Urteilskopf
141 III 262
37. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. GmbH gegen B. AG (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_184/2015 vom 11. August 2015
Regeste
Art. 64 Abs. 1 lit. a und
Art. 257 ZPO
; Mieterausweisung im summarischen Verfahren und Kündigungsschutz.
Ein Begehren um Ausweisung eines Mieters im Verfahren um Rechtsschutz in klaren Fällen nach
Art. 257 ZPO
ist grundsätzlich auch dann zulässig, wenn der Mieter die vorangehende Kündigung gerichtlich angefochten hat und dieses Verfahren hängig ist (E. 3).
Aus den Erwägungen:
3.1
Die Beschwerdeführerin (Mieterin) rügt eine Verletzung von
Art. 64 Abs. 1 lit. a ZPO
. Sie macht geltend, sie habe, nachdem die Beschwerdegegnerin (Vermieterin) das Mietverhältnis am 12. November 2014 (zum wiederholten Mal) ausserordentlich gekündigt habe, am 18. Dezember 2014 ein Kündigungsschutzbegehren bei der Schlichtungsbehörde Zürich eingereicht. Angesichts dieses rechtshängigen Verfahrens - so die Beschwerdeführerin - hätte das Handelsgericht auf das Ausweisungsbegehren der Beschwerdegegnerin vom 9. Januar 2015 nicht eintreten dürfen.
3.2
Das Bundesgericht ist in seiner mietrechtlichen Rechtsprechung wiederholt zumindest implizit davon ausgegangen, dass über ein Ausweisungsbegehren im summarischen Verfahren um Rechtsschutz in klaren Fällen gemäss
Art. 257 ZPO
auch dann entschieden werden darf, wenn die vorangehende ausserordentliche Kündigung wegen Zahlungsrückstand (
Art. 257d OR
) vom Mieter gerichtlich angefochten wurde und das resultierende mietrechtliche Verfahren noch nicht rechtskräftig erledigt ist (siehe etwa die Urteile 4A_252/2014 vom 28. Mai 2014 E. 3 und 4; 4A_265/2013 vom 8. Juli 2013 E. 6; 4A_187/2012 vom 10. Mai 2012 E. 3; 4A_7/2012 vom 3. April 2012 E. 2; 4A_585/2011 vom 7. November 2011 E. 3; vgl. ferner Urteil 4A_68/2014 vom 16. Juni 2014 E. 4, nicht publ. in:
BGE 140 III 315
). Die entsprechende Möglichkeit wird auch von der herrschenden Lehre und in der kantonalen Gerichtspraxis bejaht, wobei teilweise ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass die Rechtshängigkeit des Kündigungsschutzbegehrens der Ausweisung wegen deren unterschiedlichen Streitgegenstandes nicht im Sinne von
Art. 64 Abs. 1 lit. a ZPO
entgegenstehe (siehe BOHNET/CONOD, La fin du bail et l'expulsion du locataire, in: 18
e
Séminaire sur le droit du bail, Bohnet/Carron [Hrsg.], 2014, S. 116 Rz. 165; GASSER/RICKLI, Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], 2. Aufl. 2014, N. 11 zu
Art. 257 ZPO
; HOFMANN, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 2013, N. 18a zu
Art. 257 ZPO
; HOHL, Procédure civile, Bd. II, 2. Aufl. 2010, S. 261 f. Rz. 1439-1443; JENT-SØRENSEN, in: ZPO, Oberhammer/Domej/Haas [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 17 f. zu
Art. 257 ZPO
; MEIER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2010, S. 373; STAEHELIN/STAEHELIN/GROLIMUND, Zivilprozessrecht, 2. Aufl. 2013, § 21 Rz. 56; SUTTER-SOMM/LÖTSCHER, in: Kommentar
BGE 141 III 262 S. 264
zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger [Hrsg.], 2. Aufl. 2013, N. 38a zu
Art. 257 ZPO
; TANNER, Die Ausweisung des Mieters im Rechtsschutz in klaren Fällen, ZZZ 2010 S. 315 f.; Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 1. Juli 2011, in: ZR 110/2011 Nr. 54 E. II./1-8; vgl. auch BISANG, Neue Zivilprozessordnung: Neuerungen im Schlichtungsverfahren bzw. Mietprozess unter besonderer Berücksichtigung der Ausweisung, MietRecht Aktuell 2010 S. 113 f.; GÖKSU, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Brunner/Gasser/Schwander [Hrsg.], 2011, N. 15 zu
Art. 257 ZPO
; SPICHTIN, Der Rechtsschutz in klaren Fällen nach
Art. 257 ZPO
, 2012, S. 135-137 Rz. 296; abweichend THANEI, Auswirkungen der neuen Schweizerischen Zivilprozessordnung auf die mietrechtlichen Verfahren, insbesondere auf das Schlichtungsverfahren, mp 2009 S. 195 f.; differenzierend LACHAT, Procédure civile en matière de baux et loyers, 2011, S. 168 f.).
Diese Auffassung lässt sich denn auch auf die Entstehungsgeschichte von
Art. 257 ZPO
stützen, zeigen doch die Materialien, dass das Parlament die früher geltende Regel zur Koordination von Kündigungsanfechtung und Ausweisung mittels Kompetenzattraktion beim Ausweisungsrichter (aArt. 274g OR) im Rahmen des Erlasses der Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 ersatzlos aufhob, weil es der Ansicht war, dass das summarische Verfahren "in der Variante nach
Art. 257 ZPO
- und nur in dieser - für die Gewährung von raschem Rechtsschutz in Ausweisungssachen ausreiche" (
BGE 139 III 38
E. 2.5 mit Hinweisen). Dabei ging es offenbar davon aus, im Ausweisungsverfahren nach
Art. 257 ZPO
könne vorfrageweise über die Gültigkeit der Kündigung entschieden werden, weshalb - in liquiden Fällen - mittels Gutheissung des klägerischen Begehrens eine Verzögerung der Ausweisung durch Abwarten des mietrechtlichen Kündigungsschutzverfahrens vermieden werde (siehe zum Gesetzgebungsverfahren auch BISANG, a.a.O., S. 111 f.; SPICHTIN, a.a.O., S. 134 Rz. 294; jeweils mit Hinweisen auf die Ratsdebatten; vgl. ferner Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, BBl 2006 7352 zu Art. 253, wonach der Rechtsschutz in klaren Fällen etwa für die Ausweisung infolge ausserordentlicher Kündigung "spielen" werde, "so bei Zahlungsverzug [
Art. 257d OR
] und Konkurs [
Art. 266h OR
] einer Mieterin oder eines Pächters", wo sich die Sachlage durch Urkunden liquide beweisen lasse [Mahnungen, Fristansetzungen, Kündigungen] und die Erstreckung von Gesetzes wegen ausgeschlossen sei).
BGE 141 III 262 S. 265
Soweit die Gültigkeit der Kündigung des Mietvertrages demzufolge im Ausweisungsverfahren als Vorfrage zu beurteilen ist, beziehen sich die Voraussetzungen von
Art. 257 Abs. 1 ZPO
auch darauf. Sind sie nicht erfüllt und kann der Rechtsschutz in klaren Fällen deshalb nicht gewährt werden, so hat das Gericht nach
Art. 257 Abs. 3 ZPO
auf das Gesuch nicht einzutreten.
3.3
Somit kann festgehalten werden, dass ein Begehren um Ausweisung eines Mieters im Verfahren um Rechtsschutz in klaren Fällen nach
Art. 257 ZPO
grundsätzlich auch dann zulässig ist, wenn der Mieter die vorangehende Kündigung gerichtlich angefochten hat und dieses Verfahren hängig ist. Das angefochtene Urteil des Handelsgerichts ist insofern nicht zu beanstanden.