BGE 140 V 201 vom 9. April 2014

Dossiernummer: 9C_884/2013

Datum: 9. April 2014

BGE referenzen:  142 V 311, 146 V 331

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

140 V 201


27. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. H. gegen Gemeinde X. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_884/2013 vom 9. April 2014

Regeste

Art. 11 Abs. 1 lit. c ELG ; Art. 16 Abs. 2 FZV .
Ist ein auf einem Freizügigkeitskonto stehen gelassenes Guthaben im Rahmen der Ermittlung der anrechenbaren Einnahmen nach Art. 11 Abs. 1 lit. c ELG zu berücksichtigen (Urteil P 56/05 vom 29. Mai 2006), sind davon die Steuern, die bei einem Bezug anfallen würden, abzuziehen (E. 4.2-4.4).

Sachverhalt ab Seite 202

BGE 140 V 201 S. 202

A. H. (geb. 1955) bezog mit Wirkung ab 1. Juli 2010 eine ganze Rente der Invalidenversicherung (Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 11. April 2011). Auf ihr Gesuch vom 27. April 2011 hin sprach ihr die Gemeinde X., Durchführungsstelle für Zusatzleistungen zur AHV/IV, mit Verfügung vom 10. Mai 2012 monatliche Ergänzungsleistungen und Beihilfen zu (für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 2010 monatliche Ergänzungsleistungen von Fr. 311.- und monatliche Beihilfen von Fr. 159.-, vom 1. Januar bis 30. April 2011 Fr. 399.- und Fr. 202.- sowie ab 1. Mai 2011 Fr. 437.- und Fr. 202.-).
Eine von der Versicherten dagegen erhobene Einsprache hiess die Gemeinde X., Durchführungsstelle für Zusatzleistungen zur AHV/IV, teilweise gut; sie sprach der Versicherten für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 2010 Fr. 866.- und Fr. 202.- zu, vom 1. Januar bis 30. April 2011 Fr. 1'021.- und Fr. 202.-, vom 1. Mai bis 31. Dezember 2011 Fr. 475.- und Fr. 202.- sowie ab 1. Dezember 2012 Fr. 511.- und Fr. 202.- (Einspracheentscheid vom 7. Juni 2012).

B. Beschwerdeweise beantragte H., der Einspracheentscheid sei insoweit aufzuheben, als die Zusatzleistungen ab Mai 2011 auf monatlich Fr. 677.- (Ergänzungsleistungen von Fr. 475.- und Zusatzleistungen von Fr. 202.-) respektive auf Fr. 713.- (Ergänzungsleistungen von Fr. 511.- und Zusatzleistungen von Fr. 202.-) herabgesetzt worden seien, und es seien ihr die gesetzlichen Leistungen zuzusprechen. Mit Entscheid vom 2. Oktober 2013 wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die Beschwerde ab.

C. H. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und das Rechtsbegehren stellen, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und die Gemeinde X., Durchführungsstelle für Zusatzleistungen zur AHV/IV, zu verpflichten, die gesetzlichen Leistungen zu erbringen.
BGE 140 V 201 S. 203
Die Gemeinde X., Durchführungsstelle für Zusatzleistungen zur AHV/IV, lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Vernehmlassung.
In einer weiteren Eingabe hat H. ein neues Beweismittel aus einem zwischen ihr und den Sozialbehörden der Gemeinde Z. vor dem Verwaltungsgericht des Kantons Zürich hängigen Prozess betreffend Sozialhilfeleistungen eingereicht (Auszug aus einer Stellungnahme des die Sozialbehörden vertretenden Rechtsanwalts E. vom 5. Dezember 2013).
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Anspruch auf Ergänzungsleistungen (EL) haben unter anderem Personen, die Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung haben ( Art. 4 Abs. 1 lit. c ELG [SR 831.30]), wenn die vom Gesetz anerkannten Ausgaben die anrechenbaren Einnahmen übersteigen. Was als Ausgaben anerkannt und was als Einnahmen angerechnet wird, ist in Art. 10 und 11 ELG bestimmt.
In zeitlicher Hinsicht massgebend sind in der Regel die während des vorausgegangenen Kalenderjahres erzielten anrechenbaren Einnahmen sowie das am 1. Januar des Bezugsjahres vorhandene Vermögen ( Art. 23 Abs. 1 ELV [SR 831.301]).

2.2 Nach der Rechtsprechung sind Freizügigkeitsguthaben der beruflichen Vorsorge bei der Berechnung des EL-Anspruchs als Vermögen entsprechend Art. 3c Abs. 1 lit. c aELG (heute: Art. 11 Abs. 1 lit. c ELG ) zu berücksichtigen, wenn sie bezogen werden können. Gemäss Art. 16 Abs. 2 der Verordnung vom 3. Oktober 1994 über die Freizügigkeit in der beruflichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (Freizügigkeitsverordnung, FZV; SR 831.425) kann die versicherte Person die vorzeitige Auszahlung der Altersleistung (von Freizügigkeitspolicen und Freizügigkeitskonten) verlangen, wenn sie (bei fehlender anderweitiger Versicherung des Invaliditätsrisikos) eine volle (ganze) Rente der Eidgenössischen Invalidenversicherung bezieht. Demzufolge ist der EL-berechtigten Person das Freizügigkeitskapital, welches sie gestützt auf Art. 16 Abs. 2 FZV beziehen könnte, in dem Zeitpunkt, in dem sie Anspruch auf eine ganze Invalidenrente begründet, als Vermögen anzurechnen (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts P 56/05 vom
BGE 140 V 201 S. 204
29. Mai 2006 E. 3, in: SVR 2007 EL Nr. 3 S. 5 und Urteil 9C_612/2012 vom 28. November 2012 E. 3.3; CARIGIET/KOCH, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, 2. Aufl. 2009, S. 164).

3.

3.1 Es steht fest, dass die Beschwerdeführerin seit 1. Juli 2010 eine ganze Invalidenrente bezieht und dementsprechend ab diesem Zeitpunkt das bei der Freizügigkeitsstiftung Y. auf einem Freizügigkeitskonto liegende Guthaben, welches am 31. Dezember 2010 einen Saldo von Fr. 156'103.- aufwies, hätte beziehen können. Weiter geht aus den Akten, insbesondere aus der Abrechnung der Freizügigkeitsstiftung Y. vom 10. Juli 2012, hervor, dass sich die Versicherte das Guthaben am 10. Juli 2012 auszahlen liess (damaliger Stand: Fr. 159'020.-).

3.2 Streitig und zu prüfen ist, ob EL-Stelle und Vorinstanz zu Recht davon ausgehen, dass in Anwendung der in E. 2.2 dargelegten Rechtsprechung in der EL-Berechnung der Beschwerdeführerin mit Wirkung ab 2011 das bis Anfang Juli 2012 auf dem Freizügigkeitskonto stehen gelassene Guthaben einnahmeseitig in voller Höhe - d.h. mit Fr. 156'103.- (Stand am 31. Dezember 2010) - zu berücksichtigen ist.

3.3 Die Beschwerdeführerin stellt sich auf den Standpunkt, die Steuerschulden, welche bei einer Auszahlung der Freizügigkeitsleistung zwingend anfallen würden, seien in die EL-Berechnung einzubeziehen. Zur Begründung führt sie an, der Einbezug der Freizügigkeitsleistung beruhe darauf, dass fiktiv davon ausgegangen werde, sie habe vorgängig eine Auszahlung der Freizügigkeitsleistung beantragt und die Freizügigkeitseinrichtung habe ihr dieses Geld auf ein Konto überwiesen. Die Fiktion "Barauszahlung Freizügigkeitsleistung" ziehe nun aber Folgen nach sich, insbesondere steuerlicher Art, und sei nur zu Ende gedacht, wenn auch diese Berücksichtigung fänden.

4.

4.1 Die Anrechnung der Freizügigkeitsleistung als Einnahme fällt unter die Bestimmung des Art. 11 Abs. 1 lit. c ELG , wonach ein Fünfzehntel (bei Altersrentnerinnen und Altersrentnern ein Zehntel) des Reinvermögens angerechnet wird, soweit es bei alleinstehenden Personen Fr. 37'500.- (bei Ehepaaren Fr. 60'000.- und bei rentenberechtigten Waisen sowie bei Kindern, die einen Anspruch auf eine Kinderrente der AHV oder IV begründen, Fr. 15'000.-) übersteigt.
BGE 140 V 201 S. 205

4.2 Dass die Bestimmung des Art. 11 Abs. 1 lit. c ELG die Anrechnung eines Teils des Rein vermögens als Einnahme anordnet, heisst nichts anderes, als dass vom rohen Vermögen die Schulden des EL-Ansprechers bzw. der in die Anspruchsberechnung einbezogenen Personen abzuziehen sind, bevor der Vermögensverzehrbetrag ermittelt wird (RALPH JÖHL, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 1793 Rz. 220; CARIGIET/KOCH, a.a.O., S. 166). In diesem Sinne sieht auch Rz. 2107 der Wegleitung des BSV über die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV (WEL; in der ab 1. Januar 2010 gültigen Fassung http://www.bsv.admin.ch/vollzug/documents/view/1638 ) vor, dass vom rohen Vermögen die nachgewiesenen Schulden abzuziehen sind (vgl. auch URS MÜLLER, Bundesgesetz über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung, 2. Aufl. 2006, N. 358 zu Art. 3c ELG ; CARIGIET/KOCH, a.a.O., S. 166). Als Schulden fallen neben Hypothekarschulden, Kleinkrediten bei Banken und Darlehen zwischen Privaten (CARIGIET/KOCH, a.a.O., S. 166) auch Steuerschulden (dazu Urteil 8C_140/2008 vom 25. Februar 2009 E. 7.3 [Zusammenfassung in: SZS 2009 S. 406]) in Betracht.Dabei genügt es für die Berücksichtigung einer Schuld, dass sie tatsächlich entstanden ist; ihre Fälligkeit ist nicht vorausgesetzt. Im Gegensatz dazu können ungewisse Schulden oder Schulden, deren Höhe noch nicht feststeht, nicht abgezogen werden (JÖHL, a.a.O., S. 1793 Rz. 220).

4.3 Soweit die Vorinstanz eine Berücksichtigung der Steuern ablehnte mit der Begründung, diese seien zum Zeitpunkt des Einspracheentscheides, welcher rechtsprechungsgemäss die Grenze der richterlichen Überprüfungsbefugnis bilde, noch nicht geschuldet gewesen, weil das Freizügigkeitskonto damals noch nicht aufgelöst und das Vorsorgekapital noch nicht ausbezahlt worden sei, kann ihr nicht beigepflichtet werden. Denn dieselbe Argumentation stünde auch der Anrechnung des Freizügigkeitskontos entgegen. Da nun aber der mögliche Bezug des Freizügigkeitskontos für dessen Berücksichtigung in der EL-Berechnung ausreicht (vgl. E. 2.2 hiervor), der Bezug mithin fingiert wird, sind die Steuern, die dieser Bezug - fiktiv - auslösen würde (vgl. dazu auch ISABELLE VETTER-SCHREIBER, Berufliche Vorsorge, 3. Aufl. 2013, N. 4 zu Art. 84 BVG ) und welche den der Vorsorgenehmerin zufliessenden Betrag entsprechend mindern würden, ebenso zu berücksichtigen. Mit anderen Worten darf nur der (fiktive) Nettobetrag als hypothetisches
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Vermögen (hypothetisches Reinvermögen) angerechnet werden. Andernfalls würde die von der Rechtsprechung mit der Anrechnung des Freizügigkeitskontos ab dem möglichen Bezug bezweckte Gleichstellung zwischen Vorsorgenehmern, die auf den Bezug des Guthabens verzichten, und den effektiven Bezügern solcher Guthaben (vgl. Urteil P 56/05 vom 29. Mai 2006 E. 3.3; vgl. auch HANS MICHAEL RIEMER, Berührungspunkte zwischen beruflicher Vorsorge und ELG sowie kantonalen Sozialhilfegesetzen bzw. SKOS-Richtlinien, SZS 2001 S. 331 ff., 333) in ihr Gegenteil verkehrt: Die Anrechnung eines (fiktiven) Bruttobetrages hätte eine unzulässige Schlechterstellung des auf einen Bezug verzichtenden EL-Bezügers gegenüber einem das Freizügigkeitskonto beziehenden EL-Bezüger, bei welchem die Steuern, da bereits angefallen, berücksichtigt würden, zur Folge.

4.4 Wird das auf dem Freizügigkeitskonto stehen gelassene Guthaben im Rahmen der Ermittlung der anrechenbaren Einnahmen nach Art. 11 Abs. 1 lit. c ELG ab dem Jahr 2011 mit Fr. 156'103.- (Stand am 31. Dezember 2010) berücksichtigt, sind davon die Steuern, die bei einem Bezug im Jahr 2011 angefallen wären, zu berücksichtigen. Die in den Akten liegenden Steuerrechnungen beziehen sich auf den am 10. Juli 2012 effektiv erfolgten Bezug des Freizügigkeitsguthabens ("steuerbares Einkommen: Fr. 159'100.-"). Dieser zog Steuern von insgesamt Fr. 7'943.60 nach sich (Steuerrechnungen der Dienstabteilung Bundessteuer vom 7. Januar 2013 [Fr. 1'706.90] und der Gemeinde Z. vom 8. Februar 2013 [Fr. 6'236.70]). Welche Steuerschuld der Bezug des Freizügigkeitsguthabens von Fr. 156'103.- im Jahr 2011 ausgelöst hätte, wird die Beschwerdeführerin nachzuweisen haben. Die EL-Stelle, an welche die Sache zurückzuweisen ist, wird den Anspruch alsdann unter Berücksichtigung der Steuern, die bei einem Bezug im Jahr 2011 angefallen wären, neu zu berechnen haben.

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