BGE 140 V 299 vom 16. Juli 2014

Dossiernummer: 9C_239/2014

Datum: 16. Juli 2014

Artikelreferenzen:  Art. 25 AHVG, Art. 7 BBV , Art. 35 Abs. 1 IVG, Art. 49bis Abs. 1 AHVV, Art. 49ter Abs. 2 AHVV, Art. 25 Abs. 5 AHVG, Art. 25 Abs. 4 und 5 AHVG, Art. 49ter Abs. 3 AHVV, Art. 7 Abs. 2 BBV

BGE referenzen:  133 V 587, 139 V 209 , 139 V 209, 133 V 587

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

140 V 299


40. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. IV-Stelle Luzern gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_239/2014 vom 16. Juli 2014

Regeste

Art. 35 Abs. 1 IVG ; Kinderrente für volljährige Kinder.
Der Anspruch auf eine Kinderrente der Invalidenversicherung besteht bei einem über 18 Jahre alten Kind, welches in seinem zukünftigen Lehrbetrieb ein weder gesetzlich noch reglementarisch vorgeschriebenes Praktikum absolviert, höchstens für die Dauer eines Jahres (E. 3).

Sachverhalt ab Seite 299

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A. Der 1955 geborene A. bezieht eine ganze Invalidenrente. Bis 31. Juli 2013 wurde ihm auch eine Kinderrente für seine 1995 geborene Tochter B. ausgerichtet, welche zuletzt im Hinblick auf eine beabsichtigte Ausbildung als Fachperson Betreuung Kind in der Zeit vom 6. August 2012 bis 31. Juli 2013 ein einjähriges Praktikum in der Kindertagesstätte C. absolviert hatte. Das Praktikum wurde um ein Jahr verlängert. Mit Verfügung vom 22. Juli 2013 stellte die
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IV-Stelle Luzern die Ausrichtung der Kinderrente per 31. Juli 2013 ein mit der Begründung, dass ein Praktikum nur als Ausbildung anerkannt werde, wenn es höchstens ein Jahr dauere.

B. Das Kantonsgericht Luzern hiess die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 13. Februar 2014 gut. Es hob die Verfügung auf und stellte fest, dass A. auch ab dem 1. August 2013 einen Anspruch auf eine Kinderrente zu seiner IV-Rente habe.

C. Die IV-Stelle Luzern führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides. Die Verfügung vom 22. Juli 2013 sei zu bestätigen.
Die Vorinstanz beantragt die Abweisung der Beschwerde, das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) die Gutheissung. A. verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1.

1.1 Männer und Frauen, denen eine Invalidenrente zusteht, haben in Anwendung von Art. 35 Abs. 1 IVG für jedes Kind, das im Falle ihres Todes eine Waisenrente der Alters- und Hinterlassenenversicherung beanspruchen könnte, Anspruch auf eine Kinderrente. Er erlischt mit der Vollendung des 18. Altersjahres. Für Kinder, die noch in Ausbildung sind, dauert der Rentenanspruch bis zu deren Abschluss, längstens aber bis zum vollendeten 25. Altersjahr. Der Bundesrat kann festlegen, was als Ausbildung gilt ( Art. 25 Abs. 4 und 5 AHVG ).

1.2 Der Bundesrat hat von dieser Kompetenz Gebrauch gemacht, indem er auf den 1. Januar 2011 die AHVV (SR 831.101) um die Art. 49 bis (Ausbildung) und Art. 49 ter (Beendigung und Unterbrechung der Ausbildung) ergänzt hat. Gemäss Art. 49 bis Abs. 1 AHVV ist ein Kind in Ausbildung, wenn es sich auf der Grundlage eines ordnungsgemässen, rechtlich oder zumindest faktisch anerkannten Bildungsganges systematisch und zeitlich überwiegend entweder auf einen Berufsabschluss vorbereitet oder sich eine Allgemeinausbildung erwirbt, die Grundlage bildet für den Erwerb verschiedener Berufe. Nach Art. 49 ter Abs. 2 AHVV gilt die Ausbildung als beendet, wenn sie abgebrochen oder unterbrochen wird. Nicht als Unterbrechung im Sinne von Abs. 2 gelten nach Art. 49 ter Abs. 3 AHVV , sofern die Ausbildung unmittelbar danach fortgesetzt wird, übliche
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unterrichtsfreie Zeiten und Ferien von längstens 4 Monaten (lit. a), Militär- oder Zivildienst von längstens 5 Monaten (lit. b) und gesundheits- oder schwangerschaftsbedingte Unterbrüche von längstens 12 Monaten (lit. c).

1.3 Auf den 1. Januar 2012 hat das BSV in seiner Wegleitung über die Renten (RWL) in der Eidgenössischen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung ( http://www.bsv.admin.ch/vollzug/documents/view/75/lang:deu/category:23 ) die Rz. 3361 wie folgt neu gefasst:
"Ein Praktikum wird als Ausbildung anerkannt, wenn es gesetzlich oder reglementarisch
- für die Zulassung zu einem Bildungsgang oder zu einer Prüfung vorausgesetzt ist, oder
- zum Erwerb eines Diploms oder eines Berufsabschlusses verlangt wird."
Darüber hinaus wurde die RWL ebenfalls auf den 1. Januar 2012 um eine Rz. 3361.1 mit folgendem Wortlaut ergänzt:
"Sind die Voraussetzungen von Rz. 3361 nicht erfüllt, so wird ein Praktikum trotzdem als Ausbildung anerkannt, wenn
- vom Betrieb schriftlich zugesichert wird, dass das Kind bei Eignung nach Abschluss des Praktikums eine Lehrstelle im betreffenden Betrieb erhält und
- das Praktikum im betreffenden Betrieb höchstens ein Jahr dauert."

2. Es steht fest, dass das Praktikum, welches die Tochter des Beschwerdegegners in der Zeit vom 6. August 2012 bis 31. Juli 2013 absolvierte, den Erfordernissen von Rz. 3361.1 RWL entsprach. Streitig ist, ob das zweite Praktikum ab 1. August 2013 entgegen dem Wortlaut der zweiten Voraussetzung, dass das Praktikum im betreffenden Betrieb höchstens ein Jahr dauert, anzuerkennen ist.

2.1 Die Vorinstanz hat erwogen, die in Rz. 3361.1 RWL enthaltene Einschränkung des Kinderrentenanspruchs auf höchstens einjährige Praktika sei in dieser absoluten Form nicht gesetzeskonform. Es sei vielmehr anhand der jeweiligen konkreten Verhältnisse zu bestimmen, ob auch ein länger dauerndes Praktikum die übrigen Voraussetzungen nach wie vor erfülle, um als Ausbildung im Sinn von Art. 25 Abs. 5 AHVG anerkannt zu werden. Aus der Sicht der Tochter stelle die Verschiebung des Lehrbeginns um ein weiteres Jahr einen äusseren, objektiv begründbaren Umstand dar, sodass dies grundsätzlich nicht als Ausbildungsunterbruch zu werten sei. Sie
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habe den Lehrbeginn nicht freiwillig und aus ausbildungsfremden Motiven hinausgeschoben. Vielmehr habe sich die Verlängerung vor allem aufgrund der Struktur des Lehrbetriebs ergeben, welcher im August 2013 keine zusätzliche Lehrstelle anbieten konnte. Auch sei nicht davon auszugehen, dass zum Zeitpunkt der Verlängerung des Praktikumsvertrages am 28. Juni 2013 noch kurzfristig eine anderweitige Lehrstelle als Kinderbetreuerin hätte gefunden werden können. Die Tochter des Beschwerdegegners sei unter diesen Umständen zur Absolvierung eines zweiten Praktikumsjahres faktisch gezwungen gewesen. Insgesamt stehe das Praktikum in der Kindestagesstätte C. nach wie vor im Rahmen der systematischen Vorbereitung auf das Berufsziel und sei damit weiterhin als Ausbildung im Sinne von Art. 25 Abs. 5 AHVG zu werten.

2.2 Die Beschwerdeführerin erklärt, es könne nicht Aufgabe der Invalidenversicherung sein, mit einer Versicherungsleistung der Tendenz der gering entlöhnten reinen Erwerbsarbeit auf Kosten der Versicherten zu entsprechen. Zweck der Kinderrente sei es, den rechtlich definierten und von der Rechtsprechung anerkannten Ausbildungsbegriff einzuhalten. Die Förderung der beruflichen Ausbildung liege in bildungspolitisch begründeten Massnahmen, welche die effektive Ausbildung und den Arbeitnehmerschutz zum Inhalt hätten. Die Sozialversicherung habe einzig den Zweck, den Erwerbsausfall auszugleichen. Vorliegend sei die Dauer des Praktikums auf längstens ein Jahr festgelegt, was eine absolute Obergrenze darstelle. An sich seien Praktika von wenigen Monaten, ja Wochen, vollständig ausreichend, um die Eignung eines Bewerbers zu erfahren.

2.3 Nach dem BSV ist für die Vorbereitung auf die berufliche Grundausbildung ein Jahr ausreichend. Das zweite Praktikumsjahr in der Kindertagesstätte C. könne nicht mehr als Vorbereitung im Sinne von Art. 49 bis Abs. 1 AHVV gelten. Als Vorbereitung auf die berufliche Grundausbildung gälten gemäss Art. 7 der Verordnung vom 19. November 2003 über die Berufsbildung (Berufsbildungsverordnung, BBV; SR 412.101) in Verbindung mit Art. 12 des Bundesgesetzes vom 13. Dezember 2002 über die Berufsbildung (Berufsbildungsgesetz, BBG; SR 412.10) praxis- und arbeitsweltbezogene Angebote nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit, die das Programm der obligatorischen Schule im Hinblick auf die Anforderungen der beruflichen Grundbildung ergänzten. Diese Vorbereitungsangebote dauerten höchstens ein Jahr, würden zeitlich auf das Schuljahr abgestimmt und mit einer Beurteilung abgeschlossen
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( Art. 7 Abs. 2 BBV ). Zweck der Bestimmung über den Anspruch auf Kinderrenten während der Ausbildung sei die Förderung der beruflichen Ausbildung in dem Sinne, dass das volljährige Kind eines invaliden Elternteils durch die Invalidität des Vaters oder der Mutter nicht in seinem beruflichen Weiterkommen behindert sei. Eine systematische Ausbildung verlange, dass die betreffende Person die Ausbildung mit dem ihr objektiv zumutbaren Einsatz betreibe, um sie innert nützlicher Frist erfolgreich hinter sich zu bringen. Es könne nicht Sinn eines Praktikums sein, dass es (nahezu) gleich lange dauere, wie die Grundbildung an sich. In BGE 139 V 209 habe das Bundesgericht festgehalten, dass ein Praktikum bei der Ausbildung Kinderbetreuung eine faktische Notwendigkeit sei. Dabei habe es sich um ein einjähriges Praktikum gehandelt. Eine Einschränkung auf ein Jahr rechtfertige sich schon aus praktischen Überlegungen. So lerne die Praktikantin im zweiten Jahr wohl wenig, was sie nicht schon im ersten Jahr gelernt habe. Das zweite Praktikumsjahr der Tochter des Beschwerdegegners sei somit nicht als Vorbereitung auf eine Grundausbildung zu qualifizieren.

3. Mit dem einjährigen Praktikum wurde den Ausbildungsbedürfnissen der Tochter des Beschwerdegegners entsprochen; denn spätestens nach Ablauf dieser Zeit war klar, ob eine Eignung für den Beruf der Fachperson Betreuung Kind gegeben ist oder nicht. Das zweite Praktikum war wegen eines deutlichen Überhangs an Lernenden und Praktikantinnen in der Kindertagesstätte C. zu absolvieren. Dort sind gemäss Internetauftritt lediglich zwei Fachleute tätig. Daneben werden zwei Lernende und nicht weniger als drei Praktikantinnen beschäftigt. Auch wenn Verwaltungsweisungen wie die RWL sich an die Durchführungsstellen richten und für das Sozialversicherungsgericht nicht verbindlich sind, soll dieses sie bei seiner Entscheidung berücksichtigen, sofern sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen. Das Gericht weicht nicht ohne triftigen Grund von Verwaltungsweisungen ab, wenn diese eine überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben darstellen ( BGE 133 V 587 E. 6.1 S. 591 mit weiteren Hinweisen). Vorliegend nennt die Vorinstanz keinen triftigen Grund für ihr Abweichen von Rz. 3361.1 RWL, wo vorgeschrieben ist, dass das Praktikum "im betreffenden Betrieb" höchstens ein Jahr dauern darf. Wie die Beschwerdeführerin mit Recht anführt, kann es nicht Aufgabe der Invalidenversicherung sein, die Tendenz potenzieller Lehrbetriebe zu
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fördern, Lehrinteressierten nicht direkt einen Lehrvertrag anzubieten, sondern von diesen zunächst ein Praktikum zu verlangen. Das BSV hat in Rz. 3361.1 RWL mit der Anerkennung eines faktisch notwendigen Praktikums von höchstens einem Jahr im selben Betrieb eine zweckdienliche Lösung getroffen, die den gestellten Anforderungen ohne Weiteres entspricht. Dauert ein Praktikum vor dem Beginn einer Lehre wie im Falle der Tochter des Beschwerdegegners länger als ein Jahr, überwiegt der Beschäftigungs- vor dem Ausbildungscharakter klar. Denn wer so lange als Praktikant oder Praktikantin eingesetzt wird, obliegt nicht der Ausbildung, sondern wartet auf diese, wofür die Kinderrente nicht geschuldet ist. Damit galt mit dem Ablauf des ersten Jahrespraktikums die Ausbildung gemäss Art. 49 ter Abs. 2 AHVV als vorerst beendet (bzw. unterbrochen) und hat die Beschwerdeführerin mit Recht die Ausrichtung der Kinderrente sistiert.

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