Urteilskopf
140 V 338
45. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Ausgleichskasse Basel-Landschaft (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_845/2013 vom 29. Juli 2014
Regeste
Art. 10 Abs. 1 und 3 AHVG
;
Art. 28
bis
AHVV
; Bestimmung des Beitragsstatuts bei gemischt ehrenamtlich und erwerblich motivierter Tätigkeit.
Damit bei solchen Betätigungen von voller Erwerbstätigkeit im Sinne von
Art. 28
bis
Abs. 1 AHVV
ausgegangen werden kann, muss für einen Teil, der mindestens der halben üblichen Arbeitszeit entspricht, Erwerbsabsicht zum Ausdruck kommen. Dies geschieht in Form eines angemessenen Verhältnisses zwischen Leistung und Entgelt (E. 2).
A.
A. nahm im Januar 2010 eine Tätigkeit als Präsidentin des Stiftungsrats der Stiftung B. auf; seit 1996 amtet sie als nebenamtliche Zivilrichterin. Nach ihrer Scheidung im November 2007 hatte die Ausgleichskasse des Kantons Basel-Landschaft (nachfolgend: Ausgleichskasse) sie auf den 1. Januar 2008 als Nichterwerbstätige registriert. Mit Schreiben vom 5. April 2011 und 20. März 2012 lehnte die Ausgleichskasse ihr Gesuch um Erfassung als Erwerbstätige ab. Für das Jahr 2010 erhob die Ausgleichskasse Beiträge für
BGE 140 V 338 S. 339
Nichterwerbstätige (mit Einspracheentscheid vom 17. Oktober 2012 bestätigte Verfügung vom 3. Juli 2012).
B.
Das Kantonsgericht Basel-Landschaft wies die gegen den Einspracheentscheid vom 17. Oktober 2012 erhobene Beschwerde ab (Entscheid vom 18. Juli 2013).
C.
A. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid und der strittige Einspracheentscheid seien aufzuheben und es sei von der Erhebung von AHV-Beiträgen für Nichterwerbstätige betreffend das Jahr 2010 abzusehen.
Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Die Beschwerdeführerin lässt darauf replizieren. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
Aus den Erwägungen:
1.1
Nach
Art. 10 Abs. 1 AHVG
und
Art. 28
bis
Abs. 1 AHVV
(SR 831.101) gelten Personen, deren Erwerbstätigkeit in zeitlicher und masslicher Hinsicht unbedeutend ist, als Nichterwerbstätige (
BGE 139 V 12
E. 4.2 S. 14; HANSPETER KÄSER, Unterstellung und Beitragswesen in der obligatorischen AHV, 2. Aufl. 1996, S. 216). Dies trifft - jedenfalls für Unselbständigerwerbende (vgl. unten E. 2.3.1) - einmal dann zu, wenn Erwerbstätigenbeiträge unter dem Mindestbeitrag nach
Art. 28 AHVV
liegen (Art. 10 Abs. 1 dritter Satz AHVG). Für Versicherte, die
nicht dauernd voll erwerbstätig
sind, kann der Grenzbetrag auch höher liegen (Art. 10 Abs. 1 vierter Satz AHVG; dazu FRANZISKA GROB, Die Beiträge der Nichterwerbstätigen in der AHV, in: AHV-Beitragsrecht, Schaffhauser/Kieser [Hrsg.], 2011, S. 78; PETER FORSTER, AHV-Beitragsrecht, 2007, S. 59 f.; UELI KIESER, Die Abgrenzung zwischen Erwerbs- und Nichterwerbstätigen, in: Aktuelle Fragen aus dem Beitragsrecht der AHV, Schaffhauser/Kieser [Hrsg.], 1998, S. 80). Diese Beitragspflichtigen werden nach
Art. 28
bis
Abs. 1 AHVV
nicht als Nichterwerbstätige qualifiziert, sondern diesen
gleichgestellt
: Nicht dauernd voll Erwerbstätige leisten Beiträge
wie
Nichterwerbstätige, wenn ihre Beiträge vom Erwerbseinkommen zusammen mit denen ihres Arbeitgebers in einem Kalenderjahr nicht mindestens der Hälfte des Beitrages nach
Art. 28 AHVV
entsprechen (Bemessungsgrundlage: Vermögen und/oder mit 20
BGE 140 V 338 S. 340
multiplizierter jährlicher Rentenbetrag). Ihre Beiträge vom Erwerbseinkommen müssen auf jeden Fall den Mindestbeitrag nach
Art. 28 AHVV
(für das Jahr 2010: 382 Franken; Art. 2 Abs. 2 der Verordnung 09 vom 26. September 2008 über Anpassungen an die Lohn- und Preisentwicklung bei der AHV/IV/EO [AS 2008 4715]) erreichen. Für das betreffende Jahr bezahlte Beiträge vom Erwerbseinkommen werden auf Verlangen angerechnet (Art. 28
bis
Abs. 2 in Verbindung mit
Art. 30 AHVV
).
1.2
Volle Erwerbstätigkeit ("activité lucrative à plein temps", "attività lucrativa [...] esercitata [...] a tempo pieno") im Sinne von
Art. 28
bis
Abs. 1 AHVV
liegt in der Regel vor, wenn für die (selbständige oder unselbständige) Tätigkeit ein erheblicher Teil der im betreffenden Erwerbszweig üblichen Arbeitszeit aufgewendet wird. Diese Voraussetzung ist nach der Verwaltungspraxis und Rechtsprechung erfüllt, wenn die beitragspflichtige Person während mindestens der halben üblichen Arbeitszeit tätig ist (
BGE 115 V 161
E. 10d S. 174; Urteil H 29/06 vom 6. Februar 2007 E. 3.1, in: SVR 2007 AHV Nr. 16 S. 45; siehe auch Rz. 2039 der Wegleitung des BSV über die Beiträge der Selbständigerwerbenden und Nichterwerbstätigen [WSN] in der AHV, IV und EO [
http://www.bsv.admin.ch/vollzug/documents/index/category:22/lang:deu
]).
2.1
Bei der Bezeichnung der Anforderungen für die Annahme einer "vollen" Erwerbstätigkeit geht es um eine - letztinstanzlich frei überprüfbare - Rechtsfrage. Die Feststellung der konkreten Umstände der Beschäftigung ist Tatfrage; diesbezügliche Feststellungen der Vorinstanz binden das Bundesgericht grundsätzlich (Art. 97 Abs. 1 und
Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG
; Urteil 9C_545/2007 vom 9. Juli 2008 E. 3.1).
Das kantonale Gericht hob hervor, die Beschwerdeführerin habe für ihre Tätigkeit als Stiftungsratspräsidentin im Beitragsjahr 2010 nur einen sehr geringfügigen Lohn erhalten. Der Bruttolohn von Fr. 9'000.- liege bei einem Arbeitspensum von 50 Prozent weit unter dem üblichen Gehalt einer Juristin. Zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin im Beitragsjahr 2010 dennoch im Sinne von
Art. 28
bis
Abs. 1 AHVV
"voll" erwerbstätig war.
2.2.1
Die Beschwerdeführerin moniert, die Vorinstanz habe zu Unrecht das zeitliche Ausmass der Tätigkeit bei der Stiftung B. nicht bestimmt, weil sie von vornherein von deren nichterwerblicher
BGE 140 V 338 S. 341
(ehrenamtlicher) Natur ausgegangen sei. Eine Vergleichsrechnung nach
Art. 28
bis
Abs. 1 AHVV
entfalle, weil sie 2010 ein über 50 Prozent ausmachendes Arbeitspensum versehen habe. Hinzu komme, dass sie 2010 neben der eigentlichen Organtätigkeit für weitere zeitintensive operative Arbeiten beigezogen worden sei; unter anderem habe sie den Geschäftsführer während mehrerer Monate vertreten, betätige sich als Corporate Lawyer und leite das Personalwesen. Damit sei es willkürlich, aus der vorerst geringen Entlöhnung auf fehlende Erwerbsabsicht zu schliessen.
2.2.2
Zur Beurteilung der Frage, ob volle Erwerbstätigkeit gegeben sei, ist überall dort, wo nicht (nur) eine Erwerbsabsicht verfolgt, die Tätigkeit vielmehr (auch) als gemeinnütziges Ehrenamt oder aus persönlichem Interesse versehen wird, nicht die
gesamte
zeitliche Inanspruchnahme massgebend (vgl. oben E. 1.2); der Zeitaufwand ist vielmehr nur im Umfang seiner Erwerbsorientierung zu berücksichtigen (vgl. Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts H 2/02 vom 16. Juli 2003 E. 3.2.2). Die gegenteilige Argumentation der Beschwerdeführerin läuft darauf hinaus, umfangreiche ehrenamtliche Tätigkeiten über das Beitragsrecht zu fördern, indem diese von der Beitragspflicht als Nichterwerbstätige entbinden. Dieses Anliegen wäre nur durch eine Änderung des Gesetzes zu erreichen.
2.2.3
Damit bei Betätigungen, denen sowohl eine ehrenamtliche wie auch eine erwerbliche Motivation zugrundeliegen, von voller Erwerbstätigkeit im Sinne von
Art. 28
bis
Abs. 1 AHVV
ausgegangen werden kann, muss für einen Teil, der mindestens der halben üblichen Arbeitszeit entspricht, Erwerbsabsicht zum Ausdruck kommen. Dies geschieht in Form eines angemessenen Verhältnisses zwischen Leistung und Entgelt.
2.3.1
Die Beschwerdeführerin beruft sich auf die Rechtsprechung (
BGE 115 V 161
E. 9c S. 171), wonach eine selbständige
Erwerbs
tätigkeit auch dann zu bejahen ist, wenn die betreffende Person in der Aufbauphase oder während eines vorübergehenden finanziellen Engpasses ihrer Firma auf eine angemessene Entlöhnung verzichtet. Ihr anfänglich geringer Jahreslohn sei auf fehlende Berufserfahrung, langjährige Abwesenheit vom Berufsleben und auf fehlende finanzielle Mittel der Stiftung zurückzuführen gewesen. Die Vorinstanz verwarf diese Sichtweise. Sie erwog, nur der Selbständigerwerbende trage ein wirtschaftliches Risiko, dass bei Aufnahme der Tätigkeit unter Umständen zunächst keine oder nur geringe Einkünfte flössen.
BGE 140 V 338 S. 342
Im Bereich der Selbständigkeit darf die volle Erwerbstätigkeit tatsächlich nicht schon aufgrund eines einfachen Vergleichs der erzielten Gewinne mit dem Durchschnittsverdienst aus einer entsprechenden unselbständigen Erwerbstätigkeit verneint werden, wo eine selbständige Betätigung erst nach längerer Zeit zu Einkünften führt oder vorübergehende Ertragseinbrüche, Investitionen, Amortisationen oder Veränderungen im wirtschaftlichen Umfeld etc. die betriebliche Rechnung negativ beeinflussen. Sofern die tatsächlichen wirtschaftlichen Gegebenheiten nicht auf Nichterwerbstätigkeit, bloss vorgegebene Erwerbstätigkeit oder Erwerbstätigkeit unbedeutenden Umfangs schliessen lassen, ist die Erwerbsabsicht hier nicht in Frage gestellt (vgl.
BGE 115 V 161
E. 6e S. 168; Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts H 73/01 vom 23. August 2002 E. 3.2 und H 64/98 vom 14. September 1999 E. 5c/aa). Das gilt auch für den (unselbständigerwerbenden) mitarbeitenden Alleinaktionär, der infolge schlechter Liquiditätslage teilweise auf sein Gehalt verzichtet (KÄSER, a.a.O., S. 217 mit Hinweis). Von diesen Fällen unterscheidet sich das (Teil-)Ehrenamt oder etwa eine Tätigkeit kultureller Art, die sich vorwiegend als Liebhaberei darstellt, erheblich (erwähntes Urteil H 2/02 E. 5 und 6; KÄSER, a.a.O., S. 217; vgl. auch
BGE 115 V 161
E. 10c S. 173); denn hier wahrt der Einkommens(teil)verzicht nicht die Aussichten, mit der gleichen Tätigkeit künftig einen Erwerb erzielen zu können.
2.3.2
Somit ist es der Beschwerdeführerin verwehrt, wie eine Selbständige geltend zu machen, eine nur vorläufige Unterbezahlung stehe dem Erwerbstätigenstatus nicht entgegen, weil sie - über das zu betrachtende Beitragsjahr hinaus - die Absicht verfolgt habe, beruflich wieder Fuss zu fassen. Nichts für ihren Rechtsstandpunkt ableiten kann die Beschwerdeführerin daher aus Umständen, die auf eine - aus der Sicht des Beitragsjahres 2010 -
inskünftig
verstärkte Rolle des erwerblichen Elements hinweisen. Dies betrifft namentlich die Vorbringen betreffend eine unsichere Finanzierung der Stiftung in der Gründungsphase, die in den Folgejahren angestiegenen Löhne, die ebenfalls erst später aufgenommenen zusätzlichen Erwerbstätigkeiten oder eine nach Reorganisation des Gerichtswesens künftig stärkere Inanspruchnahme in ihrer Funktion als nebenamtliche Richterin.
2.4
Im Übrigen ist die Tätigkeit einer Stiftungsratspräsidentin grundsätzlich mit derjenigen eines (nebenamtlichen) Verwaltungsrates vergleichbar. Ein reines Verwaltungsratsmandat (ohne gleichzeitige Wahrnehmung geschäftsführender Funktionen oder von Sekretariatsarbeiten) stellt grundsätzlich keine volle Erwerbstätigkeit dar
BGE 140 V 338 S. 343
(erwähnte Urteile 9C_545/2007 E. 3.1 und H 29/06 E. 5.1). Die Beschwerdeführerin hat zwar - über die mit dem Stiftungsratspräsidium verbundenen Aufgaben hinaus - operative Geschäftsführungsfunktionen wahrgenommen. Indes ist nach dem Gesagten auch dies als überwiegend ehrenamtliche Arbeit zu werten, sofern und soweit nicht ein angemessenes Entgelt ausgewiesen ist.