Urteilskopf
135 III 97
14. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Z. (Beschwerde in Zivilsachen)
5A_289/2008 vom 4. Dezember 2008
Regeste
Art. 530 i.V.m.
Art. 533 Abs. 3 ZGB
; einredeweise Geltendmachung des Herabsetzungsanspruchs bei einem Rentenlegat; Untergang des Herabsetzungsanspruchs durch Verzicht.
Ein Erbe kann sich gemäss Art. 530 i.V.m.
Art. 533 Abs. 3 ZGB
einredeweise gegen eine pflichtteilsverletzende Rentenbelastung wehren. Die Einrede steht ihm jedoch nicht zu, wenn er auf seinen Herabsetzungsanspruch verzichtet hat (E. 3).
Leistet der rentenbelastete Erbe jahrelang in Kenntnis aller zur Begründung seines Herabsetzungsanspruchs wesentlichen Elemente vorbehaltlos Zahlungen an die Rentenbegünstigte, muss dieses Verhalten als konkludenter Verzicht auf die Geltendmachung des Herabsetzungsanspruchs gewertet werden (E. 3.2).
A.a
Y. verstarb 1985. Bis zu seinem Tod lebte er mit seiner Lebenspartnerin W. zusammen. Als Erben hat Y. seine beiden Kinder R. und Z. hinterlassen.
A.b
Y. hatte am 16. Juli 1982 ein öffentliches Testament mit folgendem Wortlaut errichten lassen:
"[...]
Art. 3
Meine Erben haben W. vom Tage meines Ablebens hinweg je eine lebenslängliche vorschüssige Rente auszurichten, nämlich
a) R. bezahlt monatlich einen Betrag von Fr. 2'700.-.
b) Z. bezahlt monatlich einen Betrag von Fr. 2'900.-.
[...]"
Am 24. Februar 1984 errichtete Y. im Sinne eines Nachtrags ein weiteres öffentliches Testament. Darin änderte er die in Art. 3 des Testaments vom 16. Juli 1982 festgesetzten Rentenbeträge zugunsten von W. dahingehend ab, dass er die monatliche Rentenzahlung seiner Tochter R. auf Fr. 2'500.- und diejenige seines Sohnes Z. auf Fr. 3'000.- festsetzte.
B.a
Nachdem Z. in der Zeit von März 1985 bis Ende Dezember 2005 seiner Rentenzahlungspflicht gegenüber W. nachgekommen
BGE 135 III 97 S. 99
war und ihr in 249 Renten einen Betrag von Fr. 747'000.- bezahlt hatte, stellte er per Januar 2006 die Rentenzahlung ein.
B.b
Im März 2006 leitete W. gegen Z. für die seit Januar 2006 ausstehenden Rentenzahlungen die Betreibung ein, worauf dieser Rechtsvorschlag erhob.
Mit Klage vom 9. Oktober 2006 beantragte W., Z. sei zu verpflichten, ihr eine Rente von Fr. 3'000.- für die Zeit vom 1. Januar 2006 bis zu ihrem Ableben zu bezahlen, nebst Verzugszins von 5 %. Weiter verlangte sie die Erteilung der definitiven Rechtsöffnung in der Betreibung Nr. x des Betreibungsamtes A.
Der Gerichtspräsident 1 des Gerichtskreises VII Bern-Laupen hiess diese Klage am 29. März 2007 gut und erteilte die definitive Rechtsöffnung.
B.c
Am 31. März 2007, zwei Tage nach der erstinstanzlichen Verhandlung, verstarb W. Sie hinterliess ihren Sohn X. als einzigen gesetzlichen Erben.
B.d
Mit Eingabe vom 2. April 2007 erklärte Z. Appellation beim Obergericht des Kantons Bern und verlangte die Abweisung der Klage.
Mit Urteil vom 12. März 2008 wies das Obergericht die Klage ab.
C.
X. (fortan: Beschwerdeführer) ist am 30. April 2008 mit Beschwerde in Zivilsachen ans Bundesgericht gelangt. Er verlangt die Aufhebung des obergerichtlichen Urteils und die Verurteilung von Z. (fortan: Beschwerdegegner) zur Bezahlung von Fr. 45'000.- nebst Verzugszins von 5 % auf Fr. 39'000.- seit 5. September 2006 bis März 2007 bzw. auf Fr. 45'000.- seit 1. April 2007. Weiter verlangt er die Erteilung der definitiven Rechtsöffnung in der Betreibung Nr. x des Betreibungsamtes A.
Die II. zivilrechtliche Abteilung des Bundesgerichts hat die Angelegenheit am 4. Dezember 2008 an einer öffentlichen Sitzung beraten und die Beschwerde gutgeheissen.
Aus den Erwägungen:
2.
Der Beschwerdeführer verlangt vom Beschwerdegegner, gestützt auf das öffentliche Testament vom 16. Juli 1982 und die Ergänzung vom 24. Februar 1984, monatliche Rentenleistungen für die Zeit von Januar 2006 bis zum Ableben von W. Der Beschwerdegegner
BGE 135 III 97 S. 100
möchte sich von zukünftigen Rentenverpflichtungen befreien, indem er eine Verletzung seines Pflichtteils geltend macht und einredeweise eine Herabsetzung der Rente gemäss Art. 530 i.V.m.
Art. 533 Abs. 3 ZGB
verlangt. Vor Bundesgericht ist streitig, ob dem Beschwerdegegner nach jahrelanger Rentenzahlung die Herabsetzungseinrede noch zusteht.
2.1
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von
Art. 530 und
Art. 533 Abs. 3 ZGB
und bringt vor, dass die einredeweise Geltendmachung des Herabsetzungsanspruchs nicht mehr zulässig sei.
Zur Begründung seiner Rüge führt er insbesondere aus, der Beschwerdegegner habe während rund 20 Jahren die monatliche Rente ausgerichtet und mit der Zahlung in der testamentarisch verfügten Höhe die Erbschaftsbelastung durch den entsprechenden Kapitalwert des Rentenlegats anerkannt. Der Beschwerdegegner könne daher nicht zu einem späteren Zeitpunkt die Leistungen wieder auf ihre Pflichtteilsverletzung hinterfragen. Würde man nach jahrelanger Zahlung die Möglichkeit der einredeweisen Geltendmachung zulassen, so fände ein unwürdiges Spiel rechtlichen Schutz. Der belastete Erbe könnte nämlich vorläufig seine Rentenzahlung aufnehmen und abwarten, ob die begünstigte Person rasch stirbt. Würde die begünstigte Person doch lange leben, könnte nach Jahren die Herabsetzungseinrede erhoben werden und der Rentengläubiger würde von einem Monat zum anderen den Rentenzufluss verlieren, der für seine Lebensgestaltung massgeblich sein könne. Dieses Resultat habe der Gesetzgeber nicht gewollt.
2.2
Das Obergericht und der Beschwerdegegner teilen die Auffassung, dass die Herabsetzung im Rahmen von
Art. 533 Abs. 3 ZGB
jederzeit zulässig sein müsse, da dieses Recht nicht verwirkbar sei. Hinweise darauf, dass die jederzeitige Herabsetzungseinrede, wie vom Beschwerdeführer behauptet, im Falle von
Art. 530 ZGB
nicht zulässig sein sollte, seien weder dem Gesetz noch der Literatur zu entnehmen.
3.
Gemäss
Art. 530 ZGB
können die Erben die verhältnismässige Herabsetzung einer Rente oder, unter Überlassung des verfügbaren Teils der Erbschaft an den Rentengläubiger, deren Ablösung verlangen, wenn der Kapitalwert der Rente nach der mutmasslichen Dauer der Leistungspflicht den verfügbaren Teil der Erbschaft übersteigt. Auch ein einzelner Erbe, der durch die Rente übermässig belastet wird, kann sich unter Preisgabe der ihm gegenüber verfügbaren
BGE 135 III 97 S. 101
Quote von der Last befreien oder eine Herabsetzung der Leistungen verlangen (ARNOLD ESCHER, Das Erbrecht, Kommentar zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch, Bd. III, 3. Aufl. 1959, N. 10 zu
Art. 530 ZGB
).
Die Herabsetzungsklage des in seinen Pflichtteilsrechten verletzten Erben verjährt gemäss
Art. 533 Abs. 1 ZGB
mit Ablauf eines Jahres seit Kenntnis der Pflichtteilsverletzung, längstens aber nach Ablauf von 10 Jahren seit der Eröffnung der letztwilligen Verfügung. Hingegen kann nach
Art. 533 Abs. 3 ZGB
der Herabsetzungsanspruch einredeweise jederzeit geltend gemacht werden, solange der Erbe Besitz an der Erbschaft hat. Der übergangene Erbe wird somit von der Pflicht, Herabsetzungsklage zu erheben, befreit (
BGE 98 II 176
E. 10 S. 181; FORNI/PIATTI, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. II, 3. Aufl. 2007, N. 4 zu
Art. 534 ZGB
).
Das Gesetz gewährt dem rentenbelasteten Erben demnach verschiedene Möglichkeiten, sich gegen eine Pflichtteilsverletzung zu wehren. Er kann eine Herabsetzungsklage erheben und damit entweder die Ablösung der Rente oder die Herabsetzung der einzelnen Ansprüche verlangen oder sich entschliessen, die Rente nicht zu bezahlen und die Herabsetzung mittels Einrede geltend zu machen, wenn er später zur Zahlung aufgefordert wird. Von der Geltendmachung der Herabsetzung wäre der rentenbelastete Erbe nur dann ausgeschlossen, wenn der Anspruch gemäss
Art. 533 ZGB
verwirkt oder durch Verzicht untergegangen wäre.
3.1
Von einer Verwirkung kann vorliegend jedenfalls nicht die Rede sein. Da die Herabsetzung gegenüber einer Klage auf Vollziehung der das Pflichtteilsrecht verletzenden Testamentsbestimmungen angerufen wird, wird sie vom Beschwerdegegner einredeweise geltend gemacht, was nach
Art. 533 Abs. 3 ZGB
jederzeit möglich ist. Bleibt zu prüfen, ob der Herabsetzungsanspruch durch Verzicht untergegangen ist.
3.2
Ein Verzicht auf die Geltendmachung des Herabsetzungsanspruchs ist nach dem Eintritt des Erbgangs durch einseitige, formlose Erklärung gegenüber dem Gläubiger rechtlich möglich. Allein durch passives Verhalten kommt es grundsätzlich nicht zu einem Verzicht, jedoch kann dieser auch stillschweigend (konkludent) erfolgen (
BGE 108 II 288
E. 3a S. 293).
3.2.1
Auf die Herabsetzungs
klage
hat der Beschwerdegegner dadurch verzichtet, dass er die Klagefrist von
Art. 533 Abs. 1 ZGB
BGE 135 III 97 S. 102
verstreichen liess, ohne Klage zu erheben. Aus diesem Umstand kann aber noch nicht ein endgültiger Verzicht auf den Herabsetzungsanspruch abgeleitet werden, weil immer noch die Möglichkeit der einredeweisen Geltendmachung der Herabsetzung bestanden hätte.
3.2.2
Den Akten kann nicht entnommen werden, dass der Beschwerdegegner gegenüber der Rentenbegünstigten, W., je ausdrücklich auf die Herabsetzungs
einrede
verzichtet hätte. Hingegen bleibt zu prüfen, ob aus dem Umstand der jahrelangen Rentenzahlung auf einen stillschweigenden Verzicht geschlossen werden kann.
Die Annahme eines stillschweigenden Verzichts setzt voraus, dass dem Erben die wesentlichen Elemente zur Begründung des Herabsetzungsanspruchs bekannt waren und dass seine Erklärung gegenüber der begünstigten Person hinreichend kundgetan wurde (
BGE 108 II 288
E. 3 S. 292 ff.).
Der Beschwerdegegner macht nicht geltend, die zur Begründung seines Herabsetzungsanspruchs wesentlichen Elemente damals nicht gekannt zu haben. Das angefochtene Urteil äussert sich dazu zwar nicht ausdrücklich, jedoch ergeben sich die entsprechenden Fakten ohne weiteres daraus: Am 9. Februar 1985 verstarb Y. Am 20. Februar 1985 eröffnete die Stadtkanzlei die Testamente. Das Steuerinventar datiert vom 24. März 1986. Aus diesem sind die Bestandteile des Nachlasses und ihre (steuerlich massgebende) Bewertung ersichtlich. Es darf unter diesen Umständen angenommen werden, dass der Beschwerdegegner nach der Eröffnung des Erbgangs über die zur Begründung eines Herabsetzungsanspruchs wesentlichen Elemente, namentlich auch über die Informationen zur Ermittlung des Kapitalwerts der Rente nach der mutmasslichen Dauer der Leistungspflicht, verfügte. Er konnte daher die Vermögenslage genügend einschätzen und musste zumindest davon ausgehen, dass sein Pflichtteil durch die testamentarischen Anordnungen, insbesondere durch das Rentenlegat, mit grosser Wahrscheinlichkeit verletzt sein könnte.
Die Vorinstanzen haben festgestellt, dass der Beschwerdegegner von März 1985 bis Ende Dezember 2005 seiner monatlichen Rentenzahlungspflicht gegenüber W. nachgekommen ist und ihr in 249 Renten einen Betrag von Fr. 747'000.- bezahlt hat. Erst Ende Dezember 2005 hat er kundgegeben, dass er inskünftig keine weiteren Renten bezahlen werde, da sein Pflichtteil verletzt sei. Somit richtete der Beschwerdegegner während 20 Jahren Renten aus, obwohl er von den zur Begründung seines Herabsetzungsanspruchs
BGE 135 III 97 S. 103
wesentlichen Elementen Kenntnis hatte bzw. mit einer Pflichtteilsverletzung ernsthaft rechnen musste. Dass sich der Beschwerdegegner jemals gegenüber der Rentenempfängerin in dem Sinne geäussert hätte, die Renten nur vorläufig, provisorisch oder unter Vorbehalt der späteren Herabsetzung zu bezahlen, wird nirgends festgestellt und vom Beschwerdegegner auch nicht geltend gemacht. Hat der Beschwerdegegner aber in Kenntnis der für die Geltendmachung des Herabsetzungsanspruchs wesentlichen Elemente die Rente jahrelang vorbehaltlos ausgerichtet, hat er die testamentarischen Anordnungen des Erblassers durch konkludentes Handeln anerkannt und auf den Herabsetzungsanspruch verzichtet. Auch die Rentenbegünstigte durfte aufgrund der vorbehaltlosen regelmässigen Zahlungen damit rechnen, bis an ihr Lebensende eine Rente zu erhalten. Sie hat ihre Lebensgestaltung entsprechend danach ausgerichtet und ist in ihrem berechtigten Vertrauen auf den Rentenzufluss zu schützen.
Nach dem Gesagten muss die jahrelange vorbehaltlose Rentenausrichtung an die Begünstigte in Kenntnis aller Umstände als ein stillschweigender (konkludenter) Verzicht auf die Geltendmachung des Herabsetzungsanspruchs gewertet werden, weshalb dieser heute auch nicht mehr einredeweise geltend gemacht werden kann.