Gerichte zur Anordnung von vorsorglichen Massnahmen und von Eheschutzmassnahmen (E. 3).

Sachverhalt ab Seite 327

BGE 134 III 326 S. 327
Y. und X. heirateten im Jahre 1997. Die Ehefrau (Y.) lebt in der Schweiz und ist Schweizer Bürgerin. Der Ehemann ist schweizerisch-tschechischer Doppelbürger.
Am 4. Juli 2005 reichte X. in Prag/Tschechien die Scheidungsklage ein. Y. gelangte am 18. Oktober 2005 an das Amtsgericht Hochdorf und ersuchte um Regelung des Getrenntlebens. Mit Entscheid vom 19. Juni 2006 stellte der Amtsgerichtspräsident II von Hochdorf im Rahmen von Eheschutzmassnahmen fest, dass die Parteien zum Getrenntleben berechtigt seien; weiter wurde die eheliche Wohnung der Ehefrau zur Benützung zugewiesen und der Ehemann zur Zahlung von abgestuften Unterhaltsbeiträgen an die Ehefrau verpflichtet.
Gegen den Entscheid des Amtsgerichtspräsidenten erhob X. Rekurs beim Obergericht des Kantons Luzern mit der Begründung, der Amtsgerichtspräsident sei zur Entscheidung nicht zuständig; weiter rügte er die Berechnung seiner Unterhaltspflicht. Mit Entscheid vom 29. September 2006 verwarf das Obergericht die Unzuständigkeitseinrede und setzte die Unterhaltsbeiträge geringfügig im Sinne der Rekursanträge herab.
X. führt mit Eingabe vom 14. November 2006 eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt dem Bundesgericht, den Entscheid des Obergerichts des Kantons Luzern vom 29. September 2006 aufzuheben.
Y. als Beschwerdegegnerin beantragt die Abweisung der Nichtigkeitsbeschwerde.
Das Bundesgericht weist die Nichtigkeitsbeschwerde ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3. Das Obergericht ist im Wesentlichen zum Ergebnis gelangt, dass die schweizerischen Gerichte gemäss Art. 10 IPRG zuständig sind, während des in Tschechien hängigen Scheidungsverfahrens vorsorgliche Massnahmen anzuordnen. Der Beschwerdeführer bestreitet die Zuständigkeit schweizerischer Gerichte und rügt eine Verletzung der Vorschriften über die internationale Zuständigkeit ( Art. 68 Abs. 1 lit. e OG ).
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3.1 Die Beschwerdegegnerin hat in der Schweiz - ihrem Wohnsitzstaat - Eheschutzmassnahmen verlangt, nachdem der Beschwerdeführer im Ausland die Scheidungsklage eingereicht hatte. Damit liegt ohne weiteres ein internationales Verhältnis im Sinne von Art. 1 Abs. 1 IPRG vor. Die Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte und Behörden richtet sich nach dem IPRG, zumal hierfür zwischen der Schweiz und der Tschechischen Republik kein dem Bundesgesetz vorgehender Staatsvertrag besteht ( Art. 1 Abs. 1 lit. a, Abs. 2 IPRG ).

3.2 Es ist zu Recht unbestritten, dass sich die Zuständigkeit schweizerischer Gerichte zum Erlass von Massnahmen nicht auf Art. 62 Abs. 1 IPRG stützen lässt, da in der Schweiz kein Scheidungsverfahren hängig ist. Für Massnahmen betreffend die ehelichen Rechte und Pflichten - worunter die von der Beschwerdeführerin anbegehrten Eheschutzmassnahmen gemäss Art. 172 ff. grundsätzlich fallen - sind die Gerichte in der Schweiz als Wohnsitzstaat eines der Ehegatten zuständig ( Art. 46 IPRG ). Sobald die Klage eines Ehegatten auf Scheidung beim zuständigen Gericht rechtshängig gemacht worden ist, können Eheschutzmassnahmen für die Zeit nach Eintritt der Rechtshängigkeit nicht mehr getroffen werden, sondern nur noch vorsorgliche Massnahmen während des Scheidungsverfahrens angeordnet werden ( BGE 129 III 60 E. 2 S. 61 mit Hinweisen). Das Bundesgericht hat entschieden, dass diese für Binnensachverhalte geltende Regel auch in internationalen Verhältnissen grundsätzlich massgebend ist (Urteil 5C.243/1990 vom 5. März 1991, E. 2c, SJ 1991 S. 463). Vorliegend hat die Beschwerdegegnerin das Gesuch um Eheschutzmassnahmen in der Schweiz als Wohnsitzstaat zu einem Zeitpunkt (am 18. Oktober 2005) gestellt, als die Scheidungsklage in Prag (seit dem 4. Juli 2005) bereits hängig war. Damit sind die schweizerischen Gerichte zur Anordnung von Eheschutzmassnahmen grundsätzlich nicht mehr zuständig.

3.3 Die Zuständigkeit des schweizerischen Eheschutzrichters ist allerdings vorbehalten, wenn von vornherein, d.h. bereits bei Einleitung des Eheschutzverfahrens offensichtlich ist, dass ein im Ausland ergangenes Scheidungsurteil in der Schweiz nicht anerkannt werden kann (vgl. BGE 86 II 303 E. 3 S. 310; WALTER BÜHLER/KARL SPÜHLER, Berner Kommentar, N. 9 zu Art. 145 ZGB ; MICHEL CZITRON, Die vorsorglichen Massnahmen während des Scheidungsprozesses, Diss. St. Gallen 1995, S. 170; ANDREAS BUCHER, Le couple en droit international privé, Basel 2004, Rz. 184). Vorliegend sind die
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Wohnsitzverhältnisse des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der Einleitung der Scheidungsklage in seinem Heimatstaat umstritten. Diese können für die Anerkennbarkeit des in Tschechien ergangenen Scheidungsurteils zwar entscheidend sein (vgl. Art. 65 IPRG sowie Art. 2 des Übereinkommens vom 1. Juni 1970 über die Anerkennung von Ehescheidungen und Ehetrennungen [SR 0.211.212.3]), doch erlaubt hier die blosse Strittigkeit der Wohnsitzverhältnisse nicht, bereits im Rahmen der Einreichung des Eheschutzbegehrens die offensichtliche Unzuständigkeit des Scheidungsgerichts in Tschechien anzunehmen, und das ausländische Scheidungsverfahren daher als unbeachtlich zu erklären. Somit bleibt es dabei, dass sich vorliegend die Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte zur Anordnung von Eheschutzmassnahmen nicht auf Art. 46 IPRG stützen lässt. Bleibt zu prüfen, ob eine Zuständigkeit gemäss Art. 10 IPRG in Frage kommt, wonach die schweizerischen Gerichte und Behörden vorsorgliche Massnahmen treffen, auch wenn sie für die Entscheidung in der Hauptsache nicht zuständig sind.

3.4 Nichts anderes lässt sich aus dem von beiden Parteien sowie dem Obergericht erwähnten BGE 104 II 246 ableiten. Mit diesem Urteil entschied das Bundesgericht, dass die Zuständigkeit des schweizerischen Eheschutzrichters nicht schon mit der Einleitung des Scheidungsverfahrens im Ausland entfällt, sondern erst dann, wenn der ausländische Richter vorsorgliche Massnahmen für die Dauer des Prozesses angeordnet hat und diese in der Schweiz vollstreckbar erklärt worden sind. Solange dies nicht erfolgt ist, besteht nach dem erwähnten Urteil die Zuständigkeit des schweizerischen Richters weiter, "derartige Massnahmen" anzuordnen ( BGE 104 II 246 E. 3 S. 248 am Ende). Mit diesem vor Inkrafttreten des IPRG ergangenen Urteil wurde zum Ausdruck gebracht, dass es in solchen Fällen der schweizerischen Rechtsordnung obliegt, für einen lückenlosen Schutz zu sorgen ( BGE 104 II 246 E. 3 S. 247). In der Lehre wurde zu Recht erkannt, dass es sich insoweit (d.h. nach Einleitung der Scheidungsklage im Ausland) inhaltlich um vorsorgliche Massnahmen (aArt. 145, Art. 137 ZGB ) handelt, welche in der Schweiz während des im Ausland hängigen, grundsätzlich anerkennbaren (E. 3.3) Scheidungsverfahrens angeordnet werden (BÜHLER/SPÜHLER, a.a.O., N. 416 und 9 zu Art. 145 ZGB ; ANDREAS BUCHER, Droit international privé suisse, Bd. II: Personnes, famille, successions, Basel 1992, Rz. 538; DANIEL CANDRIAN, Scheidung und Trennung im internationalen Privatrecht der Schweiz, Diss. St. Gallen 1994, S. 67; DANIEL TRACHSEL,
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Konkurrierende Zuständigkeiten in internationalen Familienrechtsfällen - einige praktische Hinweise, AJP 2003 S. 450). Nach Inkrafttreten des IPRG hat das Bundesgericht im Urteil 5C.243/1990 vom 5. März 1991 (E. 2c und 5a, SJ 1991 S. 463, 465) bestätigt, dass der in BGE 104 II 246 ausgesprochene Grundsatz eines lückenlosen Rechtsschutzes, d.h. die Gewährleistung des notwendigen und unverzüglichen Schutzes durch Massnahmen in internationalen Scheidungen bei der Tragweite von Art. 10 IPRG zu berücksichtigen ist. Das Obergericht hat zu Recht angenommen, dass Art. 10 IPRG eine schweizerische Massnahmenzuständigkeit begründen kann, wenn - wie hier - die Scheidungsklage vor einem ausländischen Gericht hängig ist.

3.5 Der Beschwerdeführer behauptet allerdings, dass die Vorinstanz die Voraussetzungen zum Erlass von vorsorglichen Massnahmen in der Schweiz zu Unrecht als erfüllt betrachtet habe.

3.5.1 Im bereits erwähnten Urteil aus dem Jahre 1991 hat das Bundesgericht (vor dem Hintergrund des in BGE 104 II 246 festgelegten Grundsatzes) Fallgruppen aufgezählt, in welchen in Bezug auf Scheidungssachen ein Rechtsschutzinteresse für den Erlass von vorsorglichen Massnahmen gestützt auf Art. 10 IPRG besteht. Dies ist der Fall, (1.) wenn das vom ausländischen Gericht anzuwendende Recht keine dem Art. 137 ZGB (aArt. 145 ZGB) vergleichbare Regelung kennt; (2.) wenn Massnahmenentscheide des ausländischen Scheidungsgerichts am schweizerischen Wohnsitz der Partei(en) nicht vollstreckt werden können; (3.) wenn Massnahmen zur Sicherung künftiger Vollstreckung in Vermögensobjekte in der Schweiz angeordnet werden sollen; (4.) wenn Gefahr in Verzug ist, oder (5.) wenn man nicht damit rechnen kann, dass das ausländische Gericht innert angemessener Frist entscheidet (Urteil 5C.243/1990 vom 5. März 1991, E. 5a und b, SJ 1991 S. 465 f.). Diese Rechtsprechung zum Erlass vorsorglicher Massnahmen gestützt auf Art. 10 IPRG für den Fall, dass im Ausland eine Scheidungsklage hängig ist, wird in der Lehre bestätigt (IVO SCHWANDER, AJP 1992 S. 409, 2001 S. 609; BUCHER, Le couple, a.a.O., Rz. 340; PAUL VOLKEN, in: Zürcher Kommentar zum IPRG, 2. Aufl. 2004, N. 10 zu Art. 62 IPRG ; BERNARD DUTOIT, Commentaire de la loi fédérale du 18 décembre 1987, 4. Aufl. 2005, N. 2 zu Art. 62 IPRG ; LUKAS BOPP, in: Basler Kommentar, Internationales Privatrecht, 2. Aufl., 2007, N. 10 zu Art. 62 IPRG ), und es gibt keinen Anlass, diese in Frage zu stellen.

3.5.2 Der Einwand des Beschwerdeführers, die Voraussetzungen zum Erlass von vorsorglichen Massnahmen in der Schweiz seien
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vorliegend nicht erfüllt, geht fehl. Der Beschwerdeführer übergeht, dass die nicht erwerbstätige Beschwerdegegnerin (geboren 1947) in ihrem Begehren vom 18. Oktober 2005 an das Amtsgericht neben Unterhaltsbeiträgen die Zuweisung der ehelichen Wohnung verlangt hatte mit der Begründung, der Beschwerdeführer habe den Bankauftrag für monatliche Mietzinszahlungen bereits per Ende Mai 2005 widerrufen. Bei dieser Sachlage kann dem Obergericht nicht vorgeworfen werden, dass es die Frage, ob vom ausländischen Gericht innert Frist eine entsprechende Entscheidung erwartet werden könne, nicht weiter erörtert hat. Wenn - wie hier - die Bezahlung des Mietzinses für die Wohnung seit mehreren Monaten in Frage steht und die Beschwerdegegnerin als Gesuchstellerin über kein Erwerbseinkommen verfügt, ist nicht zu beanstanden, wenn das Obergericht von einer in Verzug stehenden Gefahr ausgegangen ist und dem Massnahmenrichter erlaubt hat, sofort über die eheliche Wohnung und die Unterhaltsbeiträge zu entscheiden. Es liegt keine Verletzung von Art. 10 IPRG vor, wenn das Obergericht die schweizerische Zuständigkeit zum Erlass von vorsorglichen Massnahmen und das Rechtsschutzinteresse der Beschwerdeführerin angenommen hat. Dass das Gericht in Prag mit Urteil vom 5. September 2006 angeblich die Scheidung ausgesprochen haben soll, ändert im Übrigen nichts daran, dass die schweizerischen Gerichte zuständig sind, während des seit 4. Juli 2005 im Ausland hängigen Scheidungsverfahrens vorsorgliche Massnahmen anzuordnen.

3.6 Nach dem Dargelegten liegt keine Verletzung der Regeln über die internationale Zuständigkeit bzw. kein Nichtigkeitsgrund gemäss Art. 68 Abs. 1 lit. e OG vor. Zwar hat der erstinstanzliche Richter als Eheschutzrichter entschieden und hat das Obergericht dies durch Abweisung des Rekurses geschützt, obwohl es die Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte - zu Recht - auf Art. 10 IPRG stützte. Dies allein kann aber nicht zur Aufhebung des angefochtenen Entscheides führen, wird doch zu Recht nicht geltend gemacht, die vom erstinstanzlichen Richter getroffenen Anordnungen hätten nicht auch als vorsorgliche Massnahmen erlassen werden können.

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