Urteilskopf
136 III 545
80. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen X. USA Ltd. (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_438/2010 vom 15. November 2010
Regeste
Art. 139 OR
; analoge Anwendung auf Verwirkungsfristen; Anwendung trotz fehlendem Rückweisungsentscheid; Anwendung bei irrtümlicher Parteibezeichnung.
Bestätigung der Praxis, wonach die ratio legis von
Art. 139 OR
nach einer analogen Anwendung dieser Bestimmung auf Verwirkungsfristen des Bundeszivilrechts ruft (E. 3.1). Anwendung von
Art. 139 OR
, obwohl kein Rückweisungsentscheid im Sinne dieser Norm ergangen war, weil die fehlerhafte Prozesseinleitung erst in einem späteren Prozessstadium bekannt wurde (E. 3.2).
Art. 139 OR
ist im Hinblick auf die Wahrung von Verwirkungsfristen anwendbar, wenn bei der fehlerhaften Klageeinleitung versehentlich eine falsche Parteibezeichnung verwendet bzw. eine nicht aktiv- oder nicht passivlegitimierte Person aufgeführt wird und dieses Versehen für den Schuldner erkennbar ist (E. 3.4.1).
A. (Beschwerdeführer) schloss am 25. September 2003 mit B. eine Vereinbarung betreffend Übernahme von 5 % des Aktienkapitals der Y. AG zum Kaufpreis von EUR 400'000.-. Gemäss Ziffer 2 der Vereinbarung stand dem Beschwerdeführer bis zum 1. Oktober 2004 das Recht zu, B. 3 % des Aktienkapitals zu einem Preis von EUR 400'000.- zurückzugeben. Gemäss Ziffer 3 der Vereinbarung wurde diese Option so abgesichert, dass dem Beschwerdeführer eine Versicherungsgarantie von der X. in Zürich im Betrag von EUR 400'000.- übergeben werden sollte. In der Folge wurde eine "Bürgschaftsgarantie" zwischen dem Beschwerdeführer und der X. USA Ltd. (Beschwerdegegnerin) abgeschlossen, die bis Ende 2007 befristet war. In der "Bürgschaftsgarantie" wurde als "Zustellungsempfängerin" der Beschwerdegegnerin die X. (Europe) AG mit Sitz in T. bestimmt.
Mit Schreiben vom 21. Dezember 2007 zeigte der Beschwerdeführer der Beschwerdegegnerin an, dass er die "Bürgschaftsgarantie" in Anspruch nehmen wollte. Die Beschwerdegegnerin lehnte jedoch ihre Leistungspflicht mit Schreiben vom 11. Januar 2008 ab, weil die Anzeige nicht rechtzeitig erfolgt sei.
Der Beschwerdeführer reichte am 28. Januar 2008 ein Sühnebegehren beim Friedensrichteramt T. ein, in dem er statt der Beschwerdegegnerin die X. (Europe) AG als Beklagte aufführte. Am 11. März 2008 fand eine Sühneverhandlung statt und am selben Tag wurde die Weisung ausgestellt.
Mit Klage vom 5. Juni 2008 beantragte der Beschwerdeführer dem Handelsgericht des Kantons Zürich, die Beschwerdegegnerin sei zu verpflichten, ihm den Betrag von EUR 400'000.- zuzüglich Zinsen von 5 % seit 1. Februar 2008, Zug um Zug gegen Herausgabe der
BGE 136 III 545 S. 547
Aktien gemäss Vereinbarung vom 25. September 2003 (3 % der Y. AG), zu bezahlen.
Das Handelsgericht wies die Klage mit Urteil vom 15. Juni 2010 ab. Es befand, die Garantie sei nicht rechtzeitig im Sinne von
Art. 510 Abs. 3 OR
geltend gemacht worden und damit sei die Garantieforderung verwirkt.
Der Beschwerdeführer beantragt mit Beschwerde in Zivilsachen, dieses Urteil aufzuheben und die Klage gutzuheissen, eventuell den Prozess an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde aus nicht publizierten Erwägungen gut.
(Zusammenfassung)
Aus den Erwägungen:
3.1
Die Beschwerdegegnerin hält dafür, die Klage hätte schon deshalb abgewiesen werden müssen, weil die analoge Anwendung von
Art. 139 OR
auf gesetzliche oder vertragliche Verwirkungsfristen grundsätzlich nicht sachgerecht sei. Damit widerspricht sie der langjährigen und konstanten bundesgerichtlichen Rechtsprechung, nach der
Art. 139 OR
bezüglich Verwirkungsfristen des Bundeszivilrechts analog anwendbar ist (vgl. namentlich mit ausführlicher Begründung
BGE 89 II 304
E. 6;
61 II 148
E. 5; ferner
BGE 109 III 49
E. 4b S. 51;
BGE 103 II 15
E. 3c; je mit Hinweisen; vgl. auch die weiteren Hinweise bei STEPHEN V. BERTI, Zürcher Kommentar, 3. Aufl. 2002, N. 73 f. zu
Art. 139 OR
; ROBERT K. DÄPPEN, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2007, N. 4 zu
Art. 139 OR
; PASCAL PICHONNAZ, in: Commentaire romand, Code des obligations, Bd. I, 2003, N. 6 zu
Art. 139 OR
). Nach dieser bestehen für eine sinngemässe Anwendung von
Art. 139 OR
auf Verwirkungsfristen zureichende Gründe. Diese Norm will dem Gläubiger Gelegenheit geben, die unbillige Härte zu vermeiden, die darin liegen würde, dass sein Anspruch der Verjährung anheimfallen müsste, wenn die noch während deren Lauf angehobene Klage aus einem der vom Gesetz erwähnten Gründe zurückgewiesen wird und unterdessen die Verjährungsfrist abgelaufen ist. Sinn und Zweck von
Art. 139 OR
besteht mithin darin, den Gläubiger, der sein Interesse an der Geltendmachung der Forderung qualifiziert und rechtzeitig, indessen fehlerhaft bekundet hat, vor der Verjährung zu schützen, weil der Schuldner über dessen Absicht, die Forderung durchzusetzen, auch
BGE 136 III 545 S. 548
dadurch Gewissheit erlangt hat und damit das zur Wahrung seiner Interessen Notwendige vorkehren kann. Bei Verwirkungsfristen ist die Sach- und Interessenlage nicht anders, weshalb die ratio legis von
Art. 139 OR
nach einer sinngemässen Anwendung in diesen Fällen ruft. Es wäre nicht minder unbillig im Sinne der Wertung des Gesetzgebers, einen Anspruch als materiell verwirkt betrachten zu müssen, wenn er binnen der dafür bestehenden Klagefrist geltend gemacht wird, die Klage aber nach Ablauf der Frist aus einem der in
Art. 139 OR
genannten Gründe zurückgewiesen wird (
BGE 114 II 335
E. 3a S. 338;
BGE 89 II 304
E. 6 S. 308;
61 II 148
E. 5a; vgl. dazu ferner: PICHONNAZ, a.a.O., N. 1 f. zu
Art. 139 OR
; teilweise abweichend BERTI, a.a.O., N. 3 zu
Art. 139 OR
und DÄPPEN, a.a.O., N. 1 zu
Art. 139 OR
).
Die Beschwerdegegnerin hält dafür, einer sinngemässen Anwendung von
Art. 139 OR
auf Verwirkungsfristen stehe entgegen, dass sich Wortlaut und Systematik der Norm ausschliesslich auf Verjährungsfristen bezögen. Das Bundesgericht verwarf dieses Argument in
BGE 61 II 148
E. 5c und 5f mit eingehender Begründung. Auf diese kann hier vollumfänglich verwiesen werden, da sich die Beschwerdegegnerin mit den entsprechenden Erwägungen nicht auseinandersetzt und nicht aufzeigt, inwiefern ihrer Ansicht nach insoweit Anlass für eine Praxisänderung bestehen soll (nicht publ. E. 1.2).
Weiter bringt die Beschwerdegegnerin zur Begründung ihres Standpunkts vor, dass Verwirkungsfristen im Gegensatz zu Verjährungsfristen nicht unterbrochen werden könnten. Zudem seien Verwirkungsfristen regelmässig wesentlich kürzer als Verjährungsfristen und bezweckten eine rasche und endgültige Klärung der Rechtslage; eine Verlängerung um die sechzigtägige Frist nach
Art. 139 OR
würde im vorliegenden Fall auf eine Verlängerung der Frist um mehr als das Doppelte hinauslaufen. Damit vermag die Beschwerdegegnerin indessen nicht zu widerlegen, dass die für eine Anwendung von
Art. 139 OR
sprechende Interessenlage bei Verjährungs- und Verwirkungsfristen dieselbe ist. Das Bundesgericht legte denn auch eingehend dar, weshalb die Anwendung von
Art. 139 OR
auf Verwirkungsfristen mit deren Natur nicht unvereinbar ist, und verneinte insbesondere, dass ein Interesse an einer raschen Streiterledigung, soweit Verwirkungsfristen dieses schützen, zu einer anderen Beurteilung führe (
BGE 89 II 304
E. 6 S. 309 f.;
61 II 148
E. 5e). Die Beschwerdegegnerin setzt sich mit dieser Rechsprechung in
BGE 136 III 545 S. 549
keiner Weise auseinander, weshalb vorliegend kein Anlass zu deren Überprüfung besteht (nicht publ. E. 1.2).
Die Vorinstanz verletzte mithin kein Bundesrecht, indem sie
Art. 139 OR
auf die Verwirkungsfrist nach
Art. 510 Abs. 3 OR
analog anwendete.
3.2
Im Weiteren ist zu prüfen, ob die Vorinstanz eine Verwirkung der Garantieforderung im Zusammenhang mit der Einleitung der Klage beim Friedensrichter innerhalb der Frist nach
Art. 510 Abs. 3 OR
statt direkt beim Handelsgericht zu Recht bejahte.
Die Beschwerdegegnerin macht insoweit vorsorglich geltend, eine Anwendung von
Art. 139 OR
entfalle vorliegend schon deshalb, weil eine Rückweisung der Klage durch den Friedensrichter im Sinne dieser Bestimmung nicht erfolgt sei.
Dem kann nicht gefolgt werden. Die Beschwerdegegnerin beruft sich zur Begründung ausschliesslich auf den "klaren Wortlaut" von
Art. 139 OR
. Nach Rechtsprechung und Lehre kommt eine Nachfrist aber ungeachtet des Wortlauts der Bestimmung nicht nur in Frage, wenn ein formeller Rückweisungsentscheid ergeht, sondern auch wenn der Ansprecher seine Klage, noch bevor ein Nichteintretensentscheid ergeht, angebrachtermassen zurückzieht. In einem solchen Fall die Rechtswohltat einer Nachfrist schon grundsätzlich abzuerkennen, weil kein Nichteintretensentscheid abgewartet wurde bzw. erging, liefe auf einen überspitzten Formalismus hinaus (
BGE 72 II 326
E. 4 S. 330 ff.; vgl. auch
BGE 85 II 504
E. 3b S. 510 f.; DÄPPEN, a.a.O., N. 9 zu
Art. 139 OR
; PICHONNAZ, a.a.O., N. 9 und 12 zu
Art. 139 OR
). Eine Nachfrist nach
Art. 139 OR
fällt demnach nicht nur dann in Betracht, wenn ein formeller Nichteintretensentscheid ergangen ist. Das in
Art. 139 OR
genannte Tatbestandselement der (rechtskräftigen) Rückweisung als Voraussetzung für die (Auslösung einer) Nachfrist ist demnach nur insoweit als wesentlich zu betrachten, als damit mit hinreichender Sicherheit feststeht, dass die Klage fehlerhaft eingeleitet wurde und der Ansprecher davon Kenntnis erhalten hat (vgl.
BGE 109 III 49
E. 4d, wo die Rechtssicherheit besonders betont wird).
Nach den vorinstanzlichen Feststellungen fehlte der Friedensrichterin, die der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall mit seinem Sühnebegehren vom 28. Januar 2008 vor Ablauf der Frist nach
Art. 510 Abs. 3 OR
anrief, die Kompetenz zum Erlass eines formellen Rückweisungsentscheids. Ohnehin habe sie ihre funktionelle
BGE 136 III 545 S. 550
Unzuständigkeit gar nicht erkannt und dieselbe demnach auch nicht festgestellt. Der Beschwerdeführer habe in Unkenntnis der fehlerhaften Prozesseinleitung die Klage innerhalb der dreimonatigen Frist (zur Prosequierung der Klage) nach
§ 101 ZPO
/ZH beim Handelsgericht rechtshängig gemacht. Erst nachdem die Beschwerdegegnerin die Einrede erhob, gegen sie sei kein Sühneverfahren durchgeführt worden, stellte das Handelsgericht in seiner Verfügung vom 18. November 2008 fest, dass die Klage ohne Sühneverfahren bei ihm rechtshängig zu machen gewesen wäre, weshalb das Verfahren ohne Weiterungen schriftlich fortzusetzen sei.
Der Beschwerdeführer hatte somit von der fehlerhaften Klageeinleitung bis zur Zustellung der Verfügung vom 18. November 2008 gar keine Kenntnis und diese war vorher im Prozess überhaupt kein Thema. In diesem Fall bei Bekanntwerden des Fehlers eine Verwirkung der Forderung wegen verspäteter rechtlicher Geltendmachung anzunehmen, unter grundsätzlichem Ausschluss einer Fristwahrung nach
Art. 139 OR
, weil kein formeller Nichteintretensentscheid ergangen ist, erschiene im Lichte des vorstehend Ausgeführten als unhaltbar. Solches liefe offensichtlich dem Zweck von
Art. 139 OR
zuwider, den Ansprecher, der die Klage - innerhalb der Verjährungs- bzw. Verwirkungsfrist - fehlerhaft eingeleitet hat, vor einem Rechtsverlust zu schützen, wenn dadurch keine schutzwürdigen Interessen der Gegenpartei tangiert werden.
Die Vorinstanz verletzte demnach kein Bundesrecht, indem sie die Anwendbarkeit von
Art. 139 OR
nicht schon deshalb ausschloss, weil kein Rückweisungsentscheid ergangen war.
(...)
3.4.1
Die Beschwerdegegnerin hält vorsorglich dafür, bei Einklagung einer falschen Person sei
Art. 139 OR
von vornherein nicht anwendbar, da es sich dabei nicht um einen verbesserlichen Fehler im Sinne dieser Bestimmung handle. Die Vorinstanz habe
Art. 139 OR
auch insoweit zu Unrecht für grundsätzlich anwendbar betrachtet.
Diese Argumentation stösst ins Leere. Der Vorinstanz entging nicht, dass
Art. 139 OR
nicht anwendbar ist, wenn der Ansprecher die falsche Person eingeklagt hat, der die Passivlegitimation fehlt, da es sich dabei nicht um einen verbesserlichen Fehler im Sinne dieser Norm handelt (
BGE 114 II 335
E. 3a S. 338;
32 II 186
E. 2 S. 189; Urteil 5C.31/2005 vom 29. September 2005 E. 1.2, nicht publ. in:
BGE 136 III 545 S. 551
BGE 132 III 1
; vgl. DÄPPEN, a.a.O., N. 8a zu
Art. 139 OR
; BERTI, a.a.O., N. 28 zu
Art. 139 OR
). Sie hielt indessen dafür, die fehlerhafte Parteibezeichnung sei dann als verbesserlicher Fehler zu betrachten, wenn diese auf einem Versehen beruhe und die passivlegitimierte Person erkenne oder nach dem Vertrauensprinzip erkennen müsse, dass die Ansprüche nach dem wirklichen Willen des Ansprechers nicht gegen die im Rubrum aufgeführte Person, sondern gegen sie erhoben würden. Inwiefern die Vorinstanz damit Bundesrecht verletzt haben soll, legt die Beschwerdegegnerin nicht dar und ist auch nicht ersichtlich. Vielmehr entspricht dies der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, nach der eine Berichtigung der Parteibezeichnung zulässig ist, wenn jede Gefahr einer Verwechslung ausgeschlossen werden kann (vgl.
BGE 131 I 57
E. 2.2 S. 63;
BGE 120 III 11
E. 1b S. 13 f.;
BGE 114 II 335
E. 3a S. 337), und nach der eine Unterbrechungshandlung im Sinne von
Art. 135 Ziff. 2 OR
durch eine nicht aktivlegitimierte oder gegen eine nicht passivlegitimierte Person die Verjährung dann zu unterbrechen vermag, wenn keine Zweifel an der wahren Identität der Partei bestehen, indem der Schuldner nach den Umständen trotz unrichtiger Parteibezeichnung die Absicht des Gläubigers, ihn ins Recht zu fassen, erkennt oder erkennen muss. In diesen Fällen wird der Schuldner nicht in seinen schutzwürdigen Interessen verletzt, wenn trotz der fehlenden Aktiv- oder Passivlegitimation des irrtümlich als Partei aufgeführten Dritten die Verjährung unterbrochen wird, da er jedenfalls über die Absicht des Gläubigers seine Forderung durchzusetzen, Gewissheit hat (
BGE 114 II 335
E. 3a S. 337 f. mit ausdrücklicher Bezugnahme auf
Art. 139 OR
; Urteile 4C.363/2006 vom 13. März 2007 E. 4.2; 4C.185/2005 vom 19. Oktober 2006 E. 3.2). Diese Rechtsprechung verfolgt den gleichen Zweck wie
Art. 139 OR
(
BGE 114 II 335
E. 3a S. 338), weshalb es sich nach dem in der vorstehenden Erwägung 3.1 Ausgeführten rechtfertigt, sie auch auf Handlungen zur Wahrung von Verwirkungsfristen anzuwenden.
Die Vorinstanz erwog mithin zu Recht, es sei zu prüfen, ob dem Beschwerdeführer bei der Klageeinleitung ein Versehen in der Parteibezeichnung unterlief und ob die Beschwerdegegnerin erkannte bzw. nach dem Vertrauensprinzip erkennen musste, dass die Ansprüche gegen sie und nicht gegen die im Sühnebegehren genannte X. (Europe) AG geltend gemacht wurden.