Urteilskopf
138 V 434
52. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen gegen H. (Be- schwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_729/2011 vom 15. November 2012
Regeste
Art. 14 Abs. 2 AVIG
; Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit, ähnliche Gründe.
Die Aussteuerung des Ehepartners aus der Arbeitslosenversicherung gilt nicht als ähnlicher Grund im Sinne des
Art. 14 Abs. 2 AVIG
(E. 8).
Hingegen kann - je nach den konkreten Umständen im Einzelfall - das unerwartete und plötzliche Dahinfallen von Leistungen der Haftpflichtversicherung an den Ehepartner einen Befreiungsgrund gemäss
Art. 14 Abs. 2 AVIG
darstellen (E. 9 und 10).
A.
H., geboren 1964, ist verheiratet und Mutter von Zwillingen (Geburtsjahr 2002). Ihrem Ehemann wurden infolge eines im Jahr 1999 erlittenen Unfalls unter anderem Leistungen der Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers ausgerichtet. Nachdem er eine von der Invalidenversicherung unterstützte Umschulung absolviert hatte, blieb er arbeitslos und wurde am 24. April 2009 bei der Arbeitslosenversicherung ausgesteuert. H. hatte seit über acht Jahren keine Erwerbstätigkeit mehr ausgeübt, als sie sich auf den 17. August 2009 als Zeichnerin Konstruktiver Hochbau/Sachbearbeiterin bei der E. AG anstellen liess. Das Arbeitsverhältnis wurde durch schriftliche Kündigung der Arbeitgeberin vom 4. September 2009 während der Probezeit per 11. September 2009 aufgelöst. Die Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers richtete letztmals am 24. Dezember 2009 eine monatliche Zahlung von Fr. 4'719.- aus und überwies am 29. Dezember 2009 Fr. 50'000.- als Schlusszahlung. Am 22. April 2010 stellte H. Antrag auf Arbeitslosenentschädigung ab sofort, wobei sie darauf hinwies, dass sie Leistungen der Arbeitslosenversicherung infolge Aussteuerung des Ehemannes aus der Arbeitslosenversicherung und Wegfalls seiner Unterstützung durch die Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers fordere. Mit Verfügung vom 17. Mai 2010 verneinte die Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen einen Anspruch auf Arbeitslosentaggelder mit der Begründung, die Aussteuerung des Ehemannes berechtige nicht zum Bezug von Arbeitslosenentschädigung. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 25. Juni 2010 fest.
B.
In teilweiser Gutheissung der dagegen geführten Beschwerde hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen den Einspracheentscheid auf und wies die Sache zur Prüfung der wirtschaftlichen
BGE 138 V 434 S. 436
Zwangslage und anschliessenden Neuverfügung an die Arbeitslosenkasse zurück (Entscheid vom 15. Juni 2011).
C.
Die Arbeitslosenkasse erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass H. nicht von der Erfüllung der Beitragszeit befreit sei.
H. stellt das Rechtsbegehren, es seien ihr ab 22. April 2010 Arbeitslosentaggelder auszurichten. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) schliesst auf Gutheissung der Beschwerde.
Aus den Erwägungen:
5.1
Nach
Art. 14 Abs. 2 Satz 1 AVIG
(SR 837.0) sind Personen von der Erfüllung der Beitragszeit befreit, die wegen Trennung oder Scheidung der Ehe, wegen Invalidität (
Art. 8 ATSG
; SR 830.1) oder Todes des Ehegatten oder aus ähnlichen Gründen oder wegen Wegfalls einer Invalidenrente gezwungen sind, eine unselbstständige Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder zu erweitern.
5.2
Art. 14 Abs. 2 AVIG
ist in erster Linie für jene Fälle vorgesehen, in denen die Person, welche durch Geldzahlungen an den Unterhalt der Familie beiträgt, oder die Erwerbsquelle plötzlich aus- oder weggefallen ist. Sie zielt auf Versicherte, die nicht auf die Aufnahme, Wiederaufnahme oder Ausdehnung der Erwerbstätigkeit vorbereitet sind und aus wirtschaftlicher Notwendigkeit in verhältnismässig kurzer Zeit neu disponieren müssen (
BGE 137 V 133
E. 4.2 S. 135; THOMAS NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 2252 Rz. 243).
5.3
Gemäss Rechtsprechung ist eine Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit nach
Art. 14 Abs. 2 AVIG
nur möglich, wenn zwischen dem geltend gemachten Grund und der Notwendigkeit der Aufnahme oder Erweiterung einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit ein Kausalzusammenhang gegeben ist. Dabei ist kein strikter Kausalitätsnachweis im naturwissenschaftlichen Sinne zu verlangen (
BGE 125 V 123
E. 2a S. 125;
BGE 121 V 336
E. 5c/bb S. 344;
BGE 119 V 51
E. 3b S. 55). Der erforderliche Kausalzusammenhang ist (unter Vorbehalt der zeitlichen Schranke gemäss Satz 2 dieser Bestimmung) vernünftigerweise bereits zu bejahen, wenn es glaubwürdig und nachvollziehbar erscheint, dass der Entschluss der versicherten Person, eine unselbstständige Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder zu erweitern, in
BGE 138 V 434 S. 437
dem als Befreiungsgrund in Frage kommenden Ereignis mitbegründet liegt (
BGE 121 V 336
E. 5c/bb S. 344; SVR 2012 ALV Nr. 7 S. 21, 8C_345/2011 E. 7.1.1). Das Gesetz lässt die enumerierten oder ähnlichen Befreiungsgründe im Rahmen der Generalklausel nicht mehr zu, wenn das betreffende Ereignis mehr als ein Jahr zurückliegt (
Art. 14 Abs. 2 Satz 2 AVIG
). Dies ist Ausdruck der gesetzgeberischen Entscheidung, ein solches Ereignis nicht mehr als kausal für die über ein Jahr später versuchte Arbeitsaufnahme zu betrachten (
BGE 121 V 336
E. 5c/bb S. 344; SVR 2012 ALV Nr. 7 S. 21, 8C_345/ 2011 E. 7.1.2).
6.
In ihrem Antrag auf Arbeitslosenentschädigung vom 22. April 2010 nennt die Beschwerdegegnerin als Befreiungsgrund sowohl die Aussteuerung ihres Ehemannes aus der Arbeitslosenversicherung auf den 24. April 2009 als auch den Wegfall der von ihm empfangenen Leistungen der Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers (per 24. bzw. 29. Dezember 2009). Beide Ereignisse liegen innerhalb eines Jahres vor der Antragstellung bei der Arbeitslosenversicherung.
6.1
Gestützt auf diese Ausgangslage vertritt das kantonale Gericht die Ansicht, dass jedenfalls die Aussteuerung des Ehepartners aus der Arbeitslosenversicherung als "ähnlicher Grund" im Sinne von
Art. 14 Abs. 2 AVIG
anzuerkennen sei. Die Auswirkungen der Situation seien durchaus vergleichbar mit den Folgen eines in Konkurs geratenen Unternehmer-Ehegatten gemäss
BGE 119 V 51
. Da ein Befreiungsgrund vorliege, habe die Verwaltung im Rahmen der Rückweisung zu prüfen, ob nach der Aussteuerung auch eine wirtschaftliche Zwangslage eingetreten sei.
6.2
Die Arbeitslosenkasse wendet dagegen ein, die Beschwerdegegnerin habe ihren Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung nicht etwa nach der Aussteuerung, sondern erst im April 2010 und somit einige Monate nach Wegfall der Leistungen der Haftpflichtversicherung geltend gemacht. Die massgebende Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse sei demnach durch das letztere Ereignis verursacht worden. Da die Beschwerdegegnerin allerdings vom 17. August bis 11. September 2009, somit vor der Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse, nicht nur darum bemüht gewesen sei, eine Anstellung zu finden, sondern tatsächlich eine Stelle angetreten habe, fehle es an der bei den Befreiungsgründen nach
Art. 14 Abs. 2 AVIG
geforderten Kausalität. Die Beschwerdegegnerin sei folglich nicht von der Erfüllung der Beitragszeit befreit.
BGE 138 V 434 S. 438
6.3
Das SECO weist namentlich darauf hin, dass die Höchstzahl der einer arbeitslosen Person zustehenden Arbeitslosentaggelder von Anfang an feststehe, weshalb die Einstellung dieser Versicherungsleistungen vorhersehbar sei. Die Taggelder der Arbeitslosenversicherung wie auch die Ersatzleistungen der Haftpflichtversicherung seien dazu bestimmt gewesen, die Beschwerdegegnerin bzw. ihren Ehepartner auf die veränderte Situation vorzubereiten. Weil die Versicherte bereits vor dem Wegfall der Leistungen der Haftpflichtversicherung eine Arbeitsstelle bekleidet habe, sei zudem die Kausalität im Sinne von
Art. 14 Abs. 2 AVIG
im Zusammenhang mit der im Dezember 2009 eingetretenen Situation nicht gegeben. Eine Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit komme demzufolge weder wegen der Einstellung der Arbeitslosenentschädigung noch aufgrund des Wegfalls der Haftpflichtversicherungsleistungen in Frage.
6.4
Die Beschwerdegegnerin bringt in ihrer letztinstanzlich eingereichten Vernehmlassung vor, dass sie im Sommer 2009 durch einen Hinweis aus ihrem Bekanntenkreis auf die Idee gekommen sei, sich um eine Arbeit in ihrem erlernten Beruf zu bewerben. Nachdem sie bereits zwei Wochen nach Stellenantritt die Kündigung erhalten habe, sei es nicht notwendig gewesen, eine neue Erwerbstätigkeit zu suchen, da ihr Mann von der Haftpflichtversicherung sowohl bei der (beruflichen) Eingliederung als auch finanziell unterstützt worden sei. Damals seien sie, ihr Ehemann und die Haftpflichtversicherung überzeugt gewesen, dass er in absehbarer Zeit eine Stelle als Elektrotechniker finden werde. Im Dezember 2009 hätten sie aber die "Hiobsbotschaft" erhalten, dass er ab sofort keine Eingliederungsunterstützung und per Ende Monat keine Zahlungen mehr bekommen werde. Da sie laut telefonischer Auskunft des Regionalen Arbeitsvermittlungszentrums vom Januar 2010 davon ausgegangen sei, dass sie sich vor einer Anmeldung bei der Arbeitslosenversicherung während dreier Monate aktiv um eine Anstellung bemüht haben müsse, sei ihr Antrag auf Arbeitslosenentschädigung erst im April 2010 erfolgt. Die Familie sei wegen des plötzlichen und unerwarteten Wegfalls der Haftpflichtversicherungsleistungen auf Ende 2009 in eine finanzielle Notlage geraten, weshalb die Beschwerdegegnerin ab Januar 2010 gezwungen gewesen sei, sich aktiv um eine unselbstständige Erwerbstätigkeit zu bemühen. Unter diesen Umständen sei ein Befreiungsgrund gegeben und es bestehe ab 22. April 2010 Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung.
BGE 138 V 434 S. 439
7.1
Die Formulierung "aus ähnlichen Gründen" in
Art. 14 Abs. 2 AVIG
stellt einen unbestimmten Rechtsbegriff dar, welcher vom Gesetzgeber bewusst nicht näher umschrieben wurde, um die Vorschrift entsprechend der Vielfalt des Lebens flexibel handhaben zu können (Botschaft vom 2. Juli 1980 zu einem neuen Bundesgesetz über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung [BBl 1980 III 565 zu Art. 13 E-AVIG]). Auch wenn die Aufzählung der massgeblichen Gründe demnach nicht abschliessend ist, so ändert dies nichts daran, dass eine Befreiung nach
Art. 14 Abs. 2 AVIG
nur möglich ist, wenn zwischen dem geltend gemachten Grund und der Notwendigkeit einer Aufnahme oder Erweiterung einer Erwerbstätigkeit ein Kausalzusammenhang gegeben ist (Botschaft, a.a.O., S. 566). Dies kommt unter anderem auch im verlangten zeitlichen Zusammenhang zum Ausdruck (
Art. 14 Abs. 2 Satz 2 AVIG
;
BGE 137 V 133
E. 6.2.1 S. 138). Die unter den Begriff "ähnliche Gründe" in
Art. 14 Abs. 2 AVIG
fallenden Umstände haben den in derselben Bestimmung ausdrücklich erwähnten Ereignissen "Trennung oder Scheidung der Ehe" und "Invalidität oder Tod des Ehegatten" in Auswirkung und Tragweite zu entsprechen. Für die Annahme eines "ähnlichen Grundes" im Sinne von
Art. 14 Abs. 2 AVIG
muss verlangt werden, dass der Ehepartner des Leistungsansprechers voraussichtlich dauernd oder zumindest längerfristig nicht mehr bereit oder fähig sein wird, wie bisher für die ehelichen Bedürfnisse zu sorgen (
BGE 120 V 145
E. 3a S. 147 f.).
7.2
In
BGE 119 V 51
erkannte das damalige Eidgenössische Versicherungsgericht (seit 1. Januar 2007: I. und II. sozialrechtliche Abteilungen des Bundesgerichts), dass der Konkurs eines Ehepartners durchaus vergleichbar mit den Befreiungsgründen Trennung oder Scheidung der Ehe sowie Invalidität oder Tod des Ehegatten sei. Aufgrund der weitgehenden Vernichtung seiner wirtschaftlichen Existenz sei ein Konkursit nur noch in beschränktem Umfang in der Lage, für sich und seine Angehörigen zu sorgen, weshalb sich der Ehepartner - ebenso wie bei den im Gesetz ausdrücklich erwähnten Befreiungstatbeständen - häufig veranlasst sehe, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, um die finanzielle Bedrängnis zu überwinden oder wenigstens zu mildern. Der Konkurs des Ehepartners sei demgemäss als "ähnlicher Grund" im Sinne von
Art. 14 Abs. 2 AVIG
anzuerkennen (
BGE 119 V 51
E. 3a S. 54). Im Gegensatz dazu wurden in
BGE 120 V 145
weder die Arbeitslosigkeit noch im Zusammenhang
BGE 138 V 434 S. 440
mit einem Konkurs der früheren Arbeitgeberfirma erlittene Verluste des Ehegatten als Befreiungsgrund anerkannt. Der Ehemann war im dort zu beurteilenden Fall zwar seit längerer Zeit arbeitslos und hatte auch erhebliche Schwierigkeiten auf der Suche nach einer geeigneten neuen Stelle. Da ihm zur zumindest teilweisen Deckung des dadurch bedingten Lohnausfalls allerdings bereits Ansprüche auf Arbeitslosenentschädigung zustanden, war der finanzielle Engpass einigermassen zu überwinden. Es lässt sich bei einer solchen Konstellation nicht sagen, dass der Ehepartner dauernd oder zumindest für voraussichtlich sehr lange Zeit objektiv gar nicht in der Lage wäre, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen und damit seinen Beitrag an die ehelichen Lebenshaltungskosten zu leisten (
BGE 120 V 145
E. 3b S. 148). In SVR 1997 ALV Nr. 100 S. 305 (C 360/96) wurde festgehalten, der Wegfall von gemäss zürcherischem Jugendhilfegesetz durch Eltern in schwierigen Verhältnissen während zweier Jahre ab Geburt bezogenen Kinderbetreuungsbeiträgen stelle keinen Befreiungstatbestand nach
Art. 14 Abs. 2 AVIG
dar. Dieser Gesetzesartikel mache den Anspruch auf Befreiung von der Beitragszeit nicht von der Plötzlichkeit des Eintritts der darin genannten Sachverhalte (Trennung, Scheidung, Invalidität, Tod) abhängig. Trotzdem bestehe aber kein Zweifel, dass es sich bei den genannten Ereignissen durchwegs um Lebenssachverhalte handle, die programmwidrig und meist sogar unvorbereitet und plötzlich eintreten würden. Die mit den geregelten und ähnlichen Situationen konfrontierten Versicherten, die aus wirtschaftlicher Notwendigkeit in verhältnismässig kurzer Zeit neu disponieren müssten, sollen begünstigt werden (SVR 1997 ALV Nr. 100 S. 305, C 360/96 E. 4a/aa).
8.
Die Vorinstanz ist der Ansicht, die Aussteuerung des Ehegatten aus der Arbeitslosenversicherung sei mit dem Konkurs des selbstständigerwerbenden Ehepartners vergleichbar. Da letztgenanntes Ereignis als "ähnlicher Grund" anerkannt sei (
BGE 119 V 51
), könne für die Aussteuerung aus der Arbeitslosenversicherung nichts anderes gelten. Es lässt sich tatsächlich nicht von der Hand weisen, dass die Wirkungen bei der Aussteuerung aus der Arbeitslosenversicherung und beim Konkurs eines Selbstständigerwerbenden gleich oder ähnlich sein können. In beiden Fällen ist nicht mehr gewährleistet, dass der Ehepartner in finanzieller Hinsicht für sich und seine Angehörigen zu sorgen in der Lage ist. Allerdings muss beachtet werden, dass der Konkurs eines Selbstständigerwerbenden in der Regel
BGE 138 V 434 S. 441
unvorbereitet eintritt, währenddem sich die arbeitslose Person und ihr Ehepartner während der arbeitslosenversicherungsrechtlichen Leistungsrahmenfrist mit der Möglichkeit auseinandersetzen können und müssen, dass sie bis zur Aussteuerung keine Arbeitsstelle mehr findet. Es ist dem SECO beizupflichten, dass die Höchstzahl der Arbeitslosentaggelder jeweils lange vor Erschöpfung des Taggeldanspruchs bekannt und die Einstellung der Versicherungsleistungen darum für die versicherte Person voraussehbar ist. Dementsprechend trifft sie das Versiegen der Arbeitslosentaggelder nicht unerwartet; sie kann sich mit ihrem Ehepartner frühzeitig auf die neue finanzielle Situation einstellen und Vorbereitungen treffen. Diese Konstellation lässt sich mit der Einstellung der Kinderbetreuungsbeiträge nach zürcherischem Recht (SVR 1997 ALV Nr. 100 S. 305, C 360/96) vergleichen. Da Personen im Zeitpunkt der Aussteuerung demgemäss aus wirtschaftlicher Notwendigkeit nicht in verhältnismässig kurzer Zeit neu disponieren müssen, kann in der Aussteuerung des Ehepartners allein kein Befreiungsgrund im Sinne von
Art. 14 Abs. 2 AVIG
liegen.
9.1
Die Beschwerdegegnerin, welche ihre ausserhäusliche Beschäftigung im Zusammenhang mit der Geburt der Kinder aufgegeben hatte, stellte unter Hinweis auf die Aussteuerung ihres Ehepartners aus der Arbeitslosenversicherung und das Wegfallen der Unterstützung durch die Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers Antrag auf Arbeitslosenentschädigung. Da das kantonale Gericht schon in der Aussteuerung einen "ähnlichen Grund" im Sinne von
Art. 14 Abs. 2 AVIG
sah, hatte es in diesem Rahmen keinen Anlass, das Wegfallen der Leistungen der Haftpflichtversicherung rechtlich zu qualifizieren. Bereits in ihrer Einsprache gegen die ablehnende Verfügung vom 17. Mai 2010 legte die Versicherte dar, die Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers habe ab April 2009 - nach Wegfall der Arbeitslosentaggelder des Ehemannes - monatliche Leistungen in der Höhe der bisherigen Arbeitslosenentschädigung übernommen. Die inzwischen abgeschlossene Umschulung zum Elektrotechniker erfülle die Vorgaben der behandelnden Ärzte nicht, obwohl die Invalidenversicherung von einer rentenausschliessenden Eingliederung ausgehe. Der Ehepartner der Versicherten habe im Januar 2010 eine dreijährige Vollzeit-Ausbildung zum Naturheilpraktiker angefangen. Nach den Angaben der Beschwerdegegnerin wurden die monatlichen
BGE 138 V 434 S. 442
Beiträge per Ende Dezember 2009 eingestellt, nachdem ihr Ehemann der Haftpflichtversicherung dieses Vollzeitstudium im Dezember 2009 vorgestellt hatte. In der vorinstanzlichen Beschwerde präzisiert sie, die Haftpflichtversicherung habe die Eingliederung im Berufsfeld Elektrotechniker im Dezember 2009 als gescheitert erachtet. Bis zu diesem Zeitpunkt sei ein regelmässiges Einkommen für den Lebensunterhalt der Familie vorhanden gewesen, weshalb sie nicht gezwungen gewesen sei, neben der Erziehung der zwei mittlerweile primarschulpflichtigen Kinder einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, was sich aber mit der Einstellung der Zahlungen durch die Haftpflichtversicherung schlagartig geändert habe.
9.2
In diesem Zusammenhang ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers nach der Aussteuerung im April 2009 nahtlos die bisher von der Arbeitslosenkasse des Ehemannes geleisteten Geldbeträge in gleicher Höhe erbrachte. Die Versicherte konnte also damals zunächst davon ausgehen, dass ihre Familie finanziell abgesichert war, während ihr Ehemann sich weiterhin um seine berufliche Wiedereingliederung kümmern konnte. Der Einwand der Arbeitslosenkasse, wonach nicht die Aussteuerung im April 2009, sondern der Wegfall der Leistungen der Haftpflichtversicherung im Dezember 2009 die massgebliche Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse mit sich gebracht habe, ist bei dieser Sachlage offensichtlich begründet.
9.3
Die Einstellung der Arbeitslosenentschädigung im April 2009 war für die Versicherte vorhersehbar. Im Zeitpunkt der Aussteuerung wusste sie zudem bereits, dass die Haftpflichtversicherung eine finanzielle Überbrückungshilfe während der beruflichen Eingliederung ihres Ehemannes leisten würde. Die Beschwerdegegnerin macht geltend, dass ausgerechnet in dem Moment, in welchem sich ihr Ehemann für eine dreijährige, vollzeitliche Ausbildung entschieden hatte, die Haftpflichtversicherung - abgesehen von einer substanziellen Abschlusszahlung für den Start der Ausbildung in einem anderen Berufszweig - jegliche weitere Unterstützung verweigert habe. Traf sie die Einstellung dieser Leistungen im Dezember 2009 tatsächlich völlig unerwartet, so lässt sie sich in ihrer Auswirkung und Tragweite mit den in
Art. 14 Abs. 2 AVIG
ausdrücklich erwähnten Ereignissen (E. 5.1 hiervor) vergleichen (E. 7.1 hiervor). Es kann sich dabei durchaus um einen Lebenssachverhalt handeln, welcher programmwidrig und unvorbereitet eintrat (SVR 1997 ALV Nr. 100
BGE 138 V 434 S. 443
S. 305, C 360/96 E. 4a/aa), falls die Eheleute vom Wegfall der Leistungen der Haftpflichtversicherung überrascht wurden und sich innert kurzer Zeit auf die veränderten Verhältnisse einstellen mussten. Die Beschwerdegegnerin bringt zusammenfassend vor, da sich der Ehemann verpflichtet habe, ab Anfang 2010 einen dreijährigen Studiengang zu absolvieren, und die finanzielle Versorgung der Familie unerwartet weggefallen sei, habe sie sich, um künftig einen massgeblichen finanziellen Beitrag zum Familienunterhalt erbringen zu können, gezwungen gesehen, eine Erwerbstätigkeit zu suchen und sich bei der Arbeitslosenversicherung anzumelden. Ob dieser behauptete Tatsachenverlauf zutrifft, musste von der Vorinstanz nicht geprüft werden, da sie bereits im Wegfall der Arbeitslosenentschädigung einen Befreiungsgrund sah. Daher ist die Angelegenheit zur entsprechenden Sachverhaltsergänzung und erneuten Entscheidung an das kantonale Gericht zurückzuweisen. Sollte sich nach zusätzlichen Abklärungen bestätigen, dass die langjährige Rollenteilung in der Ehe zufolge des plötzlichen, unerwarteten Dahinfallens der Leistungen des Haftpflichtversicherers definitiv aufgegeben werden musste, so ist dieses Ereignis als Befreiungsgrund im Sinne von
Art. 14 Abs. 2 AVIG
zu qualifizieren, falls die Kausalität (vgl. E. 9.4 nachfolgend) zu bejahen ist.
9.4
Beschwerdeführerin und SECO gehen davon aus, es fehle am Kausalzusammenhang zwischen dem Versuch der Beschwerdegegnerin, eine Anstellung zu finden, und den veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen, da diese schon vom 17. August bis 11. September 2009, somit vor (allfälligem) Eintritt der finanziellen Notlage, erwerbstätig gewesen sei. Wie es sich damit verhält, kann erst nach - ebenfalls vom kantonalen Gericht zu veranlassenden - zusätzlichen Sachverhaltsabklärungen gesagt werden. Immerhin ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass rechtsprechungsgemäss kein strikter Kausalitätsnachweis im naturwissenschaftlichen Sinne verlangt werden kann; vielmehr ist der erforderliche Kausalzusammenhang bereits zu bejahen, wenn es glaubwürdig und nachvollziehbar erscheint, dass der Entschluss zur Aufnahme einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit in dem als Befreiungsgrund in Frage kommenden Ereignis mitbegründet liegt (E. 5.3 hiervor). Stellt sich heraus, dass die kurzzeitige Tätigkeit der Beschwerdegegnerin für die E. AG zeitlich vor dem Bekanntwerden des Versiegens der Haftpflichtversicherungsleistungen liegt, und sollte sich deren Behauptung bestätigen, wonach sie diese Stelle nur angetreten habe, weil sich ihr die Gelegenheit geboten habe, nach längerer Pause in ihrem erlernten Beruf
BGE 138 V 434 S. 444
wieder Fuss zu fassen, so kann das diesfalls aus anderen Beweggründen eingegangene Arbeitsverhältnis nicht zu einer Verneinung des Kausalzusammenhangs führen. Auch diesbezüglich hat das kantonale Gericht weitere Abklärungen vorzunehmen, um alsdann die Kausalitätsfrage abschliessend beantworten zu können.
Sollte die Versicherte erst nach der - angeblich unerwarteten - Einstellung der dem Ehemann durch die Haftpflichtversicherung gebotenen Überbrückungshilfe im Dezember 2009 aus finanziellen Gründen gezwungen gewesen sein, in möglichst kurzer Zeit eine Anstellung zu finden, so kann ihr der Umstand, dass sie mit der Anmeldung bei der Arbeitslosenversicherung seit Wegfall der Versicherungsleistungen Ende Dezember 2009 bis April 2010 wartete, nicht zum Nachteil gereichen. Die zeitlichen Erfordernisse wären erfüllt, da sie sich innert der von
Art. 14 Abs. 2 Satz 2 AVIG
vorgegebenen Jahresfrist seit Wegfall der Leistungen der Haftpflichtversicherung um die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bemüht und Antrag auf Arbeitslosenentschädigung gestellt hat. Ob ihr Zuwarten mit der Anmeldung bei der Arbeitslosenversicherung von Januar bis April 2010 tatsächlich auf eine entsprechende Auskunft des Arbeitsvermittlungszentrums zurückzuführen war, wie sie letztinstanzlich vorbringt, bedarf deshalb so oder anders keiner Klärung.
9.5
Ergeben die notwendigen Abklärungen, dass ein Befreiungsgrund gegeben ist, so kann das kantonale Gericht die weitere Anspruchsvoraussetzung der finanziellen Zwangslage selber prüfen oder die Angelegenheit diesbezüglich - wie im vorliegend angefochtenen Entscheid vorgesehen - an die Verwaltung zurückweisen.
10.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Dahinfallen von Leistungen der Haftpflichtversicherung einen Befreiungsgrund im Sinne von
Art. 14 Abs. 2 AVIG
darstellen kann, falls diese als Überbrückungshilfe für den Ehepartner nach dessen Aussteuerung aus der Arbeitslosenversicherung erbracht wurden, um dessen berufliche Eingliederung nach einer Umschulung sicherzustellen, und alsdann programmwidrig bzw. unvorbereitet weggefallen sind. Die Angelegenheit muss zur Sachverhaltsvervollständigung und erneuten Entscheidung an das kantonale Gericht zurückgewiesen werden.