BGE 141 II 436 vom 24. September 2015

Dossiernummer: 2C_963/2014

Datum: 24. September 2015

Artikelreferenzen:  Art. 3 StAhiG, Art. 4 StAhiG, Art. 7 StAhiG, Art. 9 StAhiG, Art. 17 StAhiG , Art. 4 Abs. 3 StAhiG, Art. 26 Abs. 1 DBA-NL, Art. 3 lit. a StAhiG, Art. 4 Abs. 1 und 3 StAhiG, Art. 26 Abs. 5 DBA-NL, Art. 8 Abs. 2, Art. 9 Abs. 3 StAhiG, Art. 26 Abs. 1, 3 und 5 DBA-NL, Art. 4 Abs. 1 StAhiG, Art. 9 Abs. 3 StAhiG, Art. 26 DBA-NL, Art. 26 Abs. 2 DBA-NL, Art. 26 Abs. 3 DBA-NL, Art. 7 lit. a StAhiG, Art. 17 Abs. 2 StAhiG

BGE referenzen:  126 II 126, 136 III 168, 138 II 524, 139 I 16, 139 II 404, 139 II 451, 140 II 495, 142 II 69, 142 IV 333, 143 II 185, 143 II 268, 143 II 568, 143 II 506, 143 II 628, 144 II 29, 144 II 206, 146 II 150, 146 II 321, 147 I 241 , 139 II 404, 140 II 495, 139 I 16, 138 II 524, 136 III 168, 139 II 451, 126 II 126, 136 III 168, 139 II 451, 126 II 126

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

141 II 436


33. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Eidgenössische Steuerverwaltung gegen X. AG in Liquidation (gelöscht) und Mitb. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_963/2014 vom 24. September 2015

Regeste

Art. 4 Abs. 1 und 3, Art. 8 Abs. 2, Art. 9 Abs. 3 StAhiG , Art. 26 Abs. 1, 3 und 5 DBA-NL ; internationale Amtshilfe in Steuerangelegenheiten.
In Art. 4 Abs. 1 und 3 StAhiG ist die Unzulässigkeit der spontanen Amtshilfe normiert (E. 3.2).
Der Begriff "betroffene Person" im materiellen Sinn ergibt sich aus dem Sinn der Wendung "Personen, die nicht vom Ersuchen betroffen sind" nach Art. 4 Abs. 3 StAhiG . Die Auslegung dieser Norm richtet sich - dem Zweck des anwendbaren Doppelbesteuerungsabkommens entsprechend - nach dem Kriterium der voraussichtlichen Erheblichkeit (E. 4.1-4.5). Ist eine steuerpflichtige Person an einer juristischen Person bzw. Gesellschaft wirtschaftlich berechtigt, erscheint ein Zusammenhang mit der in Frage stehenden Steuerangelegenheit als zumindest wahrscheinlich, so dass die Informationen betreffend die wirtschaftlich beherrschte juristische Person bzw. Gesellschaft als voraussichtlich erheblich im Sinn von Art. 26 Abs. 1 DBA-NL zu qualifizieren sind (E. 4.6).

Sachverhalt ab Seite 437

BGE 141 II 436 S. 437

A. Am 13. Juni 2013 reichte der zuständige Dienst der niederländischen Steuerbehörde (Belastingdienst; nachfolgend: BD) bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung (nachfolgend: ESTV) ein Amtshilfegesuch ein. Auslöser desselben war eine Steuerprüfung betreffend A.A. (wohnhaft in U., Niederlande) und die Z. BV (mit Sitz in U., Niederlande) gewesen. Das Gesuch betraf die X. AG (mit Sitz in W.
BGE 141 II 436 S. 438
[Schweiz]; seit 7. Juli 2008: X. AG in Liquidation; gelöscht am 22. Februar 2011), die Y. AG (mit Sitz in W.), A.A. und die Z. BV.
Zwecks korrekter Erhebung der niederländischen Einkommens- und Körperschaftssteuer ersuchte der BD die ESTV um Information, wer die Aktionäre der X. AG bzw. der Y. AG seien, ob A.A. oder die Z. BV mittelbar oder unmittelbar Eigentümer(in) der X. AG bzw. der Y. AG seien oder gewesen seien und ob sie in irgendeiner Weise in Beziehung zu einer dieser beiden Aktiengesellschaften stünden oder gestanden hätten und ob in der Buchführung der Y. AG "Barbezahlungen" durch A.A. und/oder die Z. BV "verantwortet" worden seien und welche Leistungen die Y. AG hierfür erbracht habe; in diesem Zusammenhang wurden auch eine Übersicht der EUR 1'000.- übersteigenden Bareinnahmen und die zugehörigen Unterlagen verlangt. Zudem ersuchte der BD um Information, ob im Zeitraum vom 1. März 2010 bis zur Einreichung des Amtshilfegesuchs am 13. Juni 2013 die vier vom Amtshilfegesuch betroffenen Personen je einzeln als Kontoinhaber(in), Berechtigte(r) oder Bevollmächtigte(r) über Bankkonten, Accounts, Anlagekonten etc. bei der D. Bank in T. (Schweiz) und/oder der (von der D. Bank in T. übernommenen) C. Bank (nachfolgend: C. Bank) verfügt hätten. Hinsichtlich dieser (allfälligen) Bankbeziehungen stellte der BD Fragen zu den jeweiligen Guthaben am 1. März 2010, 1. Januar 2011, 1. Januar 2012 und 31. Dezember 2012, zu den jeweiligen Kontobewegungen vom 1. März 2010 bis 31. Dezember 2012, zur Identität, zur Adresse und zum Wohnort allfälliger Berechtigter und Bevollmächtigter dieser Konten sowie zum Datum von deren Eröffnung und allfälligen Auflösung.

B. (...) Mit Schlussverfügung vom 21. Februar 2014 ordnete die ESTV an, dass dem BD betreffend die X. AG (Ziff. 1 des Dispositivs), die Y. AG (Ziff. 2 des Dispositivs), A.A. (Ziff. 3 des Dispositivs) und die Z. BV (Ziff. 4 des Dispositivs) Amtshilfe zu leisten sei. In Ziff. 5 des Dispositivs listete die ESTV die dem BD zu übermittelnden Informationen und Unterlagen auf. Danach war dem BD unter anderem mitzuteilen, dass die X. AG am 7. Juli 2008, also vor der angefragten Zeitperiode, aufgelöst worden sei und deshalb zum Kreis der Aktionäre dieser Gesellschaft keine Angaben gemacht werden könnten. Ferner war nach Ziff. 5 des Dispositivs dem BD insbesondere mitzuteilen, dass bei zwei der auf A.A. lautenden Konten bei der D. Bank in T. und bei der C. Bank im angefragten Zeitraum die Ehefrau des Kontoinhabers, B.A. (geb. 1946), und seine beiden Töchter C.A. und D.A. (beide geb. 1987) bevollmächtigt
BGE 141 II 436 S. 439
waren. Zudem seien dem BD Angaben zu machen über die wirtschaftliche Berechtigung von A.A. an Konten, welche auf die X. AG und die Y. AG lauteten. (...)
Gegen die Schlussverfügung vom 21. Februar 2014 erhoben die X. AG (Beschwerdegegnerin 1), die Y. AG (Beschwerdegegnerin 2), A.A. (Beschwerdegegner 3) und die Z. BV (Beschwerdegegnerin 4) am 26. März 2014 Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Dieses hiess mit Urteil vom 7. Oktober 2014 die Beschwerde im Sinn der Erwägungen teilweise gut, soweit es darauf eintrat. Ziff. 1 und 2 des Dispositivs der Schlussverfügung vom 21. Februar 2014 wurden aufgehoben und dementsprechend wurde angeordnet, es sei keine Amtshilfe betreffend die X. AG in Liquidation und die Y. AG zu leisten. (...) Die ESTV wurde (...) angewiesen, im Sinn der Erwägungen die edierten Unterlagen teilweise nicht an den BD zu übermitteln und die zu übermittelnden Unterlagen teilweise zu schwärzen. Im Übrigen wurde die Beschwerde abgewiesen, soweit darauf eingetreten wurde.

C. Die ESTV erhebt am 20. Oktober 2014 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht mit den Anträgen, das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit die Schlussverfügung vom 21. Februar 2014 nicht bestätigt worden sei, und die Sache zum materiellen Entscheid an das Bundesverwaltungsgericht zurückzuweisen.
(...) Die X. AG, die Y. AG, A.A. und die Z. BV beantragen, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. (...)
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Die Vorinstanz begründet die Verweigerung der Amtshilfe damit, es liege betreffend die Beschwerdegegnerinnen 1 und 2 kein Ersuchen vor, weshalb die Amtshilfe unzulässigerweise spontan erfolgen würde. Demgegenüber bringt die Beschwerdeführerin vor, die Vorinstanz habe die Übermittlung von Informationen betreffend die Beschwerdegegnerinnen 1 und 2 zu Unrecht als spontane Amtshilfe im Sinn von Art. 4 Abs. 3 des Steueramtshilfegesetzes vom 28. September 2012 (StAhiG; SR 672.5) qualifiziert. Indem sie die Beschwerdegegnerinnen 1 und 2 als vom Amtshilfegesuch nicht erfasst betrachtet habe, habe sie die Definition der betroffenen Person im Sinn von Art. 3 lit. a StAhiG zu eng gefasst.
BGE 141 II 436 S. 440

3.2 Grundsätzlich werden drei Arten von Amtshilfe unterschieden (URS R. BEHNISCH, Schweizer Amtshilfe - quo vadis?, in: Liber amicorum für Martin Zweifel, 2013, S. 247 ff., hier S. 251):
- die Amtshilfe auf Ersuchen, wobei zwischen Ersuchen im Einzelfall und Gruppenersuchen zu unterscheiden ist;
- die spontane Amtshilfe (Übermittlung von Informationen ohne entsprechendes Ersuchen);
- automatischer Informationsaustausch.
Gemäss Art. 4 Abs. 1 StAhiG wird die Amtshilfe ausschliesslich auf Ersuchen geleistet. Art. 4 Abs. 3 StAhiG präzisiert, dass die Übermittlung von Informationen zu Personen, die nicht vom Ersuchen betroffen sind, unzulässig ist.
Art. 4 Abs. 1 und 3 StAhiG normieren somit die Unzulässigkeit der spontanen Amtshilfe (vgl. auch Botschaft vom 6. Juli 2011 zum Erlass eines Steueramtshilfegesetzes, BBl 2011 6193, hier 6204 zu Art. 4 Abs. 1).

3.3 Der Begriff "betroffene Person" erscheint im hier interessierenden Zusammenhang in Art. 3 lit. a, in Art. 4 Abs. 3 sowie in Art. 9 StAhiG . Als betroffene Person gilt gemäss Art. 3 lit. a StAhiG eine Person, über die im Amtshilfeersuchen Informationen verlangt werden. Nach Art. 4 Abs. 3 StAhiG ist die Übermittlung von Informationen zu Personen, die nicht vom Ersuchen betroffen sind, unzulässig. Art. 9 StAhiG regelt schliesslich die Beschaffung der Informationen bei der betroffenen Person, wobei Art. 9 Abs. 3 StAhiG festhält, dass die betroffene Person alle relevanten Informationen herausgeben muss, die sich in ihrem Besitz oder unter ihrer Kontrolle befinden.
Das Merkmal "betroffen" im Sinn von Art. 3 lit. a StAhiG erscheint vorab als bloss formeller Art: Die Begriffsbestimmung knüpft vom Wortlaut her einzig an der Erwähnung im Amtshilfeersuchen an. Die Personen, über die im Ersuchen Informationen verlangt werden, sind insofern vom Verfahren im ersuchten Staat betroffen, als dessen Steuerbehörde zu prüfen hat, ob entsprechende (sie betreffende) Informationen übermittelt werden sollen. Sie sind, weil der ausländische Staat Informationen über sie verlangt, Gesuchsgegner. Als solche geniessen sie alle Verfahrensrechte, welche in einem Verwaltungsverfahren - unabhängig von dessen Ausgang - gewährt werden müssen. Wird die Zulässigkeit der Übermittlung verneint, sind diese Personen zwar vom Entscheid betroffen, aber nicht beschwert.
BGE 141 II 436 S. 441
Zu prüfen ist jedoch, welche Bedeutung der Begriff "betroffene Person" im materiellen Sinn, d.h. im Hinblick auf die Übermittlung von Informationen, hat. Hierzu bedarf es insbesondere einer vertieften Auslegung der in Art. 4 Abs. 3 StAhiG enthaltenen Wendung "Personen, die nicht vom Ersuchen betroffen sind".

4.

4.1 Ausgangspunkt jeder Auslegung ist der Wortlaut. Vom klaren, eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut darf nur ausnahmsweise abgewichen werden, so etwa dann, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren Sinn der Norm wiedergibt. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Sinn und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit andern Vorschriften ergeben. Ist der Text nicht klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente. Dabei ist namentlich auf die Entstehungsgeschichte, auf den Zweck der Norm, die ihr zugrunde liegenden Wertungen und ihre Bedeutung im Kontext mit anderen Bestimmungen abzustellen ( BGE 139 II 404 E. 4.2 S. 416). Bleiben bei nicht klarem Wortlaut letztlich mehrere Auslegungen möglich, ist jene zu wählen, die der Verfassung am besten entspricht ( BGE 140 II 495 E. 2.3.3 S. 500). Das Gleiche gilt, wenn - wie hier - die auszulegende Norm im Kontext eines Staatsvertrags erlassen wurde: Besteht ein echter Normkonflikt zwischen Bundesrecht und Völkerrecht, geht grundsätzlich die völkerrechtliche Verpflichtung der Schweiz vor; dies gilt selbst in Bezug auf Abkommen, welche nicht Menschenrechte zum Gegenstand haben. Der Vorrang besteht auch gegenüber späteren, d.h. nach der völkerrechtlichen Norm in Kraft getretenen Bundesgesetzen: Gemäss Art. 27 des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge (VRK; SR 0.111) kann sich die Schweiz nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu rechtfertigen (vgl. zum Ganzen BGE 139 I 16 E. 5.1 S. 28; BGE 138 II 524 E. 5.1 S. 532). Eine später erlassene Norm des Bundesrechts ist daher - vorbehältlich der sogenannten Schubert-Praxis (vgl. BGE 136 III 168 E. 3.3.4 S. 172) - in grösstmöglicher Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Zielen des einschlägigen Abkommens auszulegen.

4.2 Die Art. 4 Abs. 3 StAhiG entsprechende Bestimmung im Entwurf des Bundesrates (BBl 2011 6234) hatte folgendermassen gelautet:
BGE 141 II 436 S. 442
"Die Übermittlung von Informationen über Personen, die offensichtlich nicht von der zu untersuchenden Angelegenheit betroffen sind, ist unzulässig."
Der Wortlaut von Art. 4 Abs. 3 StAhiG enthält gegenüber jenem von Art. 4 Abs. 3 E-StAhiG zwei Änderungen. Erstens verbindet er die "betroffene Person" nicht mehr mit der zu untersuchenden Angelegenheit, sondern mit dem Amtshilfeersuchen. Zweitens ist die Unzulässigkeit der Informationsübermittlung nicht mehr auf Personen beschränkt, die offensichtlich nicht von der zu untersuchenden Angelegenheit (Entwurf) bzw. vom Ersuchen (Gesetzestext) betroffen sind. Die inhaltliche Tragweite der ersten Änderung erscheint beschränkt. In der Nationalratsdebatte wurde dazu lediglich gesagt, die bundesrätliche Formulierung sei unpräzis; nicht das Umfeld der zu untersuchenden Angelegenheit müsse geschützt werden, sondern Personen, die im Umfeld des konkreten Ersuchens stünden (AB 2012 N S. 94, Votum Müller). Mit der zweiten Änderung, also der Streichung des Wortes "offensichtlich", sollte hingegen explizit der Kreis jener Personen, über die Informationen übermittelt werden dürfen, im Vergleich zum Entwurf eingeschränkt werden (AB 2012 N 94, Votum de Buman; vgl. auch CHARLOTTE SCHODER, Praxiskommentar zum Bundesgesetz über die internationale Amtshilfe in Steuersachen[Steueramtshilfegesetz, StAhiG], 2014, N. 47 zu Art. 4 StAhiG ; DINA BETI, La nouvelle loi sur l'assistance administrative internationale en matière fiscale - une vue d'ensemble, ASA 81 2012/2013 S. 181 ff., hier S. 190).
Der Wortlaut von Art. 4 Abs. 3 StAhiG wird in der Lehre als Abkehr vom bisherigen Verständnis der nicht beteiligten Drittperson gewertet (vgl. SCHODER, a.a.O., N. 48 zu Art. 4 StAhiG ). Die in Art. 4 Abs. 3 E-StAhiG verwendete, vom Parlament schliesslich verworfene Formulierung entsprach derjenigen von Art. 38 Abs. 4 dritter Satz des Bundesgesetzes vom 24. März 1995 über die Börsen und den Effektenhandel (Börsengesetz, BEHG; SR 954.1), welcher von "Informationen über Personen, die offensichtlich nicht in die zu untersuchende Angelegenheit verwickelt sind", spricht. Im börsenrechtlichen Zusammenhang hat das Bundesgericht festgehalten, dass eine Person, über deren Bankkonto - auch ohne ihr Wissen - ein verdächtiger Kauf abgewickelt worden ist, nicht als offensichtlich unbeteiligte Drittperson gelten kann (vgl. BGE 139 II 451 E. 2.3.2 S. 457 mit Verweis auf BGE 126 II 126 E. 6a/bb S. 137).

4.3 Das Element "offensichtlich" wurde indessen gerade mit dem Ziel fallen gelassen, den Schutz von Art. 4 Abs. 3 StAhiG auf solche
BGE 141 II 436 S. 443
Personen auszudehnen, bei denen eine Verbindung zur steuerpflichtigen Person nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann (vgl. E. 4.2 hiervor). Mit Blick auf die ratio legis ist daher fraglich, ob die Rechtsprechung zu Art. 38 Abs. 4 dritter Satz BEHG herangezogen werden kann.

4.4 Indessen wird zu Recht die Frage aufgeworfen, ob der Wortlaut von Art. 4 Abs. 3 StAhiG mit der abkommensrechtlichen Verpflichtung, wie sie die Schweiz in den Doppelbesteuerungsabkommen (DBA), nach Art. 26 des OECD-Musterabkommens auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (in der Fassung vom 22. Juli 2010; nachfolgend: OECD-MA) eingegangen ist, vereinbar ist (SCHODER, a.a.O., N. 48 und 49 zu Art. 4 StAhiG ). Eine (im Vergleich zum Entwurf) extensive Auslegung würde bedeuten, dass Daten zu verdächtigen Transaktionen nicht übermittelt werden könnten, wenn unklar ist, ob zwischen dem Kontoinhaber und der steuerpflichtigen Person eine steuerlich relevante Verbindung besteht. Dies festzustellen, wäre gerade das Ziel der Amtshilfe. Eine zu weite Auslegung des Begriffs "nicht vom Ersuchen betroffen" und die daraus resultierende restriktive Übermittlungspraxis würden den Zweck des Abkommens vereiteln.

4.4.1 Am 13. März 2009 verkündete der Bundesrat den Beschluss, fortan den OECD-Standard im Bereich des Informationsaustauschs zu übernehmen (vgl. TOBIAS F. ROHNER, Amtshilfe nach den OECD-konformen Doppelbesteuerungsabkommen - ein Überblick, in: Vermögensverwaltung IV, Isler/Cerutti [Hrsg.], 2013, S. 77 ff., hier S.81). Die im Nachgang dieses Beschlusses revidierten oder neu verabschiedeten DBA, so auch das hier auszulegende Abkommen vom 26. Februar 2010 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen (SR 0.672.963.61; nachfolgend: DBA-NL), enthalten entsprechende Bestimmungen nach dem Vorbild von Art. 26 OECD-MA, welcher den Randtitel "Informationsaustausch" trägt. Diese Norm bildet heute einen zentralen Baustein der revidierten Übereinkommen, an welchen die Eidgenossenschaft beteiligt ist (MARTIN KOCHER, Grundlagen einer steuerlichen Inkassoamtshilfe zugunsten ausländischer Staaten [Art. 27 OECD-MA], ZBJV 151/2015 S. 189).

4.4.2 Art. 26 DBA-NL regelt den Informationsaustausch nach dem Vorbild von Art. 26 OECD-MA. Gemäss Art. 26 Abs. 1 erster Satz
BGE 141 II 436 S. 444
DBA-NL tauschen die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten die Informationen aus, die zur Durchführung dieses Abkommens oder zur Anwendung oder Durchsetzung des innerstaatlichen Rechts betreffend für Rechnung der Vertragsstaaten, ihrer politischen Unterabteilungen oder lokalen Körperschaften erhobenen Steuern jeder Art und Bezeichnung voraussichtlich erheblich sind, soweit die diesem Recht entsprechende Besteuerung nicht dem Abkommen widerspricht. Art. 26 Abs. 2 DBA-NL statuiert die Geheimhaltungspflicht der Vertragsstaaten und legt fest, welchen Behörden und zu welchen Zwecken die edierten Informationen übermittelt werden dürfen. Nach Art. 26 Abs. 3 DBA-NL sind die Absätze 1 und 2 in keinem Fall so auszulegen, als verpflichteten sie einen Vertragsstaat, Verwaltungsmassnahmen durchzuführen, die von den Gesetzen und der Verwaltungspraxis dieses oder des anderen Vertragsstaates abweichen (lit. a), Informationen zu erteilen, die nach den Gesetzen oder im üblichen Verwaltungsverfahren dieses oder des anderen Vertragsstaates nicht beschafft werden können (lit. b), oder Informationen zu erteilen, die ein Handels-, Geschäfts-, Industrie-, Gewerbe- oder Berufsgeheimnis oder ein Geschäftsverfahren preisgeben würden oder deren Erteilung dem Ordre public widerspräche (lit. c). Gemäss Art. 26 Abs. 5 DBA-NL ist Absatz 3 in keinem Fall so auszulegen, als erlaube er es einem Vertragsstaat, die Erteilung von Informationen nur deshalb abzulehnen, weil sich die Informationen bei einer Bank, einem sonstigen Finanzinstitut, einem Bevollmächtigten, Beauftragten oder Treuhänder befinden oder weil sie sich auf Beteiligungen an einer Person beziehen. Ungeachtet von Absatz 3 oder entgegenstehender Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts verfügen die Steuerbehörden des ersuchten Vertragsstaates über die Befugnis, die Offenlegung der in diesem Absatz genannten Informationen durchzusetzen. Dieser letzte Satz von Art. 26 Abs. 5 DBA-NL entspringt nicht dem OECD-MA, sondern wurde von den Vertragsparteien hinzugefügt, um die genannte Verpflichtung zu erfüllen (Botschaft zum StAhiG, BBl 2011 6209 zu Art. 8 Abs. 2; BETI, a.a.O., S. 192). Es soll damit klargestellt werden, dass keine innerstaatlichen Normen der Offenlegung von Bankinformationen entgegenstehen sollen.

4.4.3 Im Zentrum steht der Begriff "voraussichtlich erhebliche Informationen" in Art. 26 Abs. 1 DBA-NL . Die Bestimmung ist Art. 26 Abs. 1 OECD-MA nachgebildet, dessen erster Satz die Hauptregel betreffend den Informationsaustausch enthält (Modèle de convention
BGE 141 II 436 S. 445
fiscale concernant le revenu et la fortune, version abrégée, 2014, N. 5 zu Art. 26 OECD-MA S. 449; www.oecd-ilibrary.org/taxation/modele-de-convention-fiscale-concernant-le-revenu-et-la-fortune-version-abregee-2014_mtc_cond-2014-fr ; nachfolgend: OECD-Kommentar). Im OECD-MA wird der Begriff seit der Version 2005 verwendet; davor hatte Art. 26 Abs. 1 OECD-MA von "notwendigen Informationen" gesprochen (GARBARINO/TURINA, L'Accordo sullo scambio di informazioni fiscali elaborato dall'OCSE, in: Il segreto bancario nello scambio di informazioni fiscali, Festschrift Samuele Vorpe, 2011, S. 55 ff., hier S. 63). Diese Änderung, wenngleich nicht von entscheidender Wichtigkeit, zeigt dennoch eine gewisse Absicht der OECD, den Anwendungsbereich des Informationsaustauschs auszuweiten (XAVIER OBERSON, in: Modèle de Convention fiscale OCDE concernant le revenu et la fortune, Commentaire, Danon/Gutmann/Oberson/Pistone [Hrsg.], 2014, N. 35 zu Art. 26 OECD-MA). Mit dem Begriff der voraussichtlichen Erheblichkeit soll ein möglichst umfassender Informationsaustausch garantiert werden, wobei den Vertragsstaaten klarerweise nicht gestattet ist, Informationen aufs Geratewohl (fishing expeditions) oder Auskünfte zu verlangen, von denen wenig wahrscheinlich ist, dass sie Licht in die Steuerangelegenheiten einer bestimmten steuerpflichtigen Person bringen würden (OECD-Kommentar, a.a.O.). Diese Interpretation hat auch in Ziff. XVI lit. c des Protokolls zum DBA-NL Niederschlag gefunden. Die Notwendigkeit, dass die verlangten Informationen voraussichtlich erheblich sein müssen, ist zugleich Ausdruck des Verbots der "fishing expeditions" (vgl. auch DONATSCH/HEIMGARTNER/MEYER/SIMONEK, Internationale Rechtshilfe, unter Einbezug der Amtshilfe im Steuerrecht, 2. Aufl. 2015, S. 233). Die Missachtung dieses Verbots führt gemäss Art. 7 lit. a StAhiG dazu, dass der ersuchte Staat auf das Ersuchen nicht eintritt; diesfalls muss er die verlangten Informationen nicht beschaffen. Häufiger dürfte indessen der Fall eintreten, dass keiner der in Art. 7 StAhiG genannten Nichteintretensgründe erfüllt ist, so dass das Gesuch behandelt wird. Die voraussichtliche Erheblichkeit von geforderten Unterlagen oder Auskünften bezieht sich auf die Erhebung der Steuer durch den ersuchenden Staat; sie muss sich bereits aus dem Amtshilfegesuch ergeben. Nach der Edition der verlangten Unterlagen hat die Steuerverwaltung des ersuchten Staates zu prüfen, ob die betreffenden Informationen für die Erhebung der Steuer voraussichtlich erheblich sind. Der ersuchte Staat kann Auskünfte nur verweigern, wenn ein Zusammenhang zwischen den
BGE 141 II 436 S. 446
verlangten Angaben und der Untersuchung wenig wahrscheinlich erscheint (DANIEL HOLENSTEIN, in: Internationales Steuerrecht, Zweifel/Beusch/Matteotti [Hrsg.], 2015, N. 146 zu Art. 26 OECD-MA; RAPPO/TILLE, Les conditions d'assistance administrative internationale en matière fiscale selon la LAAF, RDAF 2013 II S. 20). Kommt die Steuerbehörde des ersuchten Staates zum Schluss, ein Zusammenhang sei steuerlich nicht relevant, muss sie gemäss Art. 17 Abs. 2 StAhiG diese Informationen aussondern oder unkenntlich machen.

4.5 Im Interesse des Abkommenszwecks muss sich die Auslegung der Wendung "vom Ersuchen (nicht) betroffen" massgeblich nach dem Kriterium der voraussichtlichen Erheblichkeit richten. Mit Blick darauf, dass sowohl nach OECD-Standard als auch nach der Lehre nur solche Informationen von der Amtshilfe ausgeschlossen werden dürfen, die mit Sicherheit nicht erheblich sind bzw. deren Zusammenhang mit der Steuerangelegenheit wenig wahrscheinlich erscheint (vgl. E. 4.4.3 hiervor), kann der im Parlament durchgesetzten Weglassung des Elements "offensichtlich" nur untergeordnete Bedeutung zukommen. Eine zu extensive Auslegung von Art. 4 Abs. 3 StAhiG würde den Zweck des DBA-NL vereiteln und ist daher zu vermeiden.

4.6 Mit Blick auf die eingangs gestellte Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung ist zu beachten, dass die konkreten Verhältnisse einer juristischen Person bzw. Gesellschaft, an welcher ein Steuerpflichtiger wirtschaftlich berechtigt ist, für dessen Besteuerung durchaus relevant sein können, weshalb ein Zusammenhang mit der in Frage stehenden Steuerangelegenheit als zumindest wahrscheinlich erscheint. In einer solchen Konstellation sind die Informationen betreffend die wirtschaftlich beherrschte juristische Person bzw. Gesellschaft daher voraussichtlich erheblich im Sinn von Art. 26 Abs. 1 DBA-NL . Diese ist damit vom Ersuchen betroffen, und die Übermittlung der sie betreffenden Angaben ist zulässig ( Art. 4 Abs. 3 StAhiG e contrario).

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